Natascha Adamowsky / Peter Matussek:

Formen des Auslassens. Ein Experiment zur kulturwissenschaftlichen Essayistik

 


In: Dies. (Hg.): Auslassungen. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft; Würzburg 2004, S. 13–28.


     
 

Lücken in der Kartographie des Wissens

Wissenschaft, so heißt es, sei ein Projekt, das auf Erkenntnis zielt. Damit verbunden ist die Vorstellung, daß wir heute mehr wissen als gestern und morgen mehr wissen werden als heute. Die Frage ist nur, ob sich das zu Erkennende auch in diese Gedankenfigur fügt. Wie müßten wir vorgehen, wenn jene weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens, welche zu besetzen und zu füllen ein konsti-tutiver Bestandteil wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist, eo ipso als Wirklichkeiten anzuerkennen sind, die unerkannte Möglichkeiten in sich bergen? Wie können wir diesen virtuellen Realitäten (im emphatischen Sinne der Prägung, nicht dem geläufigen, der auf einem technizistischen Mißverständnis beruht) gerecht werden, ohne sie durch den fixierenden Zugriff, das Aussagen und Ausmalen, Aufschreiben und Aufzeichnen ihrer Virtualität zu berauben?

Die Frage nach der Ambivalenz wissenschaftlicher Neugier ist ein Angelpunkt kulturwissenschaftlichen Denkens. Es bezieht seine Spannung aus dem einfachen Umstand, daß Kultur nicht in Formen daherkommt, die sich nahtlos mit szientifischen Verfahren zur Deckung bringen lassen. Der modernen Vorstellung von ‚Erkenntniswachstum‘ steht somit eine unausgesetzte Produktion von Leerstellen gegenüber; mit der Menge des Wissens steigt immer auch die Menge des Nicht-Wissens. Kulturwissenschaft begegnet diesem Dilemma nicht mit einem Ritt à la Don Quijote gegen die Mühlen der perennierenden Auslassung, sie widmet vielmehr dem Phänomen der Auslassung als solchem ihre Aufmerksamkeit. Leerstellen sind ihr nicht ein zu Beseitigendes, sondern ein zu Beachtendes – ein Motiv und Movens forschender Neugier, da sie Anlaß geben, das Ausgelassene sowie den Prozeß der Auslassung selbst in den Blick zu nehmen. Dabei kommt es zu einem Umschlag von Abstinenz in Abundanz: Dasjenige, was ausgelassen wurde, wird in der kulturwissenschaftlichen Darstellung nicht nur als ein bislang Vergessenes und Verschwiegenes anerkannt, sondern zugleich als ein Potential des Entwerfens und Erfindens erfahren. Dieses Potential entfaltet sich im Besichtigen der mäandernden Grenzlinien und Zwischenräume, die die disziplinär orientierte Kartographie des Wissens bei ihren Feldbestellungen zurückläßt.

An den Rändern der Erkenntnis also hält Kulturwissenschaft sich auf und berührt damit die Regionen der Unwissenschaftlichkeit: Fabeln und Fiktionen, Träumereien und Phantasien, Narrationen und Plaudereien, auch Atmosphärisches und Ereignishaftes. Gerade in der Kontamination mit diesen diffusen und heteroglossalen Formen der Erkenntnis wird eine geschärfte Wahrnehmung von Wirklichkeit möglich – im Sinne einer intensivierten Beziehung zu den Gegenständen ebenso wie dem eines klareren Bewußtseins für das Provisorische allen wissenschaftlichen Darstellens. Für die Kulturwissenschaft ist dieses Bewußtsein konstitutiv, da sich kulturelle Phänomen per definitionem nicht ohne Substanzverlust ins Fixierbad bestimmender Urteile legen lassen; erst im individualisierenden Licht reflektierender Urteilskraft geben sie ihre Lebendigkeit zu erkennen. Darin stimmen seit je alle kulturwissenschaftlichen Ansätze überein – von der Völkerpsychologie über Kulturgeschichtsschreibung und Kulturphilosophie, Kulturpsychologie und Kritische Theorie bis zu den von Cultural Studies, New Historicism und Mentalitätsgeschichte angeregten Kulturanalysen der Diskursarchäologie und Historischen Anthropologie. Das Wissen der Kulturwissenschaft unterliegt daher einem fortgesetzten Prozeß der Reformulierung, Recodierung und Rekonfigurierung.

Sich über das Ausgelassene auszulassen ist somit auch als eine experimentelle Suche nach Darstellungsformen zu verstehen, welche den Phänomenen in ihrer Flüchtigkeit gerecht werden. Eine solche Orientierung übt Gratwanderungen zwischen ästhetischer und theoretischer Stilistik – Gratwanderungen, die mit Neugier und Aufmerksamkeit nicht nur auf Orte der Erkenntnis blicken, sondern auch auf die Spielfelder von Effekten und Performanzen. Kulturwissenschaftliche Auslassungen zum Ausgelassenen betreiben Wissenschaft als unabschließbaren Prozeß und problematisieren zugleich die geläufige Distinktion zwischen der ‚einen‘ wissenschaftlichen Wahrheit und der Vielfalt menschlicher Perspektiven. In der Reflexion auf die Unschärferelation von Subjektivität und Objektivität zeigt sich, daß kein wissenschaftliches Darstellen ohne Auslassungen möglich ist, ja keines ohne sie den Anspruch wissenschaftlicher Dignität erheben kann. Das ‚Wie‘ der Auslassungen aber kann und muß durchaus präzisiert werden, wenn es sich nicht in Beliebigkeit verlieren will.

Es ist Hartmut Böhme, der seit Mitte der 80er Jahre ganz wesentlich dazu beitrug, daß die Kulturwissenschaft ihre derzeitige Geltung erlangt hat. Nach seiner Diagnose, aus der er selbst profilbildende Konsequenzen zog, trat das Fach an die „Leerstelle, die durch das Verblassen des Humboldtschen Bildungsbegriffs entstanden ist“ (Böhme 1995). Die Diagnose eines ‚Anderen der Vernunft‘ (Böhme/Böhme 1983) nahm er nicht zum Anlaß für eine Beschränkung, sondern eine interdisziplinäre Ausweitung des wissenschaftlichen Diskurses. Wie seine zahlreichen Arbeiten zu Gegenständen der Kulturwissenschaft zeigen (s. Bibliographie), vermochte er dasjenige, was bei den tradierten Oppositions-bestimmungen von Natur- und Geisteswissenschaften in die Gräben der Zuständigkeitsabgrenzungen gefallen war, auf eine bis dahin unbekannte Weise zur Sprache zu bringen. Diese Sprache läßt sich aus, indem sie subsumierende Feststellungen ausläßt. Damit verfügt sie über ein außerordentliches Anregungspotential. Zu seinem sechzigsten Geburtstag erschien uns daher ein Experiment mit essayistischen Annäherungen an das Ausgelassene als eine angemessene Form, den Jubilar mit Gespür für Apostrophe zu apostrophieren.

 

 

Einladung zum Experiment

Wir baten 42 Autoren – Kollegen, Wegbegleiter, Freunde von Hartmut Böhme –, sich dem Auslassen in den topologischen, temporalen und performativen Bedeutungsvarianten des Begriffs zu widmen: Formen der räumlichen Leere, der zeitlichen Unterbrechung und der ereignishaften Abundanz. In Motiven der Lückenhaftigkeit, Momenten der Interruption und Impulsen des Überschwangs sollten sie ihrer Entdeckerneugier folgen. Den Mitwirkenden ging folgende Konzeption zu:

Kulturwissenschaft beruht im zweifachen Wortsinn auf Auslassungen: Ihr transdisziplinärer, also von vornherein hybrider Ansatz erfordert einerseits den Mut zur Lücke, andererseits verführt er zu Äußerungen, die im arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb ungedeckt sind. Wollte man ihr diese doppelte Disziplinlosigkeit zugunsten systematischer Vollständigkeit und Methoden-strenge abgewöhnen, würde sie aufhören zu existieren. Das setzt sie unvermeidbar der Kritik mangelhafter Grundlagen aus. Gleichwohl ist die in den letzten Jahren heftig diskutierte Frage, ob es Kulturwissenschaft angesichts ihrer prekären Voraussetzungen überhaupt geben muß oder soll oder darf, inzwischen obsolet. Instituts- und Fakultätsgründungen, Fördereinrichtungen und Kongreßthemen, Bücher und Lehrveranstaltungen tragen das Wort „Kulturwissenschaft“ in ihrem Namen und haben eine Praxis etabliert, über deren Vorhandensein theoretisch nicht mehr entschieden werden kann.

Was aber zur Disposition steht, ist die Frage, wie der Auslassungscharakter der Kulturwissen-schaft als solcher zu rechtfertigen ist. Mit dieser Frage beschäftigt sich der geplante Band. Wir haben im Untertitel auf Isers Terminus der Leerstelle rekurriert, um anzudeuten, daß Aus-lassungen eben nicht nur Lücken sind, sondern zugleich ein evokatorisches Potential enthalten, das programmatischen Überlegungen durchaus zugänglich ist, wie die Karriere dieses Begriffs exemplarisch zeigt: Längst hat sich der wissenschaftliche Sprachgebrauch über das ursprünglich damit Bezeichnete – kombinatorische Offenheiten im modernen Roman – hinausentwickelt; von „Leerstellen“ ist mittlerweile auch in bezug auf Literatur überhaupt, sowie auf Malerei, Film und Musik die Rede. Dabei wird stets hervorgehoben, daß es just das Nichtgesagte und Nichtgezeigte, das Verschwiegene und Offengelassene ist, was die Prägnanz einer Äußerung erhöhen kann. Wir glauben, daß dies auch für kulturwissenschaftliches Denken und Darstellen gilt, daß also Leerstellen ein Movens der Kulturwissenschaft sind.

Die paradigmatische Darstellungsform kulturwissenschaftlicher Auslassungen ist der Essay. „Der Essay“, schrieb Adorno in einem Text, den er selbst als seine wichtigste Programmschrift ansah, „fängt nicht mit Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria“ (1958, 10). Der Ruch des Unseriösen, der dem Essay deshalb an-haftet, ist für Adorno objektiv begründet: „Weil die lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins ist mit dem Seienden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau. […] Seine Schwäche zeugt von der Nichtidentität selber, die er auszudrücken hat; vom Über-schuß der Intention über die Sache und damit jener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigem und Vergänglichem abgewehrt ist“ (17 f.). Dieses doppelte Bekenntnis zur Auslassung – als Lücke und als Emphase – findet sich bei allen bedeutenden Vertretern kulturanalytischer Essayistik, von Montaigne über Bacon, Diderot und Sainte-Beuve bis zu Simmel und Benjamin.

Freilich verdanken essayistische Auslassungen ihre Prägnanz nicht der pauschalen Abwehr wissenschaftlicher Systementwürfe, sondern der Abarbeitung an ihnen. Zu einem Programm der Kulturwissenschaft gehört, daß sie die skizzierten Oppositionen in sich austrägt. Ihr Weg führt, wie der jeder Wissenschaft, über Schwellen der Epistemologisierung, ohne die sie ihr Feld nicht verdichten kann. Doch zugleich macht sie es zu ihrer Aufgabe, sich dem zuzuwenden, was aus den vereindeutigenden Systematisierungen herausfällt, durch die Raster etablierter Disziplinen in ihre Stadtgräben und Vororte rutscht. Wie will man angemessen berichten von dem, was das wissenschaftliche Berichtsinstrumentarium unterläuft? Andererseits: Über das Ausgelassene, Leerstehende, Vergessene, Übergangene läßt sich etwas sagen genauso wie über den doppel-sinnigen Vorgang des Auslassens selbst. Denn während Theorien und Methoden den Gegenstand disziplinieren und gelegentlich auch liquidieren, generieren sie gleichzeitig im Auslassen neue wissenschaftliche Objekte. Wird allerdings das Weglassen zum idealisierenden Prinzip, zu einer Klarheit der Äquivalenz zwischen Repräsentationsstil und Gegenstand, so nährt sich para-doxerweise gerade aus diesem Vorgehen die Vorstellung, Welt sei lückenlos erfaßbar. Doch es scheint kein Schreiben möglich ohne Auslassungen und Überschuß, ohne ein Wechselspiel von Konzentration und Emergenz. Sich über Auslassungen auszulassen läuft daher nicht auf ein wissenschaftliches Projekt der Vervollständigung hinaus, sondern sucht Begegnungen in diesem Doppelspiel. Auslassend schreiben kann somit als Verfahren von wissenschaftlicher Selbst-reflexivität verstanden werden, aber auch als ein Prozeß des Durchlässigmachens, des Ver-flüssigens, des Überschusses. Denn die Lücke ist ein Einfallstor für den Zufall, in den Leer-stellen lagern sich unkommode Begriffsreste ein, das unpassende Ausgelassene nährt den sub-versiven Untergrund. Auslassungen in diesem Sinn erweisen sich als Keime kritischer Ausein-andersetzung.

Das Titelwort des geplanten Bandes changiert also zwischen drei Perspektiven, in die wir ihn gliedern möchten: als topologische und temporale Leerstellen sowie als performative Äußerungen. Die folgende Sammlung von Stichworten mag das Assoziationsfeld skizzenhaft umreißen:

1. Zwischenräume (Auslassungen im topologischen Sinne)

Leerstellen, Lücken, Risse, Freiräume, blinde/weiße Flecken, schwarze Löcher, Chaos.

Schwachstellen, Blößen, Achillesfersen.

Mangelhaftes, Unvollkommenes, Unzulängliches, Unausgeführtes, Torso, Fragment.

Unbestimmtes, Sfumato, Diffusion, Zwielichtiges, Dunkles, Rätselhaftes.

2. Unterbrechungen (Auslassungen im temporalen Sinne)

Schweigen, Innehalten, Stehenbleiben, Pause, Zäsur, Suspension, vox omissa.

Löschen, Streichen, Vergessen, Verbergen, Geheimhalten.

Aussetzen, Passen, Überspringen, Übergehen; Synkope, Interruption, Schock.

Schlaf, Flaute, Windstille, Langeweile.

Intervention, Zwischenruf, Parenthese, Parataxe, Ein-/Ausklammerung.

3. Abundanzen (Auslassungen im performativen Sinne)

Ausbruch, Interjektion, Exzeß, Ekphorie, Willkür, Emphase, Ekstase.

Inspiration, Entdeckung, Entwurf, Erfindung, Enthüllung, Anamnesis.

Aus-/Abschweifung, Exkurs, Ausblick; mäanderndes Denken, rhapsodischer Stil.

Implikation, Konnotation, Evokation, Allusion; Maskenspiel, Prätention.

Spekulation, Experiment, Exploration; sich vortasten, vorpreschen.

Passagen, Grenzgänge, Brückenschläge, Drehbewegung, Vertigo.

 

Wie wir an den daraufhin eingegangenen Essays feststellen durften, erwies sich das Feld der Auslassungen als ein unerschöpfliches Terrain für kulturwissenschaftliche Erkundungsgänge. Offenbar ruft jedes Sich-Äußern über Auslassungen neue Auslassungen hervor und hält das Ausgelassene als zugleich aktualisierte und nichtaktusalisierte Möglichkeit in der Schwebe. Daß dies aber nicht bedeutet, sich einfach nur ‚über alles Mögliche auszulassen‘, wie man angesichts des Projekttitels frotzeln könnte, sondern explorative Denkformen und Sprachfenster eröffnet, ist uns in zahlreichen Varianten dokumentiert worden.

Die polymorphen Spielarten des eo ipso ungreifbaren Phänomens lassen sich freilich nicht in kategoriale Ordnungen und kontinuierliche Systematiken einsortieren. Gleichwohl können wir zu unserer eigenen Überraschung feststellen, daß sich über die konzeptionell vorgenommene Dreiteilung des Bandes hinaus interne Zusammenhänge und Wechselbezüge ergeben, die sich zwar nicht an einer Schnur aufreihen lassen, aber doch vernetzungsfreudigen Mustern folgen.

 

I. Von ausdrucksvollen Zwischenräumen und leeren Orten

Der Themengruppe der Auslassungen im topologischen Sinne nähern wir uns über die Peripherie. Als erklärter Randgänger der Kulturwissenschaft kommt Gernot Böhme anläßlich eines Besuchs im Dresdner Volkswagen-Werk zu Überlegungen über Leerstellen in der Warenästhetik. Die Produktionsshow unter dem Titel ‚Gläserne Manufaktur‘ erscheint ihm als signifikant für einen Zeitgeist, der den modernen Verlust eines physischen Kontakts zu den Dingen kompensieren will, indem er Einblick in den Herstellungsprozeß gestattet. Der allerdings ist von aller „Handwerklichkeit“ befreit, so daß der Einblick ohne Einsicht bleibt.

Ganz anders die Einführung in den Prozeß kulturwissenschaftlicher Reflexion durch Gertrud Koch. Freimütig bekennt sie ihre unwiderstehliche Neigung, sich von der akademischen Arbeit am PC durch ein Patience-Spiel namens Free Cell ablenken zu lassen. Doch aus der Beschreibung der an sich sinnlosen und zeitverschwenderischen Spielzüge, die in der Schaffung immer neuer Leerstellen bestehen, ergeben sich unversehens Regularien, die für das wissenschaftliche Schreiben Vorbildcharakter gewinnen: das Durchspielen von Holzwegen, bis ein Ausweg, eine freie Zelle, auftaucht.

Das Spielen gilt nach Schiller als Spezifikum des Menschen, der seit je nach Kriterien sucht, durch die er sich von seinen Lebensgefährten im Tier- und Pflanzenreich abgrenzen kann. Dabei werden Diskurslücken aufgerissen – selbst dort, wo Homonyme noch auf urprüngliche Verwandtschaften verweisen. Hans Werner Ingensiep beschäftigt sich mit einer solchen Diskurslücke in den bio-ethischen Debatten unserer Zeit: Im Gebrauch des Verbs ‚vegetieren‘, das einst eine Gemeinsamkeit von Pflanzen und Menschen bezeichnete, sind die einstigen Konnotationen des Lebendigen ausgeblendet. Statt am pejorativen Gebrauch des Verbs festzuhalten, so Ingensieps Plädoyer, könnte gerade das Eingedenken der Verbundenheit des vegetierenden Lebens eine wahre Ethik des Mitgefühls begründen helfen.

Daß die Befragung der anderen Kluft zwischen den ‚Reichen des Lebendigen‘ Chancen für neue Forschungsansätze eröffnen kann, zeigt Christoph Wulf in seinem enzyklopädischen Essay über die mimetischen Grundlagen kulturellen Lernens: Die Spezifika des mimetischen Lernens beim Menschen treten just dort hervor, wo wir es mit dem der Primaten vergleichen.

Aus Vergleichen mit den Tieren hat der Mensch schon immer über sich gelernt. Hermann Schmitz greift die alte Fabel vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel auf, um ein wissenschaftstheoretisches Problem zu illustrieren: Lebenssituationen können in ihrer atmosphärischen Qualität nur dann adäquat beschrieben werden, wenn ihre „Binnendiffusion“ gewahrt bleibt – und das bedeutet Verzicht auf komplette Herausstellung einzelner Merkmale. Der Analytiker, der dies nicht berücksichtigt, würde um den Ertrag seiner Bemühungen ebenso betrogen wie der Hase, der seinen Wettlauf nicht gewinnen kann, weil er in seiner überspannten Zielorientierung die Situation nicht erkennt, in der er sich befindet.

Analyseergebnisse auszulassen heißt freilich nicht, sie zu unterschlagen. Allerdings – zu diesem Ergebnis kommt Wolfgang Coy in seiner Diskussion spektakulärer Fälle von wissenschaftlicher Fälschung – zeichnen sich solche Betrugsdelikte meist nicht durch das Weglassen von Einzeldaten oder durch Ungenauigkeiten aus, sondern im Gegenteil durch ihre unrealistische Präzision. Problematisch ist auch hier demnach die sich als lückenlos gebende Wissenschaftlichkeit.

Was also charakterisiert den redlichen Wissenschaftler? Nach welchen Kriterien bemißt sich der objektive Gehalt, die „bare Münze“ der Wissenschaft? Jörn Ahrens zufolge ist es der Ausdruck der eigenen Intention, also gerade desjenigen, was nach geläufiger Darstellungskonvention als subjektiv und damit vermeintlich verfälschend ausgelassen wird.

Hinsichtlich der Sachgehalte hingegen sind Lücken in der Darstellung oft wahrheitsdienlich. Dies verdeutlicht die nächste Gruppe der Beiträge an diversen diskursanalytischen Beispielen:

Die Psychoanalyse erklärt sprachliche Weglassungen als Effekt von Abwehrmechanismen. Doch wie Carl Pietzcker zeigt, verkennt diese pejorative Sicht auf das Ausgelassene den produktiven Effekt literarischer Leerstellen auf die Imagination des Lesers. Diese Produktivität besteht in mehr als der Ausfüllung von Lücken im Textnetz; sie erfährt im spielerischen Dialog mit dem Textgewebe eine je spezifische kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ausformung.

Daß in dieser Weise schon Goethe das Phänomen des Fetischismus zur Darstellung gebracht hat, ist erstmals von Hartmut Böhme (1998) bemerkt worden. Jürgen Barkhoff greift dieses Forschungsinteresse auf und fokussiert es auf einen Aspekt in Goethes literarischem Werk, der in geradezu paradigmatischer Weise die Funktion eines Sexualfetisch offenbart: die Philine-Episode aus Goethes Lehrjahren. Barkhoffs subtile Lektüre des Romans enthüllt in verblüffender Deutlichkeit, daß nicht nur jene Passage, in der Wilhelm schlaflos Philines Pantoffeln umkreist, im Zeichen eines Schuhfetischismus steht. Um und mit dem Fetisch wird dabei ein diskursives Spiel inszeniert, in dem Abwesenheit zugleich substituiert und als Leerstelle angezeigt wird. In einem Vergleich mit Thomas Hürlimanns Fräulein Stark macht Barkhoff zudem deutlich, daß sich dieses Fetisch-Motiv durch die gesamte Literaturgeschichte zieht und als Paradigma für das Funktionieren literarischer Sprache schlechthin genommen werden kann.

Der Verlockung von Lücken erliegen auch Ethnographen. Ihre Ambition zielt seit je darauf, einen noch unentdeckten, zivilisatorisch unbesetzten und unverstellten Ort zu finden. Klaus Scherpe beschreibt am Beispiel von Michael Roes’ Tagebuchfiktion Leeres Viertel. Rub’ Al Khali die prinzipielle Unmöglichkeit, auf solche Orte zu treffen, und erläutert, warum es zugleich eben diese Unmöglichkeit ist, welcher die Idee der Leere ihre magische Anziehungskraft als Beschwörungsform des Fremden im ethnographischen Diskurs verdankt.

Gleichwohl gibt es Topographien, die Leerstellen aufweisen. Daß diese gerade an den zivilisatorisch überformten Orten aufzufinden sind, verdeutlicht Susanne Hauser im Blick auf das Konstrukt ‚Landschaft‘: Seit seinen Ursprüngen im 15. Jahrhundert bis heute läßt es eine technologisch bedingte Tendenz der Entleerung zutage treten, die von Hauser aber nicht kulturpessimistisch, als Qualitätsverlust, sondern konträr als Kreativitätsgewinn gedeutet wird.

Auslassungen gab es freilich schon in den Raumvorstellungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Daß diese keineswegs durchgängig so festgefügt sind, wie häufig behauptet wird, belegt der Beitrag von Horst Wenzel. Er demonstriert am Beispiel der mittelalterlichen Geschichte von Alexander dem Großen, der im Greifenflug die Höhen des Himmels und die Tiefen des Ozeans bereist, daß es just die topographischen Wissenslücken sind, die zu solchen phantastischen Raumexplorationen Anlaß geben.

Daß auch das Paradebeispiel für die Geometrisierung des Blicks und die repräsentationslogische Definition des Raums in der Frühen Neuzeit, Velazquez’ Gemälde Las Meninas, produktive Zwischenräume eröffnet, zeigt Robert Felfe in einer kritischen Auseinandersetzung mit Foucault. Abweichend von der Deutung, die mit dessen Ordnung der Dinge paradigmatisch wurde, betont Felfe die soziale und situative, keineswegs nur subjektivistische und sich damit verflüchtigende Präsenz des Malers im Bild. Für eine entsprechend reformulierte Archäologie des Wissens bedeutet dies, daß der Aufführungscharakter – in Entsprechung zum wissenschaftlichen Experiment der Zeit – stärker ins Blickfeld rückt.

Mit der zunehmenden Entdeckung und Eroberung des Globus wird der Spielraum für das sich inszenierende Subjekt enger. Im 19. Jahrhundert beginnt es seinen Rückzug aus dem Wahrnehmungsraum. Daß auf eben diese Weise Wirklichkeit im Sinne des Realismus entsteht, gegen deren Übermächtigkeit sich das Subjekt in absentia behauptet, zeigt Gerhard Neumann an Adolf Menzels Gemälde Kronprinz Friedrich besucht den Maler Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg und E.T.A. Hoffmanns Novelle Des Vetters Eckfenster. Sowohl im Bild wie in der Literatur wird die Abwesenheit des Autors als Leerstelle inszeniert: Der Maler fehlt im Bild, der Erzähler in der Geschichte. Doch diese Leerstellen sind kein Zeichen des Verschwindens – ganz im Gegenteil: Sie betonen das Subjekt gerade dadurch, daß sie es demonstrativ auslassen.

Wo es fortan noch ins Bild gesetzt wird, droht es zur Karikatur zu werden. Dies zeigt Lothar Müller an Honoré Daumiers Zeichnung Le Connoisseur: Der vergreiste Kunstkenner wird von einer miniaturisierten Venus-Replik, wie sie im 19. Jahrhundert zum festen Interieur bürgerlicher Wohnzimmer avancierte, mitleidvoll angeblickt. Was aus dem antiken Kunstideal des natürlichen Menschen inzwischen geworden war, offenbart noch unmittelbarer Wilhelm Busch in einem Katastrophenszenario, wenn man es mit der Genauigkeit Müllers betrachtet. Was er dabei entdeckt, sei hier ausgelassen, um die Pointe nicht zu verderben.

 

II. Von der Beredtheit des Schweigens und der Bewegtheit des Innehaltens

Das Schweigen, die Unterbrechung im Strömungsgeräusch der Wörter, ist sprichwörtlich beredt – oft aussagekräftiger als jede Aussage. So beginnt unser Kapitel über Auslassungen im temporalen Sinne mit dem Motiv des Innehaltens im Redefluß.

Axel Michaels erzählt in sehr persönlicher Form von einer Lektion über das Schweigen, die er beim Besuch eines Asketen in Nepal erhält. Der kommunikativen Aufhebung der kontemplativen Stille, veranlaßt durch den Wunsch des Forschers, ein Foto zu machen, wird die Erlaubnis entzogen; zugleich wird ihr bescheinigt, daß sie belanglos ist, da sie ins Leere zielt.

Daß wir nicht erst in den Osten reisen müssen, um das Schweigen zu lernen,  macht Helmar Schramm unter Verweis auf Max Picard erinnerlich. Im Abendland freilich, in einer durch und durch sprachlich vermittelten Kultur, ist die Lektion versteckter. Orte der Stille sind nicht jenseits des Wortgeräuschs zu finden, sondern nur in ihm – gleichsam als seine Rückseite, die sich in der Wahrnehmung seiner Dysfunktionalität offenbart.

Die Umwege, auf denen der christlich-abendländische Geist zur Ruhe kommt, lehrt am eigenen Beispiel Augustinus. Ingrid Kasten hebt an einer für die Wahrheitssuche in den Confessiones zentralen Stelle, der gemeinsam mit der Mutter erlebten Gotteserfahrung, den spezifischen Modus hervor, der sie ermöglicht: den „Tumult der Sinne“ zum Schweigen zu bringen.

Als das genaue Gegenteil dieser Haltung präsentieren sich die gefühlsbetonten Phasen späterer Epochen. Sie inszenieren den Tumult der Sinne, um diese gegenüber den tyrannischen Forderungen der Rationalität ins Recht zu setzen. Doch, wie Liliane Weissberg anhand von Goethes Triumph der Empfindsamkeit und Die neue Melusine zeigt, schlägt der Gefühlstaumel auf seinem Höhepunkt in Herzensleere um. Was aus Kisten und Kästchen im Modus aufgeregter Enthüllung befreit wird, ist stumm und reglos: viel Lärm um nichts.

Voll emotionaler Kraft hingegen ist das Ungesagte. Olaf Briese erkennt eine subversive Macht in der Verwendung von Auslassungszeichen bei Heinrich Heine. Er zeigt, daß Heines Schriftsprache von einem Dreipunkt-Lückennetz durchzogen ist, welches „die Suggestion eines homogen geschlossenen Sprachraumes ostentativ sprengt“ und damit der Unaussprechlichkeit des Individuellen gegen den Universalisierungszwang einer ihm gegenüber gleichgültigen Welt zum Ausdruck verhilft.

Renate Schlesier dokumentiert, wie Friedrich Nietzsche in seiner ersten Aphoris-men-sammlung Menschliches, Allzumenschliches die Genealogie eines Kunstwerks gerade dadurch nach--vollziehbar macht, daß er es unterläßt, sie in eine Aussage zu überführen. Die bewußte Inszenierung von Unvollständigkeit im Text, insbesondere durch elliptische Formulierungen, bringen das Weggelassene per negationem emphatisch zur Sprache.

Dieter Thomä zeigt am Motiv des ausgelassenen Namens bei Robert Antelme, Richard Wagner und Bernardo Bertolucci, daß einerseits der Verzicht bzw. die Verweigerung der Namensnennung die Präsenz einer Person verstärken kann, andererseits der Name selbst zum Statthalter eines Ausgelassenen werden kann, da er es dem Menschen erlaubt, sich zu unterscheiden von jenem festen Satz von Eigenschaften und Tätigkeiten, die ihm seine gesellschaftliche Stellung auferlegt.

Ralf Schnell schließlich deutet in einem Vergleich der Philoktet-Fassungen von Sophokles und Heiner Müller den Verlust einer Sprache des Schmerzes als signifikant für den Zustand einer Welt, deren Gewalt alle Begriffe übersteigt. Wo der einzelne dem Kalkül der Machtpolitik vollständig unterworfen ist, vermag seine Sprache nicht mehr die erlittene Gewalt zu benennen. Diese zeigt sich vielmehr in einer Sprachform, der die Spuren der sinnlos gewordenen Geschichte eingeschrieben sind.

Will Sprache hingegen an tradierten Bedeutungen festhalten, verliert sie die Fähigkeit, Geschichtliches zu bezeugen. Dies illustriert eindringlich der Beitrag von Bernd Hüppauf. In wenigen plastischen Bildern erzählt er von einer Wiederbegegnung mit seinen heimatvertriebenen schlesischen Vorfahren und dem Aussterben ihrer Sprache im fremdbleibenden Umfeld. Gerade im assimilationsunwilligen Festhalten an den Formeln, die die verlorene Heimat beschwören, schlägt deren Erinnerung in Vergessen um – als nostalgische Fiktionalisierung und Chiffrierung eines Verlorenen, das es so nie gegeben hat.

Das kulturelle Gedächtnis insgesamt ist nicht frei von solchen Fiktionalisierun-gen, ja konstituiert sich erst mit ihnen, da es ohne die Konstruktion kollektiver Merk-zeichen keine personen- und generationenübergreifende Weitergabe des Vergangenen geben könnte. Wie Christina von Braun zeigt, äußert sich das vom offiziellen Überlieferungsgeschehen Unterschlagene und Verdrängte hinterrücks, in Zuschreibungen abnormen Verhaltens. Das Kryptischwerden des Vergangenen, das – analog zum Kinderspiel Stille Post – nur unvollständig oder verfremdet weitergegeben wird, kann deshalb als eine Gedächtnisgeschichte sui generis gelesen werden. Von Braun demonstriert dies am Beispiel der Hysterie: Das Krankheitsbild ist dazu prädestiniert, zum Träger von Geheimnissen zu werden, da sich seine historisch variierten Symptome als Zuschreibungen verschiedener Epochen an das ‚Weibliche‘ erweisen – im Sinne von Repräsentationsformen der Unberechenbarkeit.

Daß sich Erkenntnisse und Einsichten oft gerade dort gewinnen lassen, wo die erwartungsgemäße Kontinuität des Geschehens unterbrochen, ein Routineschritt ausgelassen wird, erläutert Gisbert Hoffmann in einer Interpretation der Detektivgeschichten Raymond Chandlers. Der Verzicht auf den erwartungsgemäßen nächsten Zug im Kombinationsspiel suspendiert die Normalität gesellschaftlicher Handlungsdirektiven und zwischenmenschlicher Umgangsformen. Dabei erscheinen die Auslassungen des Detektivs einerseits als Augenblicke der Freiheit, in denen Handlungsalternativen entworfen werden können, andererseits  als vielsagende Schwäche, Emotionen und Wünsche adäquat anzusprechen.

Eine Normalität sind Auslassungen in der Schrittfolge für Galeriebesucher. Kaum ein Kunstinteressierter wird die in Museen vorgezeichneten Pfade vollständig abschreiten, sondern eigene Passagen wählen und Durchgänge suchen, die ausgestellten Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln einmal innehaltend, einmal im Vorübergehen betrachten. Im seltensten Fall wird er sich dabei aber seiner Bewegungen im Raum bewußt. Timm Rautert hat in einem Fotobeitrag diese visuellen Interventionen eingefangen – nicht als Betrachterporträts, sondern als Spur des abwesenden Rezipienten, die sich im Arrangement der Exponate (durch perspektivische Konstruktion, analytische Zerlegung, aufnahmetechnische Indizien) selbst anzeigt. So bleiben die Bilder resistent gegenüber ihrer deutenden Identifikation; just das fotografische Festhalten entbindet sie aus der Rezeptionsroutine.

Bewegungsunterbrechungen zur Erzeugung von Aufmerksamkeit für Bewegung einzusetzen – dieses Verfahren ist nicht den sistierenden Aufzeichnungstechniken vorbehalten, sondern läßt sich auch mit dem kinästhetischen Medium par excellence, dem Film, realisieren. Denn was der Kinogänger nicht wahrnimmt und doch Voraussetzung für die Sequenzialität seiner Wahrnehmung ist: die Leerstellen zwischen den einzelnen Filmbildern, kann gleichwohl durch filmtechnische Mittel sichtbar gemacht werden. Anselmo Fox hat in einem Daumenkino (das hier wegen seiner Dimensionen nur in exemplarischen Ausschnitten gezeigt werden kann) eben dies unternommen – und zwar mit einem Sujet, das seinerseits die unsichtbaren Voraussetzungen von Sichtbarkeit ins Blickfeld rückt: die als Gußform vergegenständlichte und nach außen gestülpte Mundhöhle bei einem Filmkuß. Ausführliche Erläuterungen des komplexen Projekts gibt der Künstler selbst.

Die Schwierigkeit der sprachlichen Beschreibung von Bewegungsbläufen erörtert Sabine Huschka in ihren Reflexionen über den Tanz – eine Art von Auslassung, die sich zwischen den Polen der Verortung im Raum und unverortbarer Zeitlichkeit abspielt und damit die darstellende Sprache vor besondere Herausforderungen stellt. Die paradoxe Aufgabe der Fixierung nichtfixierbarer Passagen im Schreiben über Tanz kann nach Huschka nur durch ein Ineinandergreifen von Beschreiben und Verschweigen gelöst werden. Wer über Tanz schreibt, setzt sich einem Prozeß der Sensibilisierung für das Ephemere aus, der eine permanente Konfrontation mit der ursprünglichen Sprachlosigkeit des Geschehens erfordert.

So leitet der Beitrag von Sabine Huschka zugleich über zu unserem dritten Komplex: der Auslassung im performativen Sinne.

 

III. Von Emphasen und Wucherungen, Ausuferungen und Eruptionen

Auch hier steht am Anfang die Stille. Diesmal aber liegt der Akzent nicht auf dem Innehalten als Unterbrechung des Geräuschs, sondern auf dem Innewerden naturhafter Abundanzen im Zulassen ihrer Ausgelassenheiten: Klaus Michael Meyer-Abich versteht im Kontext der platonischen Philosophie das Hören auf den Logos als ein Erinnern des göttlichen Wirkganzen, das sich nicht nur zwischen, sondern in den Teilen ausläßt.

Die platonische Anamnesis spielt (was in der heutigen Memoria-Forschung viel zu wenig beachtet wird) eine zentrale Rolle auch in Augustinus’ Bekenntnissen, und das bedeutet, daß deren Zehntes Buch mehr und anderes beschreibt als eine Topographie des Gedächtnisses, nämlich ein inneres Offenbarwerden. Das Offenbarungserlebnis geschieht, wie Jeanne Riou in einer performanzorientierten Parallellektüre zum Augustinus-Beitrag von Ingrid Kasten verdeutlicht, trotz der in den Bekenntnissen proklamierten Sinnesabstinenz im Modus der Emphase, also der emotionalen und körperlichen Ergriffenheit: Der immer wieder beschriebene Tränenstrom vermischt sich mit einem rhapsodischen Redestrom zu Auslassungen im Sinne des reuigen Zerfließens.

Konnte der Kirchenvater noch darauf vertrauen, daß die beharrliche Gottsuche letztlich durch das Geschenk der Gnade ihr Ziel findet, rührt sich in der Frühen Neuzeit Skepsis gegenüber der Teleologie des Offenbarungsgeschehens. Röcke zeigt am Komischen Roman des 16. Jahrhunderts, daß hier die konventionelle Chronotopie in ihr Gegenteil verkehrt wird. So beginnt z.B. das Leben des Helden am Ende seiner Geschichte, und auf seiner Reise in die Fremde landet er in der vertrautesten Nähe. Der Verlust der raumzeitlichen Ordnung markiert dabei nicht allein ein Scheitern menschlicher Sinnsuche, sondern bietet gleichzeitig Anlaß zum Lachen – nicht einem befreienden, sondern alternativlosen angesichts des Wahnsinns in der Welt.

Antilogischer Natur sind auch die humoristischen Ausgelassenheiten der Romantik. Günter Oesterle demonstriert an Brentanos Märchen von dem Dilldapp, wie sich darin die Verhältnisse zwischen Verfehlung und Reue ironisch umkehren: Die Prügel, mit denen man den Übermütigen zu bekehren sucht, bleiben ergebnislos; sie werden ihrerseits zum Gegenstand „linguistischer Abundanzen“, die sich in Brentanos Vorlage, Giambattista Basiles Der Wilde Mann, gar zu einer mnemonischen Inversion versteigen, indem sie bereits vor begangener Verfehlung als unvermeidlich antizipiert werden.

Eine wild entfesselte, sich selbst überschlagende Sprache findet sich auch bei Heinrich von Kleist. An den Botenberichten in seinen Kriegsszenarien untersucht Andrea Allerkamp die Tendenz zu einer über die dramatische Darstellbarkeit hinausgehenden Eskalation der Ereignisse; deren überbordende Fülle kann in den sich häufenden, immer atemloser werdenden Berichten nicht mehr eingefangen werden. Die Figur des Boten aber, mit der die Frage nach der Gastfreundschaft und der Zeugenschaft aufgeworfen wurde, verblaßt schließlich zunehmend im Verwirrspiel der dramatischen Handlung.

Die literarischen Beispiele für Auslassungen im Sinne von Sprunghaftigkeit und Abundanz können als Antizipation der wissenschaftshistorischen Tendenz zur Sprengung der herkömmlichen Taxinomien gelesen werden, der sich Horst Bredekamp in seinem Beitrag widmet. Als sich die Evolutionstheorie im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich durchsetzte, sah man sich vor das Problem gestellt, der Natur in ihrer diskontinuierlich-dynamischen, „wilden Üppigkeit“ darstellungstechnisch gerecht zu werden. Am Beispiel von Charles Darwins und Hugh E. Stricklands Visualisierungsversuchen zeigt Bredekamp, wie hier Alternativen zum symmetrie- und hierarchie-orientierten Ordnungsdenken entworfen werden, die der Abundanz der Natur mit anarchischen Kreisformschichtungen und dreidimensionalen Geographien begegnen.

Beschneidungen von Auswüchsen, Bereinigungen von Ausdünstungen und Ausflüssen haben nicht immer den intendierten disziplinatorischen Effekt, sondern rufen oft verstärkte Gegenbewegungen hervor, wie die folgenden beiden Beiträge zeigen: Während Jochen Hörisch sich über die körperlich purgierende, aber geistig verunreinigende Wirkung von Wasserwerken ausläßt und dessen Leitungssysteme alliterationsfreudig mit Leitungs- und Dienstleistungsstrukturen in der hanseatischen Bürgerdemokratie verbindet, beschreibt Götz-Lothar Darsow, die Spuren von Georges Batailles Histoire de l’œil im Werk Sophie Calles verfolgend, Ausflüsse des Auges im mentalitätsgeschichtlichen Kontext des Obszönen: Das Auge wird zum Repräsentanten der Geschlechtsorgane; es vergießt Tränen aus Körperflüssigkeiten, die durch sexuelle Stimulation freigesetzt werden. Was sich bei Bataille allerdings in einem monströsen Diskurs entlädt, verwandelt Calle in Bilder von abgründiger Heiterkeit, die die Grenzen der Humanität spielerisch ausloten.

Vollends ausgedient hat das tradierte Menschenbild im postbiologischen Zeitalter. An den Mangas der japanischen Subkultur der 90er Jahre demonstriert Tatsuyuki Kamio, daß Foucaults Prophezeiung, der Mensch werde wie ein Gesicht im Sand verschwinden, in diesen Bildgeschichten längst erfüllt wurde – und zwar im Sinne von digitaltechnisch ermöglichten Wucherungen künstlichen Lebens, das buchstäblich aus Sand, in der Form von Siliziumchips, gewonnen ist.

So ist zweifellos die von den Mangas antizipierte Mutation des Menschenbildes aufrichtiger als der Schönheitskult der Gegenwart. Bisweilen aber offenbart dieser schon selbst seine Verlogenheit – jedenfalls dann, wenn man ihn mit Claudia Benthien einer dichten Beschreibung unterzieht: Der als perfekt inszenierte, ‚makellos schöne‘ Körper kann ihr zufolge insbesondere unter den Bedingungen der neuen Medienästhetik zum Stigma werden. Denn der getilgte Makel, das unsichtbar gemachte Unschöne ist, wie Benthien darlegt, nicht geeignet, das Gefühl des Mangels aufzuheben, sondern hält dessen Präsenz in der Schwebe der permanenten Diskreditierbarkeit.

Auch Hans Ulrich Reck blickt mit Skepsis auf das Phantasma des Perfekten und zeigt, daß in einer vollständig mediatisierten Welt nicht die Unterbrechung der Störfall ist, den es zu eliminieren gilt, sondern ihre Nichtakzeptanz. Wo die Störung universell geworden ist, beschwört das übliche Reaktionsmuster, ihr entrinnen zu wollen, die Katastrophe herauf, die es zu vermeiden vorgibt.

Mit Feuerwerksgetöse endet denn auch unser Band: Thomas Macho entwirft ein pyrohistorisches Pano(d)rama, in dem die kulturübergreifend zentrale Bedeutung des Feuers von der Vorgeschichte bis zur zeitgenössischen Science-Fiction illustriert wird. An den Beispielen zerstörerischer Elementargewalt wird uns vor Augen geführt, daß die moderne Leitdifferenz zwischen Kultur und Natur ein unhaltbares Konstrukt ist. Vermeintliche Naturkatastrophen wie Blitze und Buschbrände erweisen sich oft als menschengemacht, und der menschliche Feuergebrauch entfacht nicht selten unbeherrschbare Naturgewalten.

 

Wie läßt sich die Einleitung eines Bandes zum vieldeutigen Thema ‚Auslassung‘ abschließen? Wir würden unserer eigenen Konzeption untreu werden, wenn wir hier nicht eine Leerstelle ließen, darauf vertrauend, daß die Leserinnen und Leser sich angeregt fühlen mögen, ihre eigenen Pfade durch die vorgelegte Essay-Konstellation zu wählen. Doch wir halten es auch nicht für einen Zufall, daß dieses Buch bei aller Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit der Denk- und Sprachstile gleichwohl Konturen eines kulturwissenschaftlichen Projekts erkennen läßt – eines Projekts, das die Freunde experimenteller Grenzüberschreitung eher begrüßen werden als diejenigen akademischer Disziplinierung. Beiden sei als Ermunterung ein ambivalentes Sprichwort zugerufen, das der in seiner Bescheidenheit ungenannt bleiben wollende Sponsor dieses Bandes ins Spiel brachte: „Loch an Loch – und hält doch!“

                                                                                                         5. Mai 2004