Peter Matussek

Real Virtuality. Über Sein und Schein in medienästhetischer Hinsicht

 


In: mediazine 17 (2009), S. 39–44.



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Ein charakteristisches Merkmal der Computertechnik ist die Simulation vormals materialgebundener Prozesse. Immer mehr Lebensvollzüge, vom Bowling mit Wii Sport bis zur globalen Geldwirtschaft, stützen sich auf das „virtuelle“ Dasein von Objekten. Angesichts dieser Tendenz scheint die Frage berechtigt, ob die Medienkunst, da sie ja selbst mit Simulationstechniken operiert, überhaupt noch einen Wahrheitsanspruch aufrecht erhalten kann. Nicht selten wird diese Frage heute negativ beantwortet. So auch von Paul Virilio, der in seinem neuen Buch Die Verblendung der Kunst (2008) der zeitgenössischen Ästhetik vorwirft, am gesellschaftlichen Trend zur Entwirklichung zu partizipieren. Wo alle Substanzialität sich digital verflüchtige, könne die Kunst einen Widerpart nur dadurch bilden, dass sie sich auf stoffliche Qualitäten gründet. Ich möchte im folgenden eine positive Antwort auf die Wahrheitsfrage geben. Dabei lege ich eine medienästhetische Perspektive zugrunde. Das Kompositum „Medienästhetik“ ist abgeleitet aus dem lateinischen Wort für „das Mittlere, Vermittelnde“ und dem griechischen Wort für „Wahrnehmung“ (Aisthesis). Die Medienästhetik beschäftigt sich demnach mit den Vermittlungsformen unserer Wahrnehmung. Diese Vermittlungsformen können natürlicher Art sein – so ist etwa unser Gehirn in höchst komplexer Weise Vermittler zwischen Sinnesreizen und der Identifikation von Objekten. Und sie können technischer Art sein – zum Beispiel, wenn Netzhauteindrücke durch optische Geräte verstärkt oder manipuliert werden. Beides, die natürliche und die technische Vermittlung von Wahrnehmungsobjekten hat stets zusammengespielt, seit der erste Mensch ein Schilfrohr vor sein Auge gehalten hat, um schärfer sehen zu können. Marshall McLuhan spricht diesbezüglich von „Ausweitungen“ (Extensions) der menschlichen Sinne durch technische Medien. Obwohl es die technischen Wahrnehmungsprothesen schon seit langem gibt, neigen wir doch dazu, mit der Computerrevolution eine Zäsur anzusetzen, die etwas Neues ins Spiel bringt: die Simulation künstlicher, für die sich der Terminus „Virtual Reality“ eingebürgert hat. Dieser Sprachgebrauch indessen ist ungenau. Indem er den Begriff der virtuellen Realität mit dem der Simulation gleichsetzt, produziert er ein Missverständnis. Und da dieses unsere medienästhetische Wahrheitsfrage im Kern berührt, müssen wir es genauer unter die Lupe nehmen. Simulierte und virtuelle Realitäten Das Adjektiv „virtuell“ bedeutet im eigentlichen Wortsinn „der Möglichkeit nach“. Der Begriff der „virtuellen Realität“ ist daher streng genommen ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adjecto. Denn eine realisierte Möglichkeit hört auf, eine bloße Möglichkeit zu sein; sie ist nicht länger virtuell. Von Virtualität können wir also nur solange sprechen, wie sie nicht realisiert ist. Simulationen dagegen sind realisierte Möglichkeiten. Auch wenn das von ihnen Dargestellte keine materielle Substanz besitzt, ist es doch als technisches Konstrukt real. Für die medienästhetische Wahrheitsfrage ist diese Differenzierung wichtig, weil sie nur dann positiv beantwortet werden kann, wenn eine künstlerische Arbeit unser Sensorium für Möglichkeiten öffnet, die über bereits Realisiertes hinausgehen. Menschen verfügen, wie der Schriftsteller Robert Musil es formulierte, nicht nur über einen „Wirklichkeitssinn“, der sie dem Realitätsprinzip gehorchen lässt, sondern auch über einen „Möglichkeitssinn“, der sich andere Formen des Daseins vorstellen kann. Virtualität in dem oben erläuterten Sinn gibt es natürlich nicht erst im Zeitalter der Simulationsmedien, sondern steht seit je für alles, was wir im engeren Sinne als „ästhetisch“ bezeichnen: das Scheinhafte, Auratische, nur der Imagination Zugängliche und so weiter. Da das Wort aber nun einmal im heutigen Sprachgebrauch mit dem der Simulation gleichgesetzt wird, spreche ich im Folgenden von „Virtual Reality“ bzw. VR, wenn Computersimulationen gemeint sind, und von „Real Virtuality“ bzw. RV, wenn unser Möglichkeitssinn angesprochen wird. Mit dieser Begriffsklärung können wir nun unsere Eingangsfrage präziser stellen: Bedroht VR, als eine gegenüber den Analogmedien erweiterte Realisierung von Möglichem, den Spielraum von RV? Oder lässt sie sich so gestalten, dass sie trotz ihrer immanenten Tendenz zur Verwirklichung des vormals Imaginären neue Möglichkeitsdimensionen eröffnet, die dieser Tendenz entragen? Die besondere Herausforderung aller Gegenwartskunst, die mit VR-Technologien arbeitet, lautet mithin: Sie muss Szenarien entwickeln, die unserem durch Computersimulationen erweiterten Wirklichkeitssinn Rechnung tragen und ihn gleichwohl transzendieren. Die Komplexität der Aufgabe besteht just darin, dass die erweiterte Konstruierbarkeit von Realitäten durch digitale Medien den Bereich des Unkonstruierbaren, nur Vorstellbaren, also im eigentlichen Sinne Virtuellen, schmälert. Wie es dennoch gelingen kann – und in entsprechender Weise immer wieder gelingt – möchte ich an einem exemplarischen Werk der Medienkunst demonstrieren. Memory Theater VR [Abb. 1: Konstruktionsskizze des Memory Theater VR. © Agnes Hegedüs 1997.] Die Installation Memory Theater VR, die Agnes Hegedüs 1997 für das ZKM Karlsruhe erstellte, besteht aus einer hölzernen Rotunde von 8 Metern Druchmesser, deren Inneres als Projektionsfäche für computergenerierte Bilder dient. Innerhalb der Rotunde befinden sich ein Sockel sowie ein kleines Modell der Rotunde aus Plexiglas. Durch horizontale und vertikale Bewegungen einer 3-D-Maus innerhalb der Plexiglasrotunde übermittelt der Besucher die Koordinaten der Bildsteuerung an die Projektoren. Die Interieurs, die auf die Innenwand der Rotunde projiziert werden, kreieren verschiedene „Rooms“ aus Versatzstücken der (Vor-)Geschichte der „Virtual Reality“. [Abb. 2: Memory Theater VR, Fludd’s Room. © Agnes Hegedüs 1997.] In „Fludd’s Room“ zum Beispiel sehen wir an exponierter Stelle einen Affen, der aus Robert Fludds Kosmologie entlehnt ist und das Prinzip der menschlichen Naturnachahmung – das „Nachäffen“ – symbolisiert (Abb. 2). Des weiteren sehen wir einen Spiegelzylinder, der eine barocke anamorphotische Zeichnung einfängt, wir sehen ein Regal mit der Aufschrift „HOBERMAN“, das Utensilien aus Perry Hobermans Installation Bar Code Hotel enthält, daneben ein Regal mit Anspielungen auf die Neokosmologien von Matt Mullican, und so weiter – kurz: wir sehen eine Konstellation historischer und zeitgenössischer Werke, die in der Tradition der Wunderkammern und insbesondere der Gedächtnistheater stehen. Kennzeichnend für die historischen Gedächtnistheater, auf die schon der Werktitel der Installation anspielt, ist die Darbietung der Memorabilia in allegorisch verschlüsselten und kombinatorisch aufeinander bezogenen Bildern. Damit sollte der Rezipient zu Imaginationsprozessen veranlasst werden, die ihn sich als mentalen Schöpfer des Kosmos erfahren lassen, so wie Gott die Welt aus seinem Gedächtnis heraus erschuf. Hinsichtlich der Darstellungstechnik und ihrer Inhalte bewegt sich Agnes Hegedüs im Rahmen der „Virtual Reality“. Indem sie aber dieser eine Form gibt, die auf das Situationserleben des Rezipienten zurückwirkt, transzendiert sie diesen Rahmen. Das geschieht zum einen durch die Schaffung von Rezeptionsanlässen, die denen der Gedächtnistheater-Tradition ähneln, und zum anderen durch Bezugnahmen des simulierten Raums auf den Realraum. So wird etwa die sensomotorische Koordination zwischen den Bewegungen, die der Besucher mit der 3-D-Maus innerhalb des Rotundenmodells ausführt und den projizierten Bewegtbildern durch die Veranlassung von Körperdrehungen als eigenleibliche Erfahrung spürbar, statt – wie es bei kommerziellen VR-Installationen angestrebt wird – den Rezipienten ganz in der sensomotorischen Identifikation mit dem Gesehenen selbstvergessen aufgehen zu lassen. Die Bildinhalte wiederum greifen die Architektur des Realraums – die Dachkonstruktion des Museums, den Sockel innerhalb der Rotunde – auf. Durch diese Referenzierung des Realraums innerhalb seiner eigenen Projektion wird er selbst als Projektion thematisch. Die Selbstreferenz veranlasst den Rezipienten , seine natürliche Umgebung in Analogie zu den technisch konstruierten Simulationen auf der Rotundenwand zu betrachten, sie also ihrerseits als Konstruktionen anzusehen. Und wenn er sich auf die Reflexion des Phänomens einlässt (etwa, weil er ein Student oder eine Studentin der Siegener Medienwissenschaft ist), wird er es mit der Einsicht verknüpfen, dass unser Wahrnehmungsapparat nicht anders als die VR-Technik mit Simulationen arbeitet. Was die Neurowissenschaften heute Erstaunliches über die Konstruktionsleistungen unseres Gehirns publizieren, gehört im Grunde zum ältesten Erfahrungswissen der Menschheit. Platon hat es in seinem Höhlengleichnis kaum anders vermittelt als Hegedüs in ihrem Memory Theatre VR: Er setzte unsere natürliche Weltwahrnehmung in Analogie zum Schattenspiel auf einer Höhlenwand, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Alltagsrealität ebenso auf Projektionen beruht, die nach ganz bestimmten Mechanismen funktionieren. Modern ausgedrückt: Unser Wirklichkeitssinn arbeitet selbst mit einer Art VR-Technik, er simuliert eine Realität, die es so, wie sie uns erscheint, nicht gibt. Wir wissen das, und trotzdem handeln und urteilen wir in der Regel so, als wäre die Welt, wie wir sie sehen, hören und ertasten, objektiv gegeben und nicht etwa ein Produkt unserer Wahrnehmungen, die immer auch von Erinnerungen und Vorahnungen geprägt sind, unabhängig von deren Triftigkeit im konkreten Fall. Mit anderen Worten: Wir verlassen uns wider besseres Wissen auf unseren Wirklichkeitssinn und verkennen, dass dieser uns nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten präsentiert, wie die Welt interpretiert werden kann. Die Installation von Agnes Hegedüs zeigt uns beispielhaft, wie dagegen unser Möglichkeitssinn ins Spiel gebracht werden kann: nicht etwa schon dadurch, dass wir Virtual Reality-Szenarios als solcheentwerfen – diese können auch nur Wirklichkeiten simulieren –, sondern dadurch, dass wir Virtual Reality-Szenarios entwerfen, die uns modellhaft vor Augen führen, wie unselbstverständlich, im eigentlichen Sinne virtuell das ist, was wir für die Realität halten. Auf diese Weise kann Medienkunst Virtual Reality zum Index von Real Virtuality machen. Real Virtuality ist als solche nicht darstellbar, denn es handelt sich dabei um Imaginationen, was nicht mit Fiktionen zu verwechseln ist. Dergleichen verbindlich rekonstruieren zu wollen, hieße das entscheidende Chrakteristikum der Virtualität preiszugeben. Gleichwohl gibt es einen Indikator für dessen ästhetische Erfahrung. Leibliche Präsenzerfahrung als Merkmal authentischer Virtualität Wenn wir durch ein konventionell gestaltetes VR-Szenario navigieren – etwa als Pilot in einem Flugsimulator –, führt dies in der Regel zu einem Immersionserlebnis: Wir tauchen in die künstliche Welt ein und erleben die Bildbewegungen auf dem Display als Reaktionen auf Bewegungen unseres Körpers – nicht unseres eigenen Körpers, sondern dessen Repräsentationsinstanz innerhalb des Szenarios. Ermöglicht wird dies durch einen Mechanismus unseres Gehirns, die sensomotorische Koordination. Dabei leitet der visuelle Kortex Netzhauteindrücke, die den Bewegungen des Subjekts im Raum hinreichend ähnlich sind, über eine spezielle Nervenbahn an den für Bewegungswahrnehmung zuständigen motorischen Kortex weiter, wo sie als tatsächliche Eigenbewegung interpretiert werden. Dies geschieht automatisch, auch dann, wenn wir eigentlich wissen, dass wir uns unverändert an einem Ort befinden. Voraussetzung hierfür wiederum ist, dass unsere Aufmerksamkeit von der realen Situation, in der sich unser Körper befindet, so weit abgelenkt ist, dass die neuronale Informationsverarbeitung der subjektiven Bewegung mit derjenigen des tatsächlichen physischen Stillstands nicht interferiert. Zum Funktionieren der sensomotorischen Koordination mit einer Virtual Reality gehört also, dass unser Bewußstein der eigenen leiblichen Präsenz weitgehend ausgeschaltet ist. Ein solcher Bewußtseinszustand kann für die Erfahrung von Real Virtuality nicht empfänglich sein, da das Subjekt Imaginationen (sofern diese nicht ohnehin durch die Darbietungen auf dem Display unterbunden sind) nicht als seine Imaginationen erlebt. Erst wenn das visuelle Kontinuum der simulierten Eigenbewegung unterbrochen wird – sei es durch einen Systemfehler des Simulators oder durch eine ästhetische Derealisierung der Bewegungsdarbietung (eine Diskontinuität im Ablauf, eine Verfremdung ins Unwahrscheinliche o. ä.) – kehrt die Aufmerksamkeit des Subjekts zurück zur eigenen Realsituation, zurück zum eigenleiblichen Spüren der soeben noch automatisch vollzogenen sensomotorischen Koordination. Ein einfaches, aber überzeugendes Beispiel für solche Bewegungsunterbrechungen, die eine automatisierte Körperwahrnehmung in das Erleben leiblicher Präsenz transformieren können, bietet die Installation Medienfluss von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss (Abb. 3). [Abb. 3 – Installation Medienfluss. © Fleischmann/Strauss 2006] Der User sieht auf dem Screen Text- und Bildelemente aus einer großen Datenbank zur Netztheorie und -kunst wie Treibgut vorbeiziehen und kann mittels Pointer einzelnes davon „herausgreifen“, um Detailinformationen abzurufen. Dabei ist die Flussbewegung derart suggestiv, dass der Kontrasteffekt mit dem Stillstand der angeklickten Objekte in der beschriebenen Weise prägnant erfahrbar wird. Unter Umständen kann also die „schwierige Herausforderung an die Medienkunst“, von der zuvor die Rede war, in ganz einfachen Installationen realisiert werden. Worauf es ankommt, ist ein feines Gespür für habituell gewordene Wahrnehmungssituationen – hier: das Navigieren im Internet, das normalerweise von einer Vielzahl automatisch, körperlich unbewusst vollzogener Mausklicks begleitet wird. Indem diese in ungewöhnliche Darbietungsformen überführt werden – hier: statt der unbewussten Aktivität des Aufsuchens, das passive Vorbeigleitenlassen von Informationen in leiblicher Präsenz – eröffnet sich die Dimension realer Virtualität. In ihm liegt die Wahrheit der Medienkunst. Und hier endet der Bereich des Darstellbaren.