Peter Matussek

Spieltrieb

 


Erschienen in: MACup 8 (1988), S. 3.

 

     
 

Es war gegen drei Uhr morgens, als meine Nachbarin klingelte. Nicht die allzu deutliche Vernehmbarkeit der nächtlichen Laute hatte sie schließlich aus dem Bett gescheucht, sondern deren Fremdheit. So wie ein Schlafsuchender, irritiert über ein merkwürdiges Geräusch, sich erst beruhigt, wenn er es identifizieren und seiner vertrauten Umgebung einordnen kann, so hatte sie wiederholte Anläufe gemacht, der skurrilen Beschallung Normalität zu attestieren.

Vergeblich. Meine Platten kennt sie auswendig, und kein noch so bizarres Video konnte den Eindruck erklären, nebenan habe sich, begleitet von johlendem Gewieher und Entsetzensschreien, der Höllenschlund aufgetan.

"Was um alles in der Welt macht ihr da eigentlich?!" In ihren angespannten Zügen stand die Verzweiflung eines von Neugier zerfressenen Nervenkostüms.

"Tja, äh, also ..." verlegen führte ich sie vor meinen Mac - achtgebend, daß sie nicht über das von meiner Anlage herübergespannte Lautsprecherkabel stolperte - und zeigte ihr "Dark Castle".

Ich fühlte mich ertappt. Unter ihren fassungslosen Blicken verflog mein Nimbus des emsigen Forschers, der noch in tiefer Nacht vor seinem Terminal hockt, um mit modernster Technik den großen Fragen des Lebens zu Leibe zu rücken. Vorbei das seriöse Image, wenn ich mit wichtiger Miene von meinem Mac erzählte: graphische Benutzerführung, starker Prozessor und so. - "Dient offenbar vielseitigen Interessen", bemerkte sie zynisch.

Anders als etwa der Space-Shuttle-Simulator verfügt "Dark Castle" nicht über einen Sonderbefehl für solche Ernstfälle, der die Spielfläche mit einem unverdächtigen Excel-Spreadsheet schamhaft verhüllt. Also blieb mir nur die Flucht nach vorn. Mit dem unschuldigsten Kann-denn-Spielen-Sünde-sein?-Lächeln hielt ich ihr das einschlägige Schiller-Wort unter die gerümpfte Nase: "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Doch die zitatenfeste Bibliothekarin höhnte: "Er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist."

Da saßen wir nun, übernächtigte Hacker, fanatische Reflexbündel, artvergessen. Mußten uns die Lehre der Soziologen und Medienpädagogen ins unwillig dämmernde Bewußtsein rufen lassen, daß wir nicht Spieler, sondern Süchtige sind, die den Alltagsstreß kompensatorisch reproduzieren. Daß wir uns zu Tode amüsieren. Wie in jener Filmszene von Mel Brooks, wo Nachtschwester und Bereitschaftsarzt Videotennis spielen: auf dem Oszillographen des Herzpatienten.

Betreten blickten wir der Seelsorgerin nach, die in missionarischer Selbstgefälligkeit abzog. Waren wir doch gerade dabei gewesen, den schwarzen Ritter zu stürzen.

Jetzt mußten wir noch 'mal ganz von vorne anfangen...