Peter Matussek

Real Virtuality – Die Wahrheit der Entwirklichung.

 


In: Breszek, Thea / Greisenegger, Wolfgang / Wallen, Lawrence (Hg.): Space and Truth – Raum und Wahrheit (=Monitoring Scenography 02); Zürich 2009, S. 206–215.

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Ein charakteristisches Merkmal der Computertechnik ist die Simulation vormals materialgebundener Prozesse. Immer mehr Lebensvollzüge, vom Bowling mit Wii Sport bis zur globalen Geldwirtschaft, stützen sich auf das „virtuelle“ Dasein von Objekten. Angesichts dieser Tendenz scheint die Frage berechtigt, ob die Medienkunst, sofern selbst mit der Simulationstechnik operiert, überhaupt noch einen Wahrheitsanspruch aufrecht erhalten kann.
Nicht selten wird diese Frage heute negativ beantwortet. So auch von Paul Virilio, der in seinem neuen Buch Die Verblendung der Kunst (frz.: L’Art a perte de vue ) der zeitgenössischen Ästhetik vorwirft, am gesellschaftlichen Trend zur Entwirklichung zu partizipieren. Wo alle Substanzialität sich digital verflüchtige, könne die Kunst einen Widerpart nur dadurch bilden, dass sie sich auf stoffliche Qualitäten gründet.
Ich möchte im folgenden eine positive Antwort auf die Wahrheitsfrage geben. Dabei lege ich eine medienästhetische Perspektive zugrunde.
Das Kompositum „Medienästhetik“ ist abgeleitet aus dem lateinischen Wort für „das Mittlere, Vermittelnde“ und dem griechischen Wort für „Wahrnehmung“ (Aisthesis). Die Medienästhetik beschäftigt sich demnach mit den Vermittlungsformen unserer Wahrnehmung. Diese Vermittlungsformen können natürlicher Art sein – so ist etwa unser Gehirn in höchst komplexer Weise Vermittler zwischen Sinnesreizen und der Identifikation von Objekten. Und sie können technischer Art sein – zum Beispiel, wenn Netzhauteindrücke durch optische Geräte verstärkt oder manipuliert werden. Beides, die natürliche und die technische Vermittlung von Wahrnehmungsobjekten hat stets zusammengespielt, seit der erste Mensch ein Schilfrohr vor sein Auge gehalten hat, um schärfer sehen zu können. Marshall McLuhan spricht diesbezüglich von „Ausweitungen“ (Extensions) der menschlichen Sinne durch technische Medien.
Obwohl es solche technischen Wahrnehmungsprothesen also schon seit langem gibt, neigen wir doch dazu, mit der Computerrevolution eine Zäsur anzusetzen, die etwas Neues ins Spiel bringt: die Simulation künstlicher Welten ohne jede materielle Grundlage, für die sich der Terminus „Virtual Reality“ eingebürgert hat. Dieser Sprachgebrauch indessen ist ungenau. Indem er den Begriff der virtuellen Realität mit dem der Simulation gleichsetzt, produziert er ein Missverständnis. Und da dieses unsere medienästhetische Wahrheitsfrage im Kern berührt, müssen wir es genauer unter die Lupe nehmen.

Simulierte und virtuelle Realitäten
Das Adjektiv „virtuell“ bedeutet im eigentlichen Wortsinn „der Möglichkeit nach“. Der Begriff der „virtuellen Realität“ ist daher streng genommen ein Widerspruch in sich, genauer: eine contradictio in adjecto. Denn von einer Realität kann ich nicht aussagen, dass sie nur möglicherweise existiere; sonst wäre sie ja keine Realität. Simulationen dagegen repräsentieren durchaus Wirklichkeiten. Auch wenn sie keine materielle Substanz besitzen, handelt es sich doch um – auf dem Computerscreen, in einer CAVE oder dergleichen – realisierte, nicht bloß imaginäre Möglichkeiten.
Für die medienästhetische Wahrheitsfrage ist diese Differenzierung wichtig, weil sie nur dort positiv beantwortet werden kann, wo eine künstlerische Arbeit unser Sensorium für Möglichkeiten öffnet, die jenseits der Realisierungen liegen, die wir vor Augen haben. Der Schriftsteller Robert Musil spricht diesbezüglich von einem „Möglichkeitssinn“, den er dem „Wirklichkeitssinn“ der Alltagswahrnehmung gegenüberstellt. Virtualität, in diesem etymologisch korrekten Verständnis des Wortes, gibt es natürlich nicht erst im Zeitalter der Simulationsmedien, sondern betrifft seit je, was wir im engeren Sinne als „ästhetisch“ bezeichnen: das Scheinhafte, Auratische, nur der Imagination Zugängliche. Da aber nun einmal der Begriff des Virtuellen im heute geläufigen Sprachgebrauch mit dem der Simulation gleichgesetzt wird, spreche ich im Folgenden von „Virtual Reality“ bzw. VR, wenn Computersimulationen gemeint sind, und von „Real Virtuality“, wenn es um jenen Möglichkeitssinn geht.
Damit lässt sich nun näher bestimmen, worin die medienästhetische Zäsur der Computermoderne eigentlich besteht: Nicht in der Simulation künstlicher Realitäten; denn die gibt es schon lange – man denke etwa die Zentralperspektive der Renaissance, die trompe l’œil-Effekte des Barock, die Laterna Magica des 18., das Diorama des 19. und das Kino des 20. Jahrhunderts. Neuartig sind vielmehr die Herausforderungen an die Künstler, mittels VR-Technik das Phänomen der „Real Virtuality“ zur Erscheinung zu bringen.
Historisch Neues erkennen wir erst, wenn wir das Alte identifiziert haben, von dem es sich abhebt. Und so werde ich zunächst auf eine antike Simulationstechnik zu sprechen kommen, um danach ein Werk der zeitgenössischen Medienkunst vor diesem Hintergrund zu analysieren.

In Platons Höhle
Mit seinem Höhlengleichnis hat Platon ein Gedankenexperiment geschaffen, das seinen Ausgangspunkt in einem „Virtual Reality“-Szenario avant la lettre hat. Er legt Sokrates folgende Schilderung in den Mund:
Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. […] Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen.“
Die Höhlenbewohner, führt Sokrates weiter aus, müssen das Schattenspiel als Realität schlechthin wahrnehmen, da sie in ihrer Fesselung nicht sehen können, dass es bloß auf einer Projektionstechnik beruht.
Verständlicherweise erfährt das Gleichnis in jüngerer Zeit zahlreiche Neu-Interpretationen, die darin eine Vorwegnahme der Rezeptionsbedingungen von Bildschirmmedien erkennen. Auch wir sitzen demnach in einer „Medienhöhle“ , den Lichtspielen von Computer- und TV-Screens ausgeliefert. Die Deutungen variieren allerdings hinsichtlich der Konsequenzen, die sie aus unserem Medienöhlen-Dasein ziehen. Sie lassen sich in eine Pessimisten- und eine Optimistenfraktion aufteilen.
Die Pessimistenfraktion betont das Gefesseltsein der Höhlenbewohner und überträgt es auf die „fesselnde“ Wirkung der Bildschirmmedien. Diese, so heißt es, ziehen uns in ihren Bann, wir können nicht mehr abschalten und gewöhnen uns immer mehr daran, die Simulacren für realer zu halten als die Wirklichkeit.
Die Fraktion der Optimisten hält sich dagegen an den Fortgang der Gleichnisses, in dem es ja einem Höhlenbewohner gelingt, sich freizumachen und die Scheinwirklichkeit als Effekt einer Projektionstechnik zu durchschauen. Übertragen auf unsere Mediengesellschaft bedeutet dies, sich von der Macht der Televisionstechnik dadurch zu befreien, dass man sich zum Beobachter zweiter Ordnung macht und die Bildschirmmedien mit ihren eigenen Mitteln kritisiert. Hierfür bräuchte man noch nicht einmal die Medienhöhle zu verlassen.
So berechtigt beide Lesarten im Einzelnen sind, verfehlen sie doch die eigentliche Pointe Platons. Denn der Gleichnischarakter der Höhlenschilderung besteht ja gerade in der Aussage, dass bereits unsere natürliche Wahrnehmung eine Konstruktion ist. Wir sitzen schon vor aller Einführung technischer Medien in der Höhle unserer mentalen Vorstellungen von der Welt. Um aus dieser Höhle herauszukommen, müssen wir die Konstruktionsleistungen unserer natürlichen Wahrnehmung als einen Vorgang durchschauen, der wie ein Projektionsapparat funktioniert. Wenn dagegen Platons Gleichnis so gelesen wird, als ginge es nur um die Befreiung von den Suggestionen technischer Medien, wird dessen eigentliche Intention gar nicht verstanden.
Worum es tatsächlich geht, sei mit dem in Abb. 1 gezeigten Schema verdeutlicht.
[Abb. 1 – Bildunterschrift: Schema zu Platons Höhlengleichnis. Unter Verwendung einer Abb. Aus dtv-Atlas zur Philosophie, Frankfurt am Main 1991, S. 40.]
Wir sehen in der oberen Hälfte des Bildes die Wirklichkeit W als Projektionsvorgang dargestellt, bei dem das Sonnenlicht Abbilder von Gegenständen auf eine Fläche wirft. Dieselbe Struktur finden wir in der Höhlenrealität W’. Durch die Analogiebeziehung W?W’ bringt Platon zum Ausdruck, dass die Wahrnehmungen unserer natürlichen Sinnesmedien ebenso kritisch zu hinterfragen sind wie die Darbietungen, die das technische Medium des Schattenspiels in der Höhle produziert. Wir sollen erkennen, dass W eine Konstruktion ist, die auf analoge Weise zustande kommt wie W’.
Damit wird nicht nur ausgesagt, dass beide Wirklichkeitsebenen scheinhaft sind, sondern zugleich, dass das technische Medium in W’ ein brauchbares Modell für die Funktion der natürlichen Medialität in W ist. Solche Modelle unterliegen freilich historischen Wandlungen. Waren zu Platons Zeit Schattenspiele paradigmatisch, um die Funktion einer Projektionstechnik zu erklären, so sind es heute animierte 3-D-Visualisierungen. In diesem Sinne kann eine Szene aus Craig Bierkos The 13th Floor als modernisierte Variante eines Aufstiegs aus Platons Höhle gesehen werden: Der Protagonist, Programmierer einer „Virtual Reality“, bekommt Zweifel an seiner eigenen Realität, nachdem er entdeckt hat, dass ein Bewohner der von ihm geschaffenen Scheinwelt an deren Darstellungsgrenzen vorgedrungen ist. Er steigt in sein Auto und fährt unter Missachtung aller Verkehrsschilder, die ihn aufhalten sollen, immer weiter, bis er plötzlich das in Abb. 2 gezeigte Szenario vor Augen hat.
[Abb. 2 – Bildunterschrift: Filmstill aus The 13th Floor]
Entscheidend für die geistige Verarbeitung eines solchen Derealisierungsvorgangs ist bei diesem Protagonisten wie bei Platons Gefangenem, der seine Höhle verlässt, dass sie zuvor ein Modell kennenglernt haben, nach dem künstliche Realitäten erzeugt werden. Unsere Erkenntnisse über die Funktionsweise mentaler Prozesse sind also stets in Abhängigkeit von solchen modellhaften Vergleichen mit dem jeweils aktuellen Entwicklungsstand technischer Medien zu sehen. In der Anfangsphase der Computertechnik etwa wurde das menschliche Gedächtnis als storage and retrieval-System erklärt – mit entsprechenden Konsequenzen für die historisch-anthropologische Forschung. Erst im Zuge animierter Datenpräsentation hat sich dann das Performativitätsmodell in den Neurowissenschaften durchgesetzt.
Wir können mithin als eine gültig gebliebene Erkenntnis Platons festhalten, dass wir immer Produktionsregeln einer künstliche Wirklichkeit W’ kennen müssen, um unsere natürliche Wahrnehmung in W zu erklären. So kann auch der befreite Höhlenbewohner, der bei seiner Ankunft in W zunächst völlig orientierungslos ist, sich erst zurechtfinden, nachdem er sich die neuen Sinneseindrücke in Analogie mit dem ihm bekannten Schattenspiel erklärt.
Doch um die Kernintention Platons zu erfassen, müssen wir ihm noch einen weiteren Schritt folgen. Mit dem Höhlengleichnis will er uns nicht nur zur Einsicht in den Konstruktionscharakter unserer natürlichen Wahrnehmung bringen. Er verwendet die Analogie von W und W’, um über W hinauszugelangen. So wie der befreite Höhlenbewohner den Realitätsgehalt von W’ transzendiert hat, so sollen wir den Realitätsgehalt von W transzendieren. Diesen Weg von W zu W[i] (für Platon das Reich der Ideen) können wir freilich nicht durch einen erneuten physischen Aufstieg zurücklegen; wir müssen ihn imaginativ vollziehen, indem wir die Analogie von W’ und W auf das Verhältnis von W und W[i] übertragen. Da wir aber keine gegenständliche Vorstellung von W[i] haben können, bleibt nur die hypothetische Überlegung: Wie müsste W dargestellt werden, um als Modell für W[i] zu taugen?
Die Antwort kann nur heißen: Indem wir W entwirklichen und ihre vermeintliche Gegebenheit für mögliche Alternativen öffnen. In unserer eingangs vorgestellten Terminologie heißt das: Wir entwirklichen W, indem wir sie als „Virtual Reality“ zur Erscheinung bringen; und was sich an ihrer vermeintlichen Gegebenheit dabei auflöst, wird imaginierbar als „Real Virtuality“.
Damit soll nun nicht ausgesagt werden, dass wir Platons Ideenlehre, zu der uns das Höhlengleichnis in der Politeia hinführen will, unterschreiben müssen (zumal man sich darüber streiten könnte, ob die Ideenlehre notwendig essentialistisch auszulegen ist oder nicht vielmehr einen pragmatischen Geltungsanspruch erhebt) . Worauf es in unserem Kontext einzig ankommt, ist die Virtualisierung unseres Blicks auf die Wirklichkeit. Dieser de-realisierende Blick ist seit je die Domäne der Kunst. Sie offenbart uns jene „differente Wahrheit“, die uns immer dann erscheint, wenn wir den Konstruktionscharakter unserer habituellen Wahrnehmung durchschauen.
Diese Aufgabe lässt sich anhand der hier postulierten Deutung des Höhlengleichnisses nun präziser fassen und damit zugleich begründen, warum die heutige Medienkunst, wie eingangs gesagt, vor neuen Herausforderungen der Wahrheitsfindung steht: Abweichend der landläufigen Ansicht, dass die Neuen Medien per se geeigneter als alle früheren seien, Virtualitäten zu erzeugen, folgt aus meinen Ausführungen, dass es mit digitalen Mittlen zwar einfacher denn je ist, „Virtual Realities“ zu konstruieren, dass es aber zugleich sehr viel schwieriger geworden ist, die Impression einer „Real Virtuality“ zu erzeugen. Die Komplexität der Aufgabe besteht just darin, dass die erweiterte Konstruierbarkeit von Realitäten durch digitale Medien den Bereich des Unkonstruierbaren, nur Vorstellbaren, also im eigentlichen Sinne Virtuellen, schmälert. Wie es dennoch gelingen kann – und in entsprechender Weise immer wieder gelingt – möchte ich nun an einem exemplarischen Werk der Medienkunst demonstrieren.

Memory Theater VR
Die Installation Memory Theater VR, die Agnes Hegedüs 1997 für das ZKM Karlsruhe erstellte, besteht aus einer hölzernen Rotunde von 8 Metern Druchmesser, deren Inneres als Projektionsfäche für computergenerierte Bilder dient. Innerhalb der Rotunde befinden sich ein Sockel sowie ein kleines Modell der Rotunde aus Plexiglas. Durch horizontale und vertikale Bewegungen einer 3-D-Maus innerhalb der Plexiglasrotunde übermittelt der Besucher die Koordinaten der Bildsteuerung an die Projektoren (vgl. Abb. 3).

[Abb. 3: Konstruktionsskizze des Memory Theater VR. © Agnes Hegedüs 1997.]
[Abb. 4: Memory Theater VR, Fludd’s Room. © Agnes Hegedüs 1997.]

Die Interieurs, die auf die Innenwand der Rotunde projiziert werden, kreieren verschiedene „Rooms“ aus Versatzstücken der (Vor-)Geschichte der „Virtual Reality“. In „Fludd’s Room“ zum Beispiel sehen wir an exponierter Stelle einen Affen, der aus Robert Fludds Kosmologie entlehnt ist und das Prinzip der menschlichen Naturnachahmung – das „Nachäffen“ – symbolisiert (Abb. 4). Des weiteren sehen wir einen Spiegelzylinder, der eine barocke anamorphotische Zeichnung einfängt, wir sehen ein Regal mit der Aufschrift „HOBERMAN“, das Utensilien aus Perry Hobermans Installation Bar Code Hotel enthält, daneben ein Regal mit Anspielungen auf die Neokosmologien von Matt Mullican, und so weiter – kurz: eine Konstellation historischer und zeitgenössischer Werke, die in der Tradition der Wunderkammern und insbesondere der Gedächtnistheater stehen.
Kennzeichnend für die historischen Gedächtnistheater, auf die schon der Werktitel der Installation anspielt, ist die Darbietung der Memorabilia in allegorisch verschlüsselten und kombinatorisch aufeinander bezogenen Bildern. Damit sollte der Rezipient zu Imaginationsprozessen veranlasst werden, die ihn sich als mentalen Schöpfer des Kosmos erfahren lassen, so wie Gott die Welt aus seinem Gedächtnis heraus erschuf.
Hinsichtlich der Darstellungstechnik und ihrer Inhalte bewegt sich Agnes Hegedüs im Rahmen der „Virtual Reality“. Indem sie aber dieser eine Form gibt, die auf das Situationserleben des Rezipienten zurückwirkt, transzendiert sie diesen Rahmen. Das geschieht zum einen durch die Schaffung von Rezeptionsanlässen, die denen der Gedächtnistheater-Tradition ähneln, und zum anderen durch Bezugnahmen des simulierten Raums auf den Realraum. So wird etwa die sensomotorische Koordination zwischen den Bewegungen, die der Besucher mit der 3-D-Maus innerhalb des Rotundenmodells ausführt und den projizierten Bildern – anders als bei kommerziellen VR-Installationen angestrebt – durch die Veranlassung von Körperdrehungen als leibliche Erfahrung spürbar. Die Bildinhalte wiederum greifen die Architektur des Realraums – die Dachkonstruktion des Museums, den Sockel innerhalb der Rotunde – auf. Dabei vollzieht sich derselbe mentale Prozess, den wir am Höhlengleichnis beobachtet haben: Der Rezipient beginnt, seine reale Umgebung als ein Konstrukt zu sehen, das analog zu den Konstruktionsprinzipien der Simulationstechnik modelliert ist. Dadurch entwirklicht er die ihn umgebene „Virtual Reality“ und öffnet seinen Möglichkeitssinn für die Erfahrung von „Real Virtuality“.
Welche Imaginationen das jeweils sind, hängt freilich vom individuellen Situations- und Atmosphärenerlebnis der Rezipienten ab. Dergleichen verbindlich rekonstruieren zu wollen, hieße das entscheidende Chrakteristikum der Virtualität preiszugeben. Gleichwohl gibt es einen verlässlichen Indikator für die Erfahrung von „Real Virtuality“. Worin er besteht und durch welche ästhetische Strategie er hervorgerufen werden kann, sei abschließend erläutert.

Leibliche Präsenzerfahrung als Merkmal authentischer Virtualität
Wenn wir durch ein konventionell gestaltetes „Virtual Reality“-Szenario navigieren – etwa als Pilot in einem Flugsimulator –, führt dies in der Regel zu einem Immersionserlebnis: Wir tauchen in die künstliche Welt ein und erleben die Bildbewegungen auf dem Display als Reaktionen auf Bewegungen unseres eigenen Körpers – genauer: nicht unseres eigenen Körpers, sondern dessen Repräsentationsinstanz innerhalb des Szenarios. Ermöglicht wird dies durch einen Mechanismus unseres Gehirns, die sensomotorische Koordination. Dabei leitet der visuelle Kortex Netzhauteindrücke, die den Bewegungen des Subjekts im Raum hinreichend ähnlich sind, über eine spezielle Nervenbahn an den für Bewegungswahrnehmung zuständigen motorischen Kortex weiter, wo sie als tatsächliche Eigenbewegung interpretiert werden. Dies geschieht automatisch, auch dann, wenn wir eigentlich wissen, dass wir uns unverändert an einem Ort befinden. Voraussetzung hierfür wiederum ist, dass unsere Aufmerksamkeit von der realen Situation, in der sich unser Körper befindet, so weit abgelenkt ist, dass die neuronale Informationsverarbeitung der subjektiven Bewegung mit derjenigen des tatsächlichen physischen Stillstands nicht interferiert. Zum Funktionieren der sensomotorischen Koordination mit einer „Virtual Reality“ gehört also, dass unser Bewußstein der eigenen leiblicher Präsenz weitgehend ausgeschaltet ist.
Ein solcher Bewußtseinszustand kann für die Erfahrung von „Real Virtuality“ nicht empfänglich sein, da das Subjekt Imaginationen (sofern diese nicht ohnehin durch die Darbietungen auf dem Display unterbunden sind) nicht als seine Imaginationen erlebt. Erst wenn das visuelle Kontinuum der simulierten Eigenbewegung unterbrochen wird – sei es durch einen Systemfehler des Simulators oder durch eine ästhetische Derealisierung der Bewegungsdarbietung (eine  Diskontinuität im Ablauf, eine Verfremdung ins Unwahrscheinliche o. ä.) – kehrt die Aufmerksamkeit des Subjekts zurück zur eigenen Realsituation, zurück zum eigenleiblichen Spüren der soeben noch automatisch vollzogenen sensomotorischen Koordination.
Ein einfaches, aber überzeugendes Beispiel für solche Bewegungsunterbrechungen, die eine automatisierte Körperwahrnehmung in das Erleben leiblicher Präsenz transformieren können, bietet die Installation Medienfluss von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss (Abb. 4).
[Abb. 5 – Installation Medienfluss. © Fleischmann/Strauss 2006]
Der User sieht auf dem Screen Text- und Bildelemente aus einer großen Datenbank zur Netztheorie und -kunst wie Treibgut vorbeiziehen und kann mittels Pointer einzelnes davon „herausgreifen“, um Detailinformationen abzurufen. Dabei ist die Flussbewegung derart suggestiv, dass der Kontrasteffekt mit dem Stillstand der angeklickten Objekte in der beschriebenen Weise prägnant erfahrbar wird.
 Unter Umständen kann also die „schwierige Herausforderung an die Medienkunst“, von der zuvor die Rede war, in ganz einfachen Installationen realisiert werden. Worauf es ankommt, ist ein feines Gespür für habituell gewordene Wahrnehmungssituationen – hier: das Navigieren im Internet, das normalerweise von einer Vielzahl automatisch, körperlich unbewusst vollzogenen Mausklicks begleitet wird. Indem diese in ungewöhnliche Darbietungsformen überführt werden– hier: statt der unbewussten Aktivität des Aufsuchens, das passive Vorbeigleitenlassen von Informationen in leiblicher Präsenz – eröffnet sich die Dimension realer Virtualität. In ihm liegt die Wahrheit der Medienkunst. Und hier endet der Bereich des Darstellbaren.

Paul Virilio: Die Verblendung der Kunst, Wien 2008.

Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle („Understanding Media“), Düsseldorf Wien New York Moskau 1992, S. 57 ff.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 16 f.

Platon: Politeia [Der Staat], in: Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher; 6 Bände Hamburg 1991, Bd. 3, S. 67–310, hier S. 224 f.

Rafael Capurro: Höhleneingänge. Zur Kritik des platonischen Höhlengleichnisses als Metapher der Medienkritik (2006). Online: http://www.capurro.de/plato.html (1.1.2009).

Exemplarisch für diese Position: Walther Ch. Zimmerli: „Auf dem Weg zur mediengesteuerten Gesellschaft“, in: Hans-Albrecht Koch / Agnes Krup-Ebert (Hrsg.): Welt der Information. Wissen und Wissensvermittlung in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 204-212. – Rudolf  Maresch: Rückkehr zum Humanum - aussichtslos. Das leise Verschwinden eines Emanzipationsdispositivs. Online: http://www.rudolf-maresch.de/texte/7.pdf (1.1.2009).

Exemplarisch: Florian Rötzer: „Bilder in Bildern - oder: Vom Bild zur virtuellen Welt“, in: Michael Fehr u.a. (Hrsg.): Platons Höhle: Das Museum und die elektronischen Medien, Köln 1995. S. 57-75. – Siegfried, J. Schmidt: „Platons Höhle - Ein philosophischer ‚Betriebsunfall??“ In: Michael Fehr u.a. (Hrsg.), a.a.O., S.36-56.

So geht auch die griechische Überlieferung vom Ursprung der Malerei auf ein Schattenbild zurück, nach dem der Töpfer Butades seiner Tochter einen künstlichen Ersatzgeliebten geschaffen habe. Vgl. Gaius Plinius Secundus der Ältere: Naturkunde [Historia Naturalis], lat.-dt. Buch 35, Hrsg. u. übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, 2. Aufl. Düsseldorf Zürich 1997, S. 109.

USA (1999), nach dem Roman Simulacron-3 von Daniel F. Galouye (1964).

So noch die Strukturbeschreibung des kulturellen Gedächtnisses in Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 22.

Vgl. Brenda Laurel: Computers as Theatre,Reading (Mass.) 1991.

Vgl. Bernard J. Baars: Das Schauspiel des Denkens. Neurowissenschaftliche Erkundungen; Stuttgart 1998.

Vgl. Ekkehard Martens: „Platonischer Pragmatismus und Aristotelischer Essentialismus“, in: Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, hrsg. v. Herbert Stachowiak, Bd. I, S.108-125.

Robert Fludd: Utriusque Cosmi Maioris Scilicet et Minoris Metaphysica, Physica atque Technica Historia. In duo Volumina secundum Cosmi differentiam divisa, Oppenhemij Impensis Iohannis Theodory de Bry 1619.

Vgl. hierzu ausführlich Matussek, Peter: Performing Memory. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 10 (2001), H. 1, S. 303–334.

Vgl. die Unterscheidung von „automatischer Wiedererkennung“ (reconnaissance automatique) und „Wiedererkennung mit Aufmerksamkeit“ (reconnaissance attentive) in Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991, S. 89.

Eine Browserversion befindet sich unter http://medienfluss.netzspannung.org/ (1.1.2009).