Peter Matussek

„Es ist das Höchste, wozu es der Mensch bringt":

Das Aperçu bei Goethe

 


In: Ogawa, Akio / Tamura, Kazuhiko / Trauden, Dieter (Hg.): ,Wie alles sich zum Ganzen webt.’ Festschrift für Yoshito Takahashi zum 65. Gebuertstag; Tübingen 2010, S. 103–115..

 

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An der Schwelle zu seinem siebten Lebensjahrzehnt beginnt Goethe, seine Wissenschaftlerexistenz zu reflektieren. Sich „selbst immer mehr und mehr geschichtlich“ werdend[1], reiht er seine persönliche Forscherbiographie in die Geschichte der von ihm betriebenen Wissenschaften ein. Und bei der Sondierung dessen, was die bedeutendsten Erträge eines fruchtbaren Wissenschaftlerlebens sind, verwendet er einen Begriff, den er früher kaum benutzte, nun aber mit ganz eigenem Gepräge bedeutsam macht: den Begriff des Aperçus. „Alles“, schreibt er in der Geschichte der Farbenlehre,

... kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Aperçu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zu Grunde liegt. Und ein solches Gewahrwerden ist bis ins Unendliche fruchtbar. (HA 14, S. 98)

Obwohl der Begriff in seinen wissenschaftshistorischen Schriften eine zentrale Stellung einnimmt, hat er in der Goetheforschung nur sporadische Beachtung gefunden.[2] Im Goethe-Handbuch[3] kommt er noch nicht einmal vor. Da Goethe aber behauptet, „alles“ in der Wissenschaft komme auf das Aperçu an, und auch an anderen Stellen betont, es sei „das Höchste wozu es der Mensch bringt“[4], verdient es größere Aufmerksamkeit. Was also ist ein Aperçu im Sinne Goethes? Und wieso kann er sagen, es sei der ultimative Ertrag eines Wissenschaftlerlebens?

Dass Goethes Verwendung des Begriffs sich nicht im konventionellen Sprachgebrauch erschöpft, ist evident. Unter einem Aperçu versteht man im Deutschen eine „geistreiche, prägnant formulierte Bemerkung“[5], wobei ein leicht abschätziger Unterton mitschwingt, der einem Vorurteil gegenüber der französischen Lebensart geschuldet ist: Statt wie Faust in der Wesen Tiefe zu trachten, begnüge man sich mit der Eleganz pointierter Bonmots. Diesen Wortsinn würde Goethe gewiss nicht als „das Höchste, wozu es der Mensch bringt“ bezeichnen. Perfekt französisch sprechend, rekurriert er offenbar mehr auf das orignalsprachliche Bedeutungsfeld des Verbs apercevoir, das zwischen „wahrnehmen“ und „entdecken“ changiert. Ein Blick ins Goethe-Wörterbuch bestätigt unsere Annahme. Unter dem Stichwort „Aperçu“ vermerkt es folgende Hauptbedeutung:

In spezifisch G.-scher Ausprägung auf Grund seiner eigenen Arbeitsweise (bes. auf natwiss Gebiet) als plötzliches Gewahrwerden von Zusammenhängen u Gesetzmäßigkeiten, insbes von ‚Urphänomenen’; dann auch als natwiss Entdeckung und Erkenntnis überhaupt[6]

Die resümierende Formulierung umreißt zwar die semantische, nicht aber die somatische Dimension, die in Goethes Sprachgebrauch eine große Rolle spielt. So konstatiert er unter anderem, dass „ein jedes Aperçu, was uns angehört, in unserer Natur ein besonderes Wohlbefinden verbreitet“ (HA 14, S. 154), ja „die größte Freude“ (HA 12, S. 98 f.) beschert. Die Ursache hierfür ist nicht schwer zu erraten. Es ist die Freude an der eigenen Entdeckung. Wir bezeichnen sie auch als Heureka-Erlebnis, seit Archimedes sich in die Badewanne setzte und dabei das Gesetz des Auftriebs erkannte. Er soll vor Freude so außer sich gewesen sein, dass er nackt auf die Straße lief, um aller Welt mitzuteilen: „Ich habe es gefunden! Ich habe es gefunden!“ Nach Goethe ist der „Wunsch ganz natürlich, daß es [das Aperçu] andere als das unsrige anerkennen“ (ebd.).

In der Natur des Heureka-Erlebnisses liegt es allerdings auch, dass der Freude des Gefundenhabens eine Phase des Suchens vorausgegangen sein muss, die sich weniger gut anfühlt. Ja, wir müssen sogar feststellen, dass das Wohlbefinden, von dem Goethe spricht, immer nur so groß sein kann wie das Unwohlsein während der Suche. Es gibt keine Inspiration ohne vorherige Inkubation und keine Inkubation ohne Transpiration. Archimedes dachte nicht an eine Wellness-Kur, als er in die Badewanne stieg, sondern an ein kniffliges Problem, das ihn fast in die Verzweiflung trieb: den Goldgehalt eines Weihekranzes zu bestimmen ohne diesen zu beschädigen. Dass auch wir unsere besten Einfälle beim Entspannen unter der Dusche oder im Onsen haben, liegt nur daran, dass wir zuvor angespannt nachdachten. Und natürlich wissen wir auch, dass der Umschlag des einen Zustands in den anderen keineswegs garantiert ist. Oft genug kehren wir unerleuchtet vom Bad an den Schreibtisch zurück. Wir können zwar die Voraussetzungen für eine Eingebung schaffen, indem wir uns intensiv mit einem Problem auseinandersetzen; aber ihr Zustandekommen unterliegt nicht unserer willentlichen Kontrolle, sondern scheinbar einer Laune der Natur.

Warum der Umschlag nach einer gewissen Inkubationsphase dennoch immer wieder scheinbar unwillkürlich gelingt, erklären die Neurowissenschaften heute aus einer Eigentümlichkeit unseres Gehirns. Sie beschreiben es als ein Organ, das von sich aus den Gleichgewichtszustand anstrebt. Solange wir über ein ungelöstes Problem nachdenken, befindet es sich im Ungleichgewicht, messbar an wechselnden, zeitlich inkohärenten Erregungsmustern und spürbar als unangenehmes Gefühl. Gerade dieses Ungleichgewicht stimuliert aber die Nervenbahnen, nach Homöostase zu suchen. Dabei treten die verschiedenen Gehirnareale untereinander in Kommunikation, auch unter Ausbildung neuer synaptischer Verbindungen. Wenn dies gelingt, zeigt sich im EEG ein über das Gehirn verbreiteter Gleichtakt der Schwingungen. Der Hirnforscher Wolfgang Singer vermutet:

Vielleicht [...] sind Lösungen Zustände hoher Synchronizität, Momente, in denen weit verteilte Ensembles von Neuronen in gut synchronisierte oszillatorische Aktivität einschwingen.[7]

Diese neuronalen Zustände korrelieren zugleich, wie EEG-Messungen bei buddhistischen Mönchen im Zustand tiefer Meditation belegen, mit einem „Wohlbefinden“[8].

Um festzustellen, ob das auch von Goethe beschriebene Wohlbefinden beim Gewahrwerden einer großen Maxime damit vergleichbar ist, folgen wir der Schilderung, die er vom Zustandekommen des für ihn wichtigsten Aperçus überhaupt gibt: die Grundeinsicht in das Urphänomen der Farbe. Deren Inkubationsphase reicht, wie er in dem Kapitel Konfession des Verfassers der Geschichte der Farbenlehre ausführlich berichtet, weit zurück in sein erstes Weimarer Jahrzehnt. Die Frage, die ihn damals beschäftigte, richtete sich ursprünglich auf ein ganz anderes Gebiet, nämlich die Poetik. Nach den ersten, fulminaten Erfolgen als Schriftsteller war seine künstlerische Produktion ins Stocken geraten – einerseits wegen der Fülle der Amtsgeschäfte für den Weimarer Hof, andererseits aber auch, weil er, wie er nun feststellte, bisher die „Dichtkunst [...] gleichsam aus dem Stegreife und gewissermaßen instinktartig“ (HA 14, S. 252) ausübte. Um sie künftig bewusster und sicherer handhaben zu können, wollte er sie auf ästhetische Gesetzmäßigkeiten zurückführen. Die zeitgenössischen Poetiken erschienen ihm hierzu wenig brauchbar, und so wendete er sich dem Studium der bildenden Kunst zu, wofür er in Italien ideale Bedingungen fand. Vieles klärte sich ihm so, aber ein Aspekt erschien ihm in den Künstlerbiographien, Handbüchern und Abhandlungen stets nur lückenhaft behandelt: die Verwendung der Farbe. Dies habe ihn, so berichtet er weiter, dazu gebracht, sich intensiver mit den Farberscheinungen in der Natur zu beschäftigen, insbesondere der Bläue atmosphärischer Erscheinungen.

Was Goethe bis hierhin beschreibt, ist eine Suchbewegung, die im Rückblick und dem Darstellungsinteresse entsprechend gewiss gradliniger erscheint als sie in Wirklichkeit gewesen ist. Im Folgenden aber, als es darum geht, den Übergang von der Inkubation zur Inspiration zu schildern, ist Goethe ganz offensichtlich bemüht, den großen Anteil des Zufalls beim Zustandekommen des Aperçus herauszustreichen. Die Gründe hierfür werden wir später noch erörtern. Zunächst aber folgen wir weiter seinem Bericht.

Goethe lieh sich von Hofrat Büttner, dem Jenenser Physiker, dessen Langmut wir ebenso wie seiner Ungeduld eine der fruchtbarsten Episoden der Wissenschaftsgeschichte verdanken, einige Prismen. Anstatt aber damit sogleich die Versuche Newtons nachzustellen, die er vage aus seiner Studienzeit kannte, war Goethe mit verschiedenen anderen Tätigkeiten beschäftigt und vergaß die Leihgabe. Der Hofrat hatte Anlass, an die Rückgabe zu erinnern, nicht nur einmal, sondern mehrfach, zunächst sehr behutsam, dann drängender. Doch Goethe vertröstete ihn immer wieder, ohne von den Prismen Gebrauch zu machen. Schließlich schickte Büttner einen Boten mit dem resoluten Auftrag, Goethe so lange zu bedrängen, bis dieser die Prismen herausrücke. Das handfeste Mahnverfahren schien Erfolg zu zeigen, der Schuldner kramte die Kiste mit den Prismen hervor, wollte aber vor der Übergabe doch schnell noch einen Blick durch die optischen Geräte werfen. Zufälligerweise befand er sich in einem frisch geweißten Zimmer und ironischerweise hatte er die Newtonsche Beschreibung der prismatischen Versuche nur lückenhaft im Kopf, so dass er überrascht war, beim Blick durch das Glas auf die weiße Wand nicht die erwarteten Spektralfarben zu sehen. Erst als er die Blickrichtung änderte und das Prisma vor ein Fensterkreuz hielt, zeigten sich die Färbungen. Schlagartig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, „daß die Newtonische Lehre falsch sei“ (ebd., S. 259).

Die deutlichen Hinweise auf das Zufällige der Entdeckung haben ganz offensichtlich die Funktion, das Spontane, nicht kausal Ableitbare der Aperçus zu unterstreichen. Es handle sich, wie er an anderer Stelle schreibt, um „Erweckungen, Sinnesänderungen“. Denn das aperçuhafte „Gewahrwerden einer großen Maxime“ sei

immer eine genialische Geistesoperation; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. [...] Ein solches Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet, es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet im Augenblick. (HA 9, S. 98 f.)

Alle großen Entdeckungen haben dieses Moment des Zufälligen an sich.[9] Im Sinne des neurobiologischen Erklärungsmodells sind sie als instantane Potentialänderungen der Gehirnaktivität zu beschreiben, die durch das Schlagen einer neuen Nervenverbindung von einem inkohärenten in einen kohärenten Zustand übergeht. Und diese Harmonisierung unserer neuronalen Aktivität erzeugt das besagte Wohlgefühl.

Für Harmonisierung sorgt das Aperçu nach Goethe aber nicht nur innerhalb des Subjekts. Die intrapsychische Kohärenz ist für ihn zugleich ein Beleg für die zwischen Subjekt und Objekt. Dies ergibt sich aus dem Kontext unseres einleitenden Zitats über das Aperçu. Das „Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zugrundeliegt“ bezieht Goethe hier auf Galilei, von dem er sagt:

er führte die Naturlehre wieder in den Menschen zurück und zeigte schon in früher Jugend, daß dem Genie Ein Fall für tausend gelte (HA 14, S. 98)

Stefan Blechschmidt verweist diesbezüglich zu Recht auf Goethes Begriff der Totalität und führt aus:

In Goethes erkenntnistheoretischem Blickwinkel auf das Aperçu wird sich der Anschauende in seiner Naturanschauung als gleichermaßen lebendig und wachsend bewusst. Im Moment des blitzartig eintretenden Aperçus dringt der Anschauende zum Bewusstsein dieser Totalität der Natur durch, stellt also eine Einheit in der Mannigfaltigkeit der Phänomene her.[10]

Die Totalitätsperpektive einer Koinzidenz des eigenen Lebensgefühls mit der Lebendigkeit der Natur brachte Goethe in folgdenden Versen aus seinem Epirrhema-Gedicht zum Ausdruck:

Müsset im Naturbetrachten


Immer eins wie alles achten;


Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;


Denn was innen, das ist außen. (HA 1, S. 358)

In extremer Ausprägung finden wir das Gefühl der Verschmelzung von innerer und äußerer Natur bei meditierenden Mönchen. Hierfür machen manche Gehirnforscher ebenfalls das erwähnte Phänomen der Synchronizität verantwortlich: „Wenn alle Nervenzellen synchron schwingen,“ schreibt Ulrich Ott, „wird alles eins, man differenziert weder Subjekt noch Objekt.“[11] Ein weiterer Befund, der mit Hilfe der Computertomographie ermittelt wurde, passt gut dazu: Im Zustand der Meditation zeigte sich auf den Gehirnscans eine deutlich verminderte Aktivität im sogenannten Orientierungsfeld, einer Region im oberen Scheitellappen, die für die räumliche Wahrnehmung zuständig ist. Die Wissenschaftler interpretierten das so, dass das normale Alltagsbewusstsein einer „Grenze zwischen Selbst und Außenwelt“ aufgehoben und somit die für den Meditationszustand typische Wahrnehmung hervorgerufen werde, „daß das Selbst endlos und mit allem verbunden sei, was der Geist erfasst“[12].

Gewiss ist Goethes Naturanschauung nicht mit buddhistischer Meditation gleichzusetzen. Aber sie trägt kontemplative Züge. Und auch sie wird in Formulierungen beschrieben, die auf ein Außerkrafttreten räumlicher Orientierungen hinweisen. Den deutlichsten dieser Hinweise finden wir in der Mütterszene von Faust II. Auch hier geht es um ein Urphänomen, nämlich um Helena als anschauliches Urbild der Schönheit. Wie Faust zu diesem gelangen könne, beschreibt ihm Mephisto in dezidiert anti-topologischen Begriffen:

Ungern entdeck’ich höheres Geheimnis. –

Göttinnen thronen her in Einsamkeit,

Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;

Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.

Die Mütter sind es! (V. 6212–6216)

Zu ihnen müsse er herab- oder heraufsteigen, was auf das Gleiche hinausliefe:

Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! (V. 6275)

So wird Faust auf einen ortlosen Bereich verwiesen, der jenseits aller Anschauung liegt. Und wie wir wissen, wird ihm dieser Verstoß gegen Goethes Maxime „Man suche nur nicht hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre“ (HA 12, S. 432) schlecht bekommen. Aber an der Schwelle zum Mütterreich macht er eine Erfahrung, die sehr eng mit derjenigen verwandt ist, die wir nach Goethe im Angesicht der Urphänomene machen können: ihn „schaudert’s“ (V. 6217, vgl. V. 6272).

Diese Reaktion ist nicht unmittelbar einleuchtend, und so hat die Stelle schon viele Deuter gleich Faust in Verlegenheit gebracht. Als ich meine Studenten fragte, wie es zu erklären sei, dass Faust vor dem Gang zu den Müttern schaudert, herrschte zunächst angestrengtes Schweigen – bis endlich einer mit dem befreienden Kalauer aufwartete: „Vielleicht handelt es sich ja um Schwiegermütter!“ Damit freilich ist nicht zu vereinbaren, dass das Schaudern als „der Menschheit bestes Teil“ (V. 6272) charakterisiert wird. Wir müssen also diese Empfindung und ihre Ursache etwas ernsthafter betrachten.

Ihren engen Zusammenhang mit Goethes Naturanschauung erkennen wir in folgenden Formulierungen:

Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich ins Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten vermitteln. (HA 12, S. 367)

Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann […] ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze.[13]

Die Mischung aus Scheu und Staunen, von der Goethe hier spricht, hat zweifellos mit dem Schaudern Fausts an der Grenze der sichtbaren Welt zu tun. Goethe hätte es nicht als „der Menschheit bestes Teil“ bezeichnet, wenn es nicht mit jenem „Höchsten, wozu es der Mensch bringt“, dem Aperçu bzw. dem Höchsten des Staunens über die Urphänomene korrespondierte. Solange der Affekt des Schauderns ausgehalten, die Grenze nicht überschritten wird, signalisiert er die größtmögliche Intimität der Naturerfahrung. Deshalb lohnt es sich, diesem Affekt noch weiter auf den Grund zu gehen.

Etymologisch ist das Schaudern mit dem Schauern verwandt und bezeichnet die Empfndung, dass wir „erschüttert, in gliedern und haut bewegt werden“.[14] Diese Empfindung geht uns „durch und durch“, ähnlich dem Frösteln bei einem kühlen Regen-„Schauer“, aber im Sinne eines auch psychischen Erzitterns (tremere).[15] „Mich überläuft’s“ sagt Margarethe bei Fausts Liebesgeständnis, und er beschwichtigt: „O schaudre nicht!“ (V. 3187 f.).

Von einem mysterium tremendum spricht Rudolf Otto in seinem Hauptwerk Das Heilige, dem er die Verse aus der Mütterszene als Motto vorangestellt hat:

Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.

Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,

Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure. (V. 6272–6274)[16]

Nach seiner Deutung wird hier die leibliche Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Numinosen, rational nicht Fassbaren, angesprochen. Dass wir auch in der Naturbetrachtung dieser Dimension des Heiligen begegnen, geht aus Goethes Epirrhema-Gedicht hervor, wo es in Fortsetzung der bereits zitierten Verse heißt:

So ergreifet ohne Säumnis

Heilig öffentlich Geheimnis. (HA 1, S. 358)

Die für Goethe typische contradictio in adjecto „öffentlich Geheimnis“ scheint paradox, lässt sich aber just im Kontext der Faust-Verse auflösen, wenn wir das Ergriffensein durch das Ungeheure im Lichte der Psychoanalyse betrachten. Sigmund Freud hat darauf hingewiesen, dass das Unheimliche das Heimliche ist, das aus der Verborgenheit tritt.[17] Wir begegnen dem Unheimlichen also nicht als einem ganz Anderen, sondern im Gegenteil als einem Anteil unserer selbst, der an die Öffentlichkeit tritt. Diese Beobachtung stimmt mit der von uns schon hervorgehobenen überein, dass im Aperçu Selbst- und Naturerfahrung koinzidieren. Wenn uns angesichts der Urphänomene das Ungeheure, Unheimliche ergreift und erzittern lässt, fallen Außen- und Innenwahrnehmung in eins. Im Schaudern erfahren wir die Totalität der Natur am eigenen Leibe.

Dass uns die Urphänomene nach Goethe ins Staunen versetzen, hängt mit dem Schaudern aufs Engste zusammen. Denn der in der Mütterszene angesprochene Verlust raumzeitlicher Orientierung ist von jener Art des Taumels, der an das griechische Wort für das Staunen erinnert und schon nach Plato den Beginn aller Philosophie ausmacht: thaumazein.[18] Wir geraten ins Taumeln, wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen scheint. Aber gerade darauf müsen wir uns einlassen, wenn der Zufall der Inspiration durch ein Aperçu seine Chance bekommen soll.

Warum aber ermahnt uns Goethe immer wieder, auch mit der Mütterszene, die „Grenze des Schauens“ (HA 13, S. 368) nicht zu überschreiten? Warum sollen wir „die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen“[19] lassen? Hat der Kantianer Schiller nicht Recht, wenn er das für einen unnötigen Verzicht auf transzendentale Erkenntnis hält und Goethes „Resignation in die fünf Sinne“[20] moniert? Demgegenüber stellt Goethe klar:

Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums. (HA 12, S. 367)

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Goethe sagt, ein Aperçu sei „das Höchste, wozu es der Mensch bringt“ und fortfährt: „weiter bringt er es nicht“.[21]

Aus dieser Position ergibt sich aber ein anderes Problem: Wenn wir in der Anschauung, und sei es schaudernd, die Gernze des Erfahrbaren ansetzen, die diskursive Argumentation also nicht zur höchsten Urteilsinstanz machen – wie können wir dann entscheiden, ob ein Aperçu der Wahrheit entspricht?

Goethe war sich dieses Problems durchaus bewusst. Er spricht Newtons Theorie der Farbentstehung aus einer Brechung des weißen Lichts auch gar nicht ab, ein Aperçu zu sein. Aber es sei eben ein „falsches Aperçu“ (HA 14, S. 153).

Doch woran erkennt man ein falsches Aperçu? Goethe zufolge kann dies nicht auf dem Wege einer diskursiven oder gar mathematischen Beweisführung geschehen. Wir erinnern uns an die berühmten Maximen aus Makariens Archiv:

Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.

Ebenso ist es mit dem Berechnen. – Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen lässt, sowie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen lässt. (HA 12, S. 458)

Als Schiedsinstanz über richtige oder falsche Aperçus bleibt dann nur noch das ästhetische Sensorium eines Menschen, was Goethe interessanterweise just an einem Bereich verdeutlicht, auf dem er nicht seine größten Kompetenzen hat:

Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, dass sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers; ja man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muss, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können. (Ebd.)

Dass er sich damit der wissenschaftlichen Konvention des diskursiven Arguments verschließt, ist ihm durchaus bewusst. Er hält es aber für unvermeidlich:

Ein ... Aperçu, ein solches Gewahrwerden, Auffassen, Vorstellen, Begriff, Idee, wie man es nennen mag, behält immerfort, man gebärde sich wie man will, eine esoterische Eigenschaft; im ganzen läßt sich's aussprechen, aber nicht beweisen, im einzelnen läßt sich's wohl vorzeigen, doch bringt man es nicht rund und fertig. (WA II.8, S. 135 f.)

Damit hat Goethe sich freilich angreifbar gemacht, und wir müssen feststellen, dass er im Feld der neuzeitlichen Naturwissenschaft den Angriffen erlegen ist. So hat man ihm selbst vorgeworfen, was er zur Charakterisierung des falschen Aperçus heranzog:

Und bemerken wir nicht im Leben, in manchen andern Fällen: wenn wir ein falsches Aperçu, ein eigenes oder fremdes, mit Lebhaftigkeit ergreifen, so kann es nach und nach zur fixen Idee werden und zuletzt in einen völligen partiellen Wahnsinn ausarten, der sich hauptsächlich dadurch manifestiert, dass man nicht allein alles einer solchen Vorstellungsart Günstige mit Leidenschaft festhält, alles zart Widersprechende ohne weiteres beseitigt, sondern auch das auffallend Entgegengesetzte zu seinen Gunsten auslegt. (HA 14, S. 153)

Das war auf Newton gemünzt. Aber muss Goethe sich nicht die Frage gefallen lassen, ob er selbst jenem Starrsinn erlegen ist? Über seine Bemühungen zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungart bekennt er ja gar nicht unähnlich:

Ein entschiedenes Aperçu ist wie eine inokulierte Krankheit anzusehen: man wird sie nicht los, bis sie durchgekämpft ist. (Ebd., S. 263 f.)

Und er gibt auch unumwunden zu, dass er „in dem Streit gegen die Newtonische Lehre manchmal aus den Grenzen der Gelassenheit herausgeschritten“ sei (ebd., S. 177). Eckermann wird von ihm gar einmal als „Ketzer“ beschimpft, als dieser ihm Gedanken vorträgt, die von seiner Farbelehre abweichen.[22] Wenn er also das Falsche an Newtons Aperçu daran festmacht, dass es ein „erstarrtes Aperçu“ sei und dieses wiederum darauf zurückführt, dass „Newtons Charakter [...] unter die starren“ zu rechnen sei (HA 14, S. 173), so verwendet er eine Beweisführung, die in der Wissenschaft als Tabu gilt: die Argumentation ad hominem. Diese wird nicht nur als moralisch verwerflich angesehen, sondern rangiert unter den Fehlschlüssen.[23] Und in der Tat ist es ja unangemessen, eine wissenschaftliche Hypothese damit widerlegen zu wollen, dass man die Persönlichkeit ihres Vertreters diskreditiert. Begibt sich Goethe nicht zwangsläufig in diese Sackgasse, wenn er fordert, die Experimente nicht vom Menschen abzusondern und sich stattdessen auf dessen „gesunde Sinne“ zu verlassen?

Solange wir diese Frage allein aufgrund der Logik von Aussagen entscheiden wollten, kämen wir aus dem genannten Dilemma nicht heraus, das Postulat einer menschengerechten Naturwissenschaft mit Argumenten ad hominem verteidigen zu müssen und damit in Misskredit zu bringen. Das entscheidende Kriterium des wahren Aperçus liegt aber nicht auf der Ebene der Aussagenlogik, sondern derjenigen der praktischen Erfahrung:

Mit der Farbenlehre ist es wie mit dem Whistspiel; man lernt nie aus, muß es aber beständig spielen, um weiter zu kommen. Es läßt sich nur darin tun, nicht überliefern, nicht lehren.[24]

Es ist also weder möglich noch nötig, die Wahrheit eines Aperçus abschließend zu beweisen. Worauf es ankommt ist vielmehr, beständig im Spiel zu bleiben und durch das eigene Tun seine Übereinstimmung mit der Lebenswirklichkeit zu erfahren. Goethe kämpfte deshalb so beharrlich um die Anerkennung seiner Farbenlehre, weil ihm daran lag, „in irgendeinem Geiste das Aperçu hervorzurufen, das in dem meinigen so lebendig gewirkt hatte“. (HA 14, S. 263 f.)

Dies ist ihm zweifellos gelungen, auch wenn der Gang des naturwissenschaftlichen Fortschritts eine ganz andere Richtung angenommen hat. Dessen destruktive Folgen sorgen von sich aus für Gegenbewegungen, die in Goethes Begriff des wahren Aperçus eine vertrauenswürdige Orientierungshilfe haben. Diese Vertrauenswürdigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich uns durch leibliche Erfahrungen vermittelt: zunächst durch das Schaudern an der Grenze des Intelligiblen, dann durch die Freude der spontanen Einsicht und schließlich durch den leideschaftlichen Wunsch, den Funken der eigenen Inspiration auf andere überspringen zu lassen. Ein Wissenschaftler, der im Alter auf solche Erfahrungen mit Aperçus zurückblicken kann, hat wahrhaft das Höchste erreicht.



[1] An Wilhelm v. Humboldt, 1.12.1831; HAB 4, S. 463.

[2] Zuletzt in Blechschmidt, Stefan: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte; Heidelberg 2009, S. 182–191.

[3] Witte, Bernd / Buck, Theo / Dahnke, Hans-Dietrich / Otto, Regine / Schmidt, Peter (Hg.): Goethe-Handbuch; Stuttgart 1996 ff.

[4] Gespräch mit Riemer vom 20.5.1819. In: Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Frhrn. von Biedermann ergänzt und hg. v. Wolfgang Herwig; 5 Bde. (in 6) München 1998, Bd. 3.1, S. 117.

[5] Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden; Leipzig 2001, Bd. 1, S. 699.

[6] Goethe-Wörterbuch im Internet. http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/gwb/wbgui?mode=hierarchy&textsize=600&lemid=JA03835 (1.4.2010).

[7] Ricard, Matthieu / Singer, Wolf: Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog; Frankfurt am Main 2008, S. 104.

[8] Ebd.

[9] Vgl. die zahlreichen Fallschilderungen in Zankl, Heinrich: Die Launen des Zufalls. Wissenschaftliche Entdeckungen von Archimedes bis heute; Darmstadt 2002.

[10] Blechschmidt a.a.O., S. 185.

[11] Kraft, Ulrich: Mönche in der Magnetröhre. In: Süddeutsche Zeitung vom 23.3.2005. – Online: http://www.sueddeutsche.de/wissen/444/325309/text/  (1.4.2010).

[12] Newberg, Andrew / d’Aquili, Eugene / Rause, Vince: Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht; München 2004.

[13] Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. v. Fr. Bergemann; Leipzig 1968. Gespräch vom 18.2.1829, S. 288 f.

[14] Grimm, Jakob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch; 33 Bde. München 1984, Bd. 14, Sp. 2307.

[15] Vgl. ebd., Sp. 2306.

[16] Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen; 26.–28. Aufl. München 1947, S. 5.

[17] Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Studienausgabe Bd. IV;  7. Aufl. Frankfurt am Main 1970, S. 241–275.

[18] Vgl. Martens, Ekkehard: Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier; Leipzig 2003.

[19] Ebd.

[20] An Körner, 12.8.1787. SNA 24, S. 131.

[21] Gespräch mit Riemer vom 20.5.1819. A.a.O.

[22] Eckermann, Gespräch vom 19.2.1829, a.a.O., S. 296.

[23] Vgl. Walton, Douglas: Ad hominem arguments; Tuscaloosa, Alabama 1998.

[24] Müller, Friedrich von: Unterhaltungen mit Goethe; München 1982. Gespräch vom 23.9.1827, S. 174.