Peter Matussek

Logbücher der Wissensnavigation

 


Erschienen in: MACup BG 2 (1989), S. 28–30.

 

     
 

Ist John Sculleys Vision vom Knowledge Navigator (Macup 4'88) nur die Feierabendphantasie eines sinnsuchenden Computermanagers? Weltweite Forschungen über technische und philosophische Probleme einer zukünftigen Informationsgesellschaft geben ihr jedenfalls reichlich Belegmaterial. Aus den zahllosen Veröffentlichungen hat MACup-Redakteur Peter Matussek einige herausgesucht, die Einblicke in aktuelle Trends der Wissensnavigation vermitteln.

Die EDV macht es möglich, immer größere Datenmengen auf immer kleinerem Raum zu speichern. Was früheren Generationen ein Traumziel war, scheint in greifbare Nähe zu rücken: eine Sammlung des gesamten Menschheitswissens.

Doch die blinde Sammelwut, die in den letzten Jahrzehnten zur Erstellung riesiger Datenbanken führte, stolpert mittlerweile über eine Erkenntnis, die schon die alten Enzyklopädisten hatten: Entscheidend für den Nutzen ist nicht die Masse, sondern die Darbietung und die Organisation der gesammelten Daten. Mit ihrem starren Dateiaufbau befinden sich die meisten EDV-Archive diesbezüglich noch im tiefsten Mittelalter.

Eine neue Renaissance kann es, Apple-Chef Sculley zufolge, nur mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) geben. Mit ihr will er den Mac der Zukunft ausstatten, einen multimedialen Flugsimulator namens Knowledge Navigator, mit dem wir uns dereinst auf die große Entdeckungsfahrt durch das elektronisch gespeicherte Weltwissen begeben dürfen.

Aber wie kann ein solches Wunderding funktionieren und wie sollte es ausgestattet sein? Die folgenden Bücher zeigen mögliche Antworten aus technischer (I) und philosophischer (II) Sicht auf.

I.

Mit der Entwicklung von Verfahren, die den raschen und effizienten Datenzugriff gewährleisten sollen, beschäftigt sich ein spezieller Zweig der Informatik: das Information Retrieval. Einen Einstieg in dieses Wissensgebiet gibt das mit viel Sorgfalt ins Deutsche übertragene Lehrbuch von

Gerard Salton / Michael J. McGill: Information Retrieval - Grundlegendes für Informationswissenschaftler; Hamburg 1987. McGraw-Hill Verlag (62,-- DM).

Das Werk behandelt in klarer, übersichtlicher Darstellung alle wesentlichen Themen des Information Retrieval - von einfachen Dateistrukturen über invertierte Dateisysteme bis zu Datenbankmanagementsystemen. Darüberhinaus gibt es Einblick in Forschungsentwicklungen, wie z.B. Fuzzy-Set-Theorie und Begriffsabhängigkeitsmodelle.

Wer sich mit den Grundlagen vertraut gemacht hat und über gute Programmierkenntnisse verfügt, der kann sich von

Gio Wiederhold: Dateiorganisation in Datenbanken; Hamburg, New York u.a. 1989 McGraw-Hill Verlag (98,-- DM)

noch dichter an die einzelnen Programmiertechniken heranführen lassen. Der opulente Wälzer von knapp 800 Seiten vermittelt eine äußerst detaillierte Kenntnis über den Stand der Softwaretechniken für Datenspeicherung und -verarbeitung. Aus der Beschreibung der Hardware-Möglichkeiten leitet Wiederhold konsequent die unterschiedlichen Dateitypen, ihre innere Organisation und Kombinationsmöglichkeiten ab.

Daß ohne KI im Information Retrieval heute nichts mehr läuft, darüber sind sich die Gelehrten weitgehend einig. Was aber KI eigentlich ist, darüber gibt es viele abstruse Vorstellungen. Einen verläßlichen Überblick für Informatikstudenten, aber auch für einschlägig vorgebildete Autodidakten gibt das Standardwerk von

Elaine Rich: Künstliche Intelligenz. KI-Einführung und Anwendungen; Hamburg 1988. McGraw-Hill Verlag (65,-- DM).

In zwei Hauptteilen führt die Autorin die beiden klassischen Anwendungsgebiete der KI vor: Problemlösung und Wissensdarstellung. Ein dritter Teil beschäftigt sich mit fortgeschrittenen Themen wie Verständnis natürlicher Sprache, Planung, Wahrnehmung und Lernen durch Maschinen. Eine Kurzdarstellung der gängigsten KI-Sprachen beschließt den Band.

Wo dieser aufhört, fangen die nächsten beiden an. Jeweils einer der beiden wichtigsten KI-Programmiersprachen, Prolog und LISP, widmen sich die Bände

Bernhard Böhringer / Carlo Chiopris / Ivan Futo: Wissensbasierte Systeme mit Prolog; Bonn, Reading (Mass.) 1988. Addison Wesley Verlag (48,-- DM)

Michael Hußmann / Peter Schefe / Andreas Fittschen: Das LISP-Buch; Hamburg, New York u.a. 1988. McGraw-Hill Verlag (45,-- DM).

Es ist ein alter Streit unter Informatikern, welche der beiden Sprachen vorzuziehen ist, das prädikatenorientierte Prolog oder das funktionale LISP. Doch die beiden Bücher zeigen, daß letztlich der Zweck über die Mittel entscheidet. Während es Böhringer/ Chiopris / Futo eher um das Problemlösen mittels logischer Programmierung zu tun ist, sind Hußmann / Schefe / Fittschen mehr an dem Verstehen natürlicher Sprache interessiert.

Beide Aspekte fließen zusammen in den sogenannten Expertensystemen. Das sind Computerprogramme, die mit dem Benutzer einen Dialog führen und seine Fragen durch Schlußfolgerungen beantworten. Eine praxisnahe Darstellung dieses ersten kommerziellen Anwendungsgebietes der Künstlichen Intelligenz gibt

Peter Jackson: Expertensysteme. Eine Einführung; Bonn, Reading (Mass.) 1987. Addison Wesley Verlag (58,-- DM).

Anhand von real existierenden Expertensystemen beschreibt Jackson ihre wesentlichen Aufbauprinzipien und erläutert die wichtigsten Konzepte der Wissensrepräsentation.

Mit ein bißchen Boshaftigkeit könnte man sagen, daß Expertensysteme eigentlich das Ergebnis einer Resignation sind. Denn frühe Versuche der KI, eine allgemeine Problemlösungsmaschine nach dem Vorbild von Schachprogrammen zu entwickeln, scheiterten schließlich an der Einsicht, daß sich menschliches Wissen nicht einfach in formale Regeln zerlegen läßt. Expertensysteme beschränken sich daher auf solche Wissensbereiche, die durch Konventionen bereits weitgehend formalisiert sind: spezielle Fachgebiete mit klar beschreibbaren Fakten und Regeln, z.B. bei der Diagnostik. Die sogenannten Wissensingenieure brauchen diese dann "nur" noch in die Repräsentationssprachen der KI zu übertragen. Schon hierbei zeigt sich aber, daß Wissen grundsätzlich nicht in geschlossene Systeme zu bringen ist. Aus diesem Grund können Expertensysteme niemals das Niveau wirklicher Experten erreichen. Für einen technologischen Neuansatz plädiert daher

Derek Partridge: KI und das Software Engineering der Zukunft; Hamburg, New York u.a. 1989 McGraw-Hill Verlag (65,-- DM).

Partridge zeigt, daß der bisherige Weg der KI, geschlossene Wissenssysteme zu konstruieren, in eine Sackgasse führt. Stattdessen muß sie für den Benutzer zu einer Unterstützungsumgebung werden, in der Wissen sich, seiner Natur gemäß, kontinuierlich verändern und erweitern kann. Erst dann wird das tatsächliche Potential der KI, ihre Lernfähigkeit, genutzt.

Mit der Einbeziehung des Menschen in die Untersuchungen zur Wissensnavigation sind wir bereits bei ihren philosophischen Aspekten angelangt.

II.

Daß Wissen sich erst im Dialog entfaltet und nicht festgeschrieben werden kann, das wußte schon der antike Philosoph Platon. Das Büchlein von

Matthias Tichy / Ekkehard Martens: Computer - Denken; Hannover 1986. Schroedel Schulbuchverlag

belegt mit einer hochinteressanten Auswahl philosophischer Texte, daß "viele der Ängste, Hoffnungen und Utopien, die mit dem Computer in Zusammenhang gebracht werden, wesentlich älter sind als der Computer selbst" (Aus dem Vorwort). Indem es einen Bogen spannt von Descartes bis Douglas R. Hofstadter, vertieft es unser Traditionsbewußtsein, ohne das der technische Fortschritt orientierungslos bleiben müßte.

Von dieser Position her führt auch der amerikanische Philosoph

John Haugeland: Künstliche Intelligenz - Programmierte Vernunft? Hamburg, New York u.a. 1987. McGraw-Hill Verlag (42,-- DM)

seine Leser in die KI-Forschung ein. Haugeland beschreibt zunächst die Entstehungsgeschichte der Versuche, Maschinen das Denken beizubringen, um sodann die heutigen Ansätze technisch-kritisch unter die Lupe zu nehmen. Das Buch, mittlerweile ein Klassiker, ist trotz seines hohen gedanklichen Niveaus leicht verständlich, ja humorvoll geschrieben. So illusriert Haugeland beispielsweise den Unterschied zwischen echter und falscher Künstlicher Intelligenz, indem er das Dialogsystem SHRDLU zu der selbstentlarvenden Antwort nötigt: "Entschuldigung, ich kenne das Wort 'Entschuldigung' nicht." Ob es im Gegensatz dazu wirklich intelligente Maschinen geben kann, das läßt er in vorsichtiger Zurückhaltung offen.

Ihr entschiedenes Nein in dieser Frage suchen dagegen

Hubert L. Dreyfus, / Stuart E. Dreyfus: Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition; Reinbek bei Hamburg 1987, rowohlt Verlag (16,80 DM)

unter Berufung auf die intuitiven Anteile menschlicher Intelligenz zu begründen. Ein Kritiker schrieb über die Brüder Dreyfus, sie zehrten immer noch von der Schadenfreude, daß die ersten Prognosen der KI-Forscher nicht eingetreten seien. In der Tat hat man bisweilen bei der Lektüre das Gefühl, die Autoren würden gegen Windmühlen ankämpfen. Wer aber immer noch glaubt - und die KI-Szene ist voll von solchen Schwärmern -, daß Computer das menschliche Denken ersetzen könnten, der findet hier eine heilsame Ernüchterung. Darüberhinaus zeigt das Buch, fern von aller Technikverteufelung, durchaus Wege, wie die KI-Technik für die Wissensnavigation zu nutzen ist: als interaktive Enzyklopädie, die dem Benutzer informierend und beratend zur Seite steht.

Aber wie soll das aussehen? Die meisten Textwissenschaftler hüllen sich bei dieser Frage in vornehmes Schweigen. Sie überlassen den technischen Fummelkram lieber den anderen, um hinterher blasiert zu befinden, daß das Programm X oder Y nichts taugt. Aber woher soll ein Software-Ingenieur wissen, was etwa ein gutes Wörterbuch oder Textarchiv zu leisten hat, wenn nicht von denen, die sich damit von Berufs wegen befassen?

Die Zunft der Literaten mag die Nase rümpfen, wenn technische Phantasten in Unkenntnis philosophischer Probleme mit ihren Turbo-KI-Navigatoren aufkreuzen. Will sie als TÜV solcher Geräte ernstgenommen werden, muß sie konkrete Mängellisten vorweisen und sagen, wie ein tauglicher Knowledge Navigator ausgerüstet sein sollte. Ich wüßte kein Buch zu nennen, das hierüber fundierte Auskunft gäbe (Gegenbeweise dringend erbeten!). Stattdessen nenne ich zum Schluß drei Aufsätze, deren Überlegungen mir wichtig erscheinen. Die Kernthese von

Winfried D'Avis: KI, ein Angriff der Computer auf den menschlichen Geist? -In: Ästhetik und Kommunikation 69 (1987), S.75-84

finde ich so treffend, daß ich sie hier im Wortlaut wiedergeben möchte: "Die Geisteswissenschaften haben in der notwendig interdisziplinären KI-Forschung die Chance, über ihre traditionelle Funktion der (nachträglichen) Sinnstiftung hinaus auf den Entstehungsprozeß technischer Produkte Einfluß zu nehmen. Eine Verweigerung dieses Arbeitsangebotes wird allerdings nicht zu einem vorzeitigen Ende der KI-Forschungen führen, sondern zur Aneignung des sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissens durch Naturwissenschaft und Technik, die schon begonnen hat."

Von einer Chance - und zwar, in koketter Nestbeschmutzung, von einer "vielleicht unverdienten" - spricht auch

Helmut F. Spinner: Die Besteigung des Informationsberges als neue Aufgabe der Philosophie im Verbund aller Wissenschaften. Themen und Thesen zur philosophischen Bewältigung des Wandels der Wissensordnung infolge der informationstechnischen Entwicklung. -In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XIX/2 (1988), S.328-347.

Der barocke Titel macht eine Inhaltsangabe überflüssig. Spinners Ausführungen sind sehr um präzise Darstellung und klare Konzeption bemüht. Offenbar will er nicht das sein, was sein Name - der ja doch ein Ehrentitel unter Philosophen sein soll - verheißt.

Ob das unbedingt eine Tugend ist? Daß sich die Philosophie selbst beim Besteigen des Informationsberges verändert, kann nicht ausbleiben. Aber es wäre ein verhängnisvolles Mißverständnis jener Chance zur Mitgestaltung, wenn sie sie nur dadurch realisieren zu können glaubt, daß sie sich der Informationstechnologie sozusagen kompatibel macht. Um das zu belegen, sei es mir gestattet, zuletzt mich selbst auf die Rednerliste zu setzen. Mein Aufsatz

Peter Matussek: Aufhebung der Enzyklopädie im Expertensystem? -In: Enzyklopädie und Emanzipation. Das Ganze wissen; Köln 1988 [=DIALEKTIK 16 (1988)], S. 56-76. Pahl-Rugenstein Verlag (22, -- DM)

geht von der prinzipiellen Unvereinbarkeit zwischen literarischer und technischer Intelligenz aus. Wie bei ungleichen Paaren, so sehe ich auch hier die Voraussetzung für ein befriedigendes Zusammenleben nicht in der Nivellierung, sondern gerade in der Anerkennung des Gegensatzes. Dann nämlich kann er produktiv gemacht werden für eine wechselseitige Vertiefung von Verstehensleistungen. Wenn mein Beitrag vielleicht auch etwas schwer verdaulich sein mag - der Sammelband lohnt sich allemal. Denn er gibt einen guten Überblick über den Stand der Enzyklopädistik, einer Wissenschaft mit großer Tradition, ohne deren Kenntnis kein gescheiter Knowledge Navigator zu konstruieren wäre.