Peter Matussek

Tour de Science

 


Erschienen in: MACup 4 (1988), S. 26–30.

 

     
 

Das gesamte Wissen der Menschheit wird bald auf Computern gespeichert sein. Das eröffnet neue Perspektiven für Wissenschaft und Forschung. MACup berichtet über die orientierungslosen Datenbanken der Gegenwart, John Sculleys Traum vom Wissen-Navigator und den Mac der Zukunft.

"Mein lieber Dumas", frotzelte Heine den unerschöpflichen Dichterkollegen, "Sie haben gut schreiben, aber wer soll das alles lesen?" Informationsüberflutung ist ein altes Problem. Der Barock?Gelehrte Leibniz gilt als der letzte Mensch, der das gesamte Wissen seiner Zeit überschauen konnte. Schon Goethe, das Universalgenie, empfand allein bei seinen botanischen Studien, wie er berichtet, ein "Grauen vor der empirischen Breite" des Fachgebiets. Und als Heine überlegte, wie er das Werk seines Lieblingsautors bewältigen sollte - es umfaßte 250 Bände -, da waren auch einzelne Forschungszweige individuell nicht mehr in den Griff zu bekommen.

Der Student der Literaturwissenschaft zum Beispiel, der heute "nur" die Sekundärliteratur zu Goethes "Faust" lesen wollte, müßte schon hundert Jahre alt werden, um bei einem täglichen Pensum von 300 Seiten damit fertig zu werden. Ob er sich dann noch erinnert, was er mit achtzehn gelesen hat?

Nun, er wäre schön töricht, wenn er sich nicht auf das Wesentliche beschränkte. Aber was ist das Wesentliche? Je mehr Informationen zur Verfügung stehen, um so größer die Qual der richtigen Auswahl, um sie in persönliches Wissen umzuwandeln.

Das Problem nimmt heute dramatische Formen an. Die Fortschritte des elektronischen Publizierens und Archivierens lassen die Informationspotentiale in geradezu explosionsartigem Tempo anwachsen. Man schätzt. daß schon zu Anfang des 21. Jahrhunderts alles Wissen der Welt auf Datenträgern gespeichert sein wird. "Es ist eine Explosion des Quatsches", kommentiert der Computerkritiker Joseph Weizenbaum diese Entwicklung. Übersieht er die Schätze, die in der Fülle verborgen liegen?

Wohl kaum. Aber er befürchtet, daß in der Quantität die Qualitäten untergehen. Zudem trifft jeder seine eigene Unterscheidung zwischen Spreu und Weizen(baum). Der eine nähert sich der Erkenntnistheorie Kants über das Studium der "Kritik der reinen Vernunft". Der andere benutzt die philosophische Hintertreppe. Er findet seinen Weizen in Kants Briefen und Tagebüchern. Es kommt eben auf das individuelle Forschungsinteresse an, ob eine Information gehaltvoll ist oder leerer Ballast.

Wie findet jeder die Seine? Auf den großen Datenbanken von heute nur schwer. Als "gut organisiert" gelten diejenigen, die mit Hilfe von Suchschlüsseln und deren Systematik, "Deskriptoren" und "Thesauri", jedem Dokument einen bestimmten Platz in einer imaginären Ordnung des Weltwissens zuweisen. In dieser starren Ordnung, die ja nur eine willkürliche ist und je nach Standard verschieden, das richtige Dokument zu finden, ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und zwar mit einer Mistgabel.

Als ich einmal ein hochmodernes Dokumentationsarchiv zum Thema "Goethe als Botaniker" befragte, erhielt ich zwei Ordner Papier. Getrost trug ich das Material nach Hause, um dort festzustellen, daß es zum größten Teil unbrauchbar war. Artikel von der Art "Goethe?Institut Lissabon nun doch auf dem Gelände des botanischen Gartens" waren in der zweigezinkten Gabel "Goethe" und "Botanik" zu ganzen Knäueln hängengeblieben. Andere, die ich dringend gebraucht hätte, waren hindurchgefallen. So zum Beispiel eine gründliche Studie über Goethes Gedicht "Metamorphose der Pflanzen", denn die fiel leider nach Ansicht des Archivars ins Gebiet der Literaturwissenschaft. Armer Goethe, dem es so sehr auf das Verbindende ankam!

Schuld ist nicht der Archivar, sondern das antiquierte Aufbauprinzip solcher Datenbanken. Die Technik der Klassifikation stammt aus dem tiefsten Mittelalter, das wiederum die Antike beerbt hat. Mit dem Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft war die Informationsfülle so groß geworden, daß man sie wie einen Stammbaum in überschaubare Zweige und Verästelungen zergliedern mußte. Ihren ersten Thesaurus schrieb Kant. Der "Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz" zum Beispiel steht bei ihm in der ersten der drei Kritiken unter römisch eins, zweiter Teil, erste Abteilung, zweites Buch, zweites Hauptstück, dritter Abschnitt, erste Analogie. Man sagt ihm zwanghafte Züge nach, dem Königsberger Philosophen. Doch Ordnung muß sein. Sonst würde man sich in der Fülle des Wissens nicht mehr zurechtfinden.

Das Problem ist nur, daß jede Zeit und jede Kultur, ja jedes Individuum andere Ordnungsvorstellungen haben. Der argentinische Schriftsteller Borges berichtet von einer alten chinesischen Enzyklopädie, nach der "die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen".

Borges' Beispiel öffnet uns den Blick für die Relativität von Ordnungshierarchien. Die großen Datenbanken und computererstellten Archive heute erscheinen demgegenüber wie der krampfhafte Versuch, das mittelalterliche Dogma einer einzigen geschlossenen Weltordnung aufrechtzuerhalten. Statt mit unseren speziellen Suchwünschen zu korrespondieren, zwingen sie uns ins Korsett willkürlicher Deskriptoren?Systeme, schicken uns auf tote Suchbaumäste, die viel Laub, aber keine Früchte tragen.

Die moderneren Volltext?Datenbanken versuchen, diesen Nachteilen der Grobmaschigkeit durch vollständige Wortlisten beizukommen. Ein erprobtes Prinzip: Die ältesten alphabetischen Schriften unseres Kulturkreises, die Archäologen auf Tonscherben gefunden haben, waren Register. Abgesehen von Tempo? und Kapazitätssteigerungen sind wir diesbezüglich Erben der Bronzezeit geblieben.

Warum auch nicht? Jedes Wörtchen läßt sich in einem Register nachschlagen. Auch der Sinn? Wer den elektronisch erstellten Index zu Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" nach dem zentralen Motiv des Romans, der Sehnsucht, befragt, erhält rund 100 Belegstellen. Die nachzuprüfen ist fast genauso zeitaufwendig wie die Lektüre des ganzen Buches.

Und irreführend. Denn nicht im Index verzeichnet sind die Schlüsselstellen zu diesem Motiv, zum Beispiel der Traum von der blauen Blume, weil das Wort selbst in ihnen nicht vorkommt. "Man hat die Teile in seiner Hand, fehlt leider! nur das geistige Band." An der Schwelle zur Informationsgesellschaft gilt immer noch, ja erst recht, was Goethe den Teufel über das tote Wissen der mittelalterlichen Scholastik sagen läßt.

Nur - früher waren diese Mängel unvermeidlich, heute produziert man sie freiwillig. Was man in Tontafeln geritzt oder auf Papier gedruckt hat, ist in seiner Anordnung festgelegt. Starre, lineare und inhaltliche Interessen gegenüber gleichgültiger Wissensverwaltung war die notwendige Folge. Die elektronische Datenspeicherung dagegen bietet die Möglichkeit zur flexiblen Organisation von Wissen. Informationen lassen sich untereinander verbinden, wie es gerade gebraucht wird. Die Synapsen in unserem Gehirn funktionieren genauso: sie arbeiten nicht sequentiell, sondern assoziativ. Aus einer Vielzahl von Informationen stellen sie je nach Bedarf ein individuelles Bild zusammen.

Die Chance, dem Beispiel der Natur zu folgen und durch Computertechnik dem zunehmenden Zerfall des Wissens in sinn?, weil zusammenhanglose Atome entgegenzuwirken, wurde in der Vergangenheit nicht genutzt. Blinde Sammelwut stürzte sich seit den 70er Jahren auf die EDV, als handle es sich dabei um nichts anderes als elektronische Tontafeln oder Bücher. Unsummen an Forschungsgeldern wurden investiert, um die überholten formalistischen Ordnungsverfahren zu perfektionieren, anstatt bedarfsgerechte Auswahlstrategien zu entwickeln. Diese Forschungsanstrengungen gleichen dem Mann, der seinen Hausschlüssel im Lichte einer Straßenlaterne sucht - nicht, weil er ihn dort verloren hat, sondern weil er dort mehr sieht.

Apple?Chef John Sculley hatte einen Traum (nachzulesen in seinem Buch "Odyssey: Pepsi to Apple"). Er träumte von einer Renaissance im 21. Jahrhundert: Das gesamte Wissen der Menschheit ist elektronisch gespeichert. Doch die dunklen Zeiten sind vorbei, wo die Menschen von diesem Wissen erschlagen wurden, weil sie sich darin nicht zurechtfanden, wo sie unnützes Zeug lesen mußten, das sie nicht interessierte, und das, was sie gebraucht hätten, im Urwald der Suchbäume nicht fanden.

Denn sie verfügen über ein magisches Steuerungsinstrument, den "Knowledge Navigator". Dieser geheimnisvolle Apparat ist gut zu den Menschen. Er kommuniziert mit ihnen auf angenehme Weise und lernt dabei ihre individuellen Informationsbedürfnisse kennen, geht auf persönliche Vorlieben ein und präsentiert entsprechend maßgeschneiderte Informationen.

Wie in einem Privatflugzeug können die Menschen mit ihm auf Entdeckungsreise gehen. So durchqueren sie im Orientierungsflug Museen und Bibliotheken, Epochen und Forschungsgebiete. Sie überfliegen die Grenzen der einstmals geteilten Wissenschaftsdisziplinen und erkennen neue Zusammenhänge zwischen Wörtern und Bildern, Naturund Geisteswissenschaften. Wo sie etwas Interessantes entdecken, da gehen sie herunter und machen Zwischenlandungen. Anderes, für das sie keine Zeit haben, lassen sie weit unter sich.

Durch verschiedene Fenster ihres Knowledge Navigators können die Wissenstouristen ein Thema unter verschiedenen Aspekten betrachten, erweitern so ihren Horizont und überwinden die Vorurteile der Vergangenheit.

Wenn sie sich treffen auf ihren Ideenflügen, dann erzählen sie sich Gruselgeschichten von geplagten Artgenossen aus vergangenen Jahrtausenden. Von Totschlagwörtern, sogenannten Deskriptoren, die sie nur das Wissen finden ließen, das sie zuvor durch Ordnungsschemata bis zur Unkenntlichkeit verhackstückt hatten. "Masochisten", sagt dann einer, "daß sie ihre Lust an der Erkenntnis so abtöteten!" "Immerhin", widerspricht ein anderer, "haben sie zu guter Letzt den Mac erfunden, den Vorläufer unseres Knowledge Navigators." Welch ein schöner Traum! Oder?

Für diejenigen, die ihn zum Science?fiction?Autor abstempeln wollen, hält John Sculley eine Anekdote parat: Napoleon beschloß einmal, an den Hauptstraßen Frankreichs Bäume zu pflanzen, damit seine Soldaten im Schatten marschieren könnten. Als ein Minister ihm klarzumachen versuchte, daß es mindestens dreißig Jahre dauern würde, bis man soweit sei, antwortete der Kaiser: "Dann dürfen wir keine einzige Minute verschwenden!"

Eine goldene Palme steht bereits am Straßenrand und wirft hoffnungsvolle Schatten voraus: Mit seiner graphischen Bildschirmoberfläche leitete der Mac die Renaissance einer menschenfreundlichen Benutzerführung ein. So wie der Knowledge Navigator einmal unsere bildlichen Gedächtnisstrukturen unterstützen soll bei der Ansteuerung von Wissensgebieten, so ersetzt das MacBetriebssystem schon jetzt das stupide Auswendiglernen von nichtssagenden Befehlskürzeln durch mausgesteuerte Menüs, Fenster und Ikonen.

Das zweite Bäumchen wächst sich vom Apple-Menü über den Switcher und den MultiFinder zu den Annehmlichkeiten des Multitasking aus. Wer sich in einem Arbeits- oder Wissensgebiet aufhält, ist fortan nicht mehr gezwungen, andere auszublenden. Diese Simultanität der zuvor getrennten Fakultäten ist eine wichtige Voraussetzung für lebensnahe Wissens-Navigation. Das Nebeneinander verschiedener Arbeitsgebiete kann so zu einem ergänzenden Miteinander integriert werden.

Den dritten Schattenspender hat Bill Atkinson gepflanzt. HyperCard erlaubt die beliebige Verknüpfung einzelner Informationen und Funktionen, Texte und Bilder untereinander. Die schier unbegrenzte Vielseitigkeit und kinderleichte Programmierbarkeit der Stacks kommt Sculleys Vision vom individuell maßgeschneiderten, personalisierten Wissenssystem schon sehr nahe.

Und der Boden ist fruchtbar. Die neuen Macs mit ihrer Aufrüstbarkeit auf zwei Gigabyte und der Möglichkeit zum Einbau von Multiprozessoren wird einmal dem Knowledge Navigator den nötigen Gedächtnisumfang geben und die Leistungsstärke eines heutigen Cray?Rechners, bislang Privileg aufwendiger Spitzenlabors, jedermann verfügbar machen.

Das sind erst Baumschulzöglinge, noch keine Allee. Aber ein Blick auf die Aktivitäten der Apple-Hochschul-gruppen in aller Welt zeigt, daß hier grosse Potentiale innovativer Ideen heranreifen, die zu den Navigationshilfen der Zukunft beitragen werden:

Sinnvolle Steuerung von Informationen beginnt mit der Ermittlung der eigenen Erkenntnisinteressen. An der renommierten Stanford?Universität haben Forscher untersucht, welche computergestützten Dialogverfahren dem Menschen dabei helfen können. Ideen?Prozessoren und interaktive Programmiersprachen, wie zum Beispiel "MORE" und "ExperLogo Plus", nahmen sie zum Vorbild für weiterführende Überlegungen. Ihr Ziel ist ein CAD der Ideen: das CAT (Computer Aided Thinking). Ein entsprechender Dialog soll die Eigeninitiative und das eigene Denken des Benutzers anregen. Der Computer muß die Wünsche des Benutzers verstehen können, um sich ihnen anzupassen.

Je besser er das kann, um so hilfreicher wird er bei der Informationssuche sein. Die ETH in Zürich machte einen Schritt in die richtige Richtung. Sie hat "Gambit" für den Mac entwickelt, ein Gestaltungswerkzeug für relationale Datenbanken, mit der die funktionalen und strukturellen Aspekte begrifflicher Zusammenhänge nach Bedarf konzipiert werden können. Der Benutzer definiert Datenstrukturen von beliebiger Komplexität in einer graphischen Umgebung. Er skizziert sie im eigentlichen Sinne. Die Generierung der Datenbank geschieht vollautomatisch, ohne den geringsten Programmieraufwand.

Schließlich gehört zur erfolgreichen Wissens-Navigation eine anschauliche und einprägsame Art der Wissensrepräsentation. Frühere Lehr/Lern-Programme sind mittlerweile auch in den Schulen als "Drill-Maschinen" in Verruf geraten, weil sie zwei schwerwiegende Systemfehler haben: Sie berücksichtigen nicht die Tatsache, daß unsere Gedächtnisstrukturen bildlich organisiert sind, und sie ziehen stur ihren Stoff durch, so daß dem Wißbegierigen Hören und Sehen und damit auch die Lust am Lernen vergeht.

Die Universitäten Harvard und Boston machen's besser: Hier entstand "Perseus", eine dialogorientierte Volltextund Bilddatenbank, die 100 Megabyte Text in HyperTextStruktur, 10 000 Bilder und ein griechisch-englisches Wörterbuch beheimatet. Perseus schickt den Benutzer auf eine spannende Entdeckungsreise ins klassische Griechenland, bei der er aktiv das Geschehen am Terminal beeinflußt.

Diese Beispiele belegen, daß Sculley kein Schwärmer ist, sondern konkrete Ansätze, die mit dem Mac bereits realisiert wurden, weiterdenkt. So hegt er die berechtigte Hoffnung, daß der Traum von einer schattenspendenden Allee der Wissens?Navigation einmal Wirklichkeit werden kann. Eine Allee nicht für uniformierte Soldaten, sondern für universell und individuell informierte Wissens-Flaneure.