Oliver Jarausch/ Peter Matussek:

Nabelschau im Technoland.

[Interview zur Love-Parade 1997.]

 

In: motion 7 (1997), S. 42–46..

     
 

"Entkrampfung braucht das Land", sagt Peter Lützenkirchen, Pressesprecher der Love Parade, leicht verspannt. Unter Hochdruck müssen die 800 000 Mark sparsam eingesetzt werden, die für die gesamte Vorbereitung der kollektiven Trance zur Verfügung stehen. Kalt erwischt hat die Macher der Parade, daß der Eisriese Langnese als Sponsor abgesprungen ist, und Camel nur noch ein unbedeutendes Rauchzeichen beisteuert.

Während die Werbestrategen langsam die Lust am Techno verlieren, stoßen immer mehrSchaulustige zum Liebeswurm, der sich durch den Berliner Tiergarten schlängelt. Im Vorjahr waren es 7oo ooo, diesmal könnte die Millionengrenze geknackt werden - notfalls mit Kegelklubs, Rentnern und Kleinkindern. Die Love Parade ist längst zum Happening für die ganze Familie mutiert.

Sie pilgern mit Sonderzügen, Autos, Jets aus ganz Deutschland, Japan, Rußland und den USA in die Techno-Hauptstadt. Die Party beginnt schon mit der Anreise. Flieger, Busse und Sonderzüge werden beschallt. Die Invasion des Beats verändert die Stadt, die ein Wochenende lang im Gleichklang schwelgt.

Die Love Parade ist mehr als eine gigantische Straßenparty. Sie ist ein "Verschmelzungserlebnis, ein kollektiver Rauschzustand", erläutert Dr. Peter Matussek. Der Berliner Kulturwissenschaftler beschäftigt sich mit Erinnerungstechniken. Und dazu gehört auch das Vergessen: den Alltag auszuschalten und sich zu erinnern an das, was sonst noch da ist, "an die archaischen Gefühle." In seinen Forschungen über Trance und Techno zieht Matussek Parallelen zwischen Trancetechniken ritueller Gesellschaften und den Tänzen der Techno-Generation, von der Mimik bis hin zu Bewegungsabläufen.

Die Love Parade - eine Reise in unsere verschüttete Vergangenheit? "Es gibt ein kulturhistorisch unausrottbares Trancebedürfnis", sagt Matussek. Sich für eine Weile lang wegzubeamen aus dem Alltag, sei wichtig für einen entspannteren Umgang miteinander. "Es ist bemerkenswert, wieviel Toleranz und Freundlichkeit es in der Raver Society gibt."

Dies hat auch Joulia Straussowa, 22, erlebt. Als sie vor zweieinhalb Jahren aus St. Petersburg nach Berlin kam, um Bildhauerei zu studieren, wurde sie bald "zu einer Patriotin des Techno in Deutschland", wie sie selbst sagt. Die Love Parade ist für sie das kollektive Heilmittel gegen Streß und Langeweile. Die Künstlerin, die ein Dutzend Berliner Techno-DJs in Gips modellierte (siehe motion 6/97), hat den Cäsaren des Techno-lmperiums schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt.

Diskjockeys als Herrscher von Technoland? Während in archaischen Kulturen der Schamane zugleich der ehrfurchterregende Zeremonienmeister ist, lachen in der Rave Society Untertanen und DJ-Cäsaren bisweilen herzhaft über sich selbst. Die "Secondhand-Mythen der Techno-Generation", wie sie Matussek nennt, seien eine Parodie der althergebrachten Geschichten, die bei schamanistischen Trancepraktiken erzählt würden. Ernst hin oder her: Durch exzessives Tanzen gelingt es auch heute, dem Alltag für eine Weile die kalte Schulter zu zeigen. Peter Lützenkirchen, das Sprachrohr der Love Parade, nennt es "die Lust, sich zu verschwenden."

In dem Massenerlebnis werden die eigenen Grenzen aufgelöst: Auf der Love Parade begrüßt sich niemand mit "Hallo". Verständigungfunktioniert über synchrones Zucken. "In Trance hört der Einzelne auf, sich und andere zu identifizieren", sagt Matussek.

Eine gute Trance will sorgfältig vorbereitet sein. Ouer durch alle Kulturen spielt die Trommel die Hauptrolle - egal ob beim afrikanischen Stammesritual oder auf der Love Parade. "Die Trommel sorgt für hypnoseähnliche Gehirnströme und trickst das Alltagsbewußtsein aus", erläutert Matussek. Freie Bahn ins Ungewisse.

Deutschland habe seinen letzten kollektiven Trancezustand vor der Ära der Love Parade beim Nürnberger Reichsparteitag der Nazis erreicht. "Das war inszeniert wie eine Rockoper. Die faschistische Ästhetik konnte kulturell verschüttete Trancepotentiale aktivieren", sagt Matussek. Der entscheidende Unterschied zur Love Parade: die Raver begeben sich bewußt und willentlich in Trance. Matussek: "Ich würde sogar sagen, durch diese Freiwilligkeit sind sie für eine Wiederholung von Nürnberg nicht empfänglich." Das ist wie bei der Werbung im Kino; je unterschwelliger sie wirkt, desto größer ist die manipulative Wirkung. Je bewußter jemand die Trancetechnik anwende, desto genauer ließen sich die Nebenwirkungen dosieren, meint Matussek.

Profi-Raver wissen genau, wie sie am besten in einen Trancezustand gelangen. Die Reise in Sphären fern des Alltags gelingt vielen nur mit Drogen Techno-Trance hin oder her. Selbsthilfegruppen, die aus der Szene kommen, wie zum Beispiel Eve & Rave, beklagen immer wieder, wie wenig die meisten Raver über ihre Pillen tatsächlich wissen. Vom Trip bleiben bei Vielen gesundheitliche Schäden zurück. Überall auf der Welt gibt es Trance-Junkies, von Berlin bis Bali: "Auch dort gibt es Leute, die nehmen nicht in erster Linie aus religiösen Gründen teil, sondern die interessiert eigentlich nur: Wo ist das nächste Tempelfest, bei dem ich abtauchen kann?"

Doch die Trance ist längst nicht das erklärte Ziel jedes Mitläufers. Die Love Parade ist deutscher geworden. Im Vorjahr wurden bereits vereinzelt Besucher mit Picknickkoffern gesichtet. In diesem Jahr werden viele ihre Campingstühle mitbringen. Und irgendwann tritt vielleicht Ohropax als Sponsor auf.