Peter Matussek

Simultansinn

 


Erschienen in: MACup 4 (1989), S.3.

 

     
 

Da hört man doch immer wieder, besonders in deutschem Idiom, das alte Klagelied von der Tötung unserer fünf Sinne durch moderne Wissenschaft und Technik. abei haben sich die Geschmähten wahrlich um die Schärfung unseres Sensoriums bemüht. Auge und Ohr unterliegen bereits vollendet digitalisierten Hertz-Attacken. Um den Rest kümmert sich rührend, auch destillierend, die Chemie. Nase und Zunge beschickt sie mit naturidentischen Aromastoffen, die echter sind als das Vorbild. Und der Haut schmeichelt sie beim Duschen mit dem Feeling von sibirischem Frühling. ergebliche Mühe. Unsere Sinnesorgane sind schwindsüchtig geworden. Sie drohen einzugehen - aus Unterforderung. Hochgezüchtete Spezialisten, kennen sie alles und nehmen deshalb nichts mehr wahr. um Beispiel die allmorgendliche Tasse Kaffee. Würden wir die Expertenrunde unserer Sinne mit ordinären Gutachterjobs langweilen wie der Wahrnehmung von Süße, Schwärze oder Schlürfgeräusch, träten sie sofort beleidigt in den Streik, was natürlich einem unmittelbaren Rückfall in den eben erst überwundenen Schlaf gleichkäme. Deshalb inszeniert der ausgebuffte Zivilisationsneurotiker sein Frühstücksgetränk in einer anspruchsvollen Sensationskulisse - Optik: Wild-Zeitung, Sound: Chris de Würg, Duft: Coco Flanell, Geschmack: Knobol-Spray. er Nachteil solcher Ausstattungsproduktionen ist freilich, daß der Hauptdarsteller in den Hintergrund gerät. Von ihm kündet allenfalls noch die Tastempfindung - als Notreflex bei Hitze- oder Kälteschocks. Und so ergeht es der voll beanspruchten Sinnlichkeit wie einem perfekten Schachspieler in einer Simultanpartie: er macht Fehler, die ihm sonst nicht unterlaufen würden. An schlechten Tagen endet unser Frühstück dann mit dem Austrinken der Blumenvase. a heißt es dann wieder, die Technik sei Schuld. Dabei haben wir unsere fünf Sinne doch unvermindert. Allerdings nicht beisammen. Just in dem Moment aber, als ihr ob derartiger Fehlleistungen wieder einmal der medienkritische Hexenprozeß gemacht werden soll und die Gemeinde der Reizkonsumenten abzuschwören droht, da zaubert die Technik ein neues Mittel gegen ihre unerwünschte Nebenwirkungen aus dem Hut. Es heißt Multimedia und verspricht ein bekömmliches Miteinander des Verschiedenen. Ob heiße Informationen oder kalter Kaffee - die konzertierte Action fühlt sich wirklicher an als die Wirklichkeit.as Patent geht zurück auf die romantische Universal-Poesie. Als Medizin gegen die Zerstückelung der Sinne empfahl sie Synästhesie, das Zugleichempfinden, wie es sich zum Beispiel in dem Wort "Klangfarbe" ankündigt. Die erste Produktionsanlage für ebensolche baute Richard Wagner in Bayreuth. Dort sollte der Bildungsphilister, ein ausfransendes Reflexbündel, ringsum eingelullt und zu neuer Intensität zusammengeschnürt werden. "Gesamtkunstwerk" nannte sich das hochtrabend. in überzogener Anspruch, blieb er doch zweisinnig auf die Integration von Auge und Ohr beschränkt. Umso erstaunlicher, daß sich auch heute noch unter dem Label "Multimedia" nicht mehr verbirgt als jenes gemischte Doppel von Hören und Sehen. Ehe uns beides vergeht vor lauter Supersound und High Resolution, brauchen wir dringend Verstärkung durch die verbliebenen drei Sinne im vollintegrierten Audio-Video-Deo-Sensor-Drop.

Das gibt es doch schon, wird mancheiner denken. Aber LSD ist nicht programmierbar.