Peter Matussek

Aufmerksamkeit

 


Erschienen in: Pethes, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung; Reinbek bei Hamburg 2001, S. 59-60.

 

     
 

Geistige Hinwendung auf äußere oder innere Vorgänge und Objekte, die – wie der Wortbestandteil –> ‘Merken’ bereits andeutet – konstitutiv für das Erinnern ist. Der einprägende Charakter der A. beruht auf intentionaler Fokussierung (–> Einprägung), d.h. der willkürlichen Verengung des Wahrnehmungsfeldes, bei der alle anderen Eindrücke zugunsten des selektierten ausgeblendet werden (z.B. „Cocktail-Party-Phänomen“; vgl. –> Selektion), was je nach Intensität zu einer mehr oder weniger elaborierten –> Enkodierung führt. Zwar speichern wir auch solche Eindrücke, die unserer Apperzeption entzogen sind. Doch während diese ausschließlich dem –> impliziten Gedächtnis angehören, das einem gezielten –> Abruf nicht zugänglich ist, kann ein –> explizites Gedächtnis nur durch A. zustande kommen. Fokussierende A. ist freilich immer zugleich eine Form der A.s-Störung, da sie mit Unaufmerksamkeit für anderes einhergeht. Diese inattentional blindness kann, wie Laborexperimente zeigen, geradezu groteske Wahrnehmungsausfälle mit sich bringen (Simons/Chabris 1999). Aber auch das A.s-Objekt selbst diffundiert nach einer bestimmten Expositionszeit durch nachlassende Sensitivität (Habituation). Von einer pathologischen Überfokussierung spricht man, wenn es den Betroffenen aus Gründen einer affektiven Besetzung nicht mehr gelingt, sich vom A.s-Objekt zu lösen – was etwa bei traumatisierten oder depressiven Personen vorkommt (–> Emotion, –> Trauma).

Die Natur der unwillkürlichen A. ist es hingegen, beständig ihr Objekt zu wechseln. Verantwortlich hierfür sind neuronale Impulse, die fortwährend auf der ‘Suche’ nach Ungewöhnlichem sind. Normalerweise wird ein Großteil dieser Impulsfrequenzen im Frontalhirn ausgefiltert (vgl. –> Großhirn). Ist der Botenstoffwechsel dieser Region durch einen Dopaminmangel im synaptischen Spalt beeinträchtigt, kommt es zu einer A.s-Defizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHD). Obwohl das Symptombild also organische Ursachen hat, wird es heute oft als Beleg für die schädlichen Auswirkungen der Multimedia-Kultur angeführt, in der eine polyfokal zerstreute A. geradezu überlebensnotwenig scheint. Das Problem der A.s-Überforderung indessen ist kulturgeschichtlich weit älter, was die heutigen Appelle, auf eine überhitzte ‘A.s-Ökonomie’ mit einer restringierenden ‘A.s-Ökologie’ zu reagieren, wenig aussichtsreich erscheinen läßt. Schon die ältesten Kontemplationstechniken verfolgten oft die umgekehrte Strategie des unreglementierten Beobachtens. Die buddhistische Satipatthana-Methode z.B. empfiehlt, den Strom der wechselnden Wahrnehmungsinhalte selbst zum Meditationsobjekt zu machen. Das Pali-Wort für A. (sati) hat dabei ebenfalls die Nebenbedeutung des Merkens, allerdings nicht in dem o.a. Sinne des Einprägens, sondern des Innewerdens – was auch dem lateinischen religio („sorgsam beachten“) entspricht und noch in der Hegelschen Etymologie des Wortes Erinnerung („Sich-innerlich-machen“) oder dem niederländischen Sprachgebrauch (aandacht) nachlebt. Diese reflexive Qualität einer auf vorurteilslosem –> Eingedenken beruhenden Geistesgegenwart kommt in den profanen Erleuchtungstechniken der modernen –> Kunst dadurch zum Ausdruck, daß sie im Rezipienten eine „attentiveness to attention itself“ (Crary 1999, S. 359) evozieren – eine sich selbst beobachtende allgemeine Aufnahmebereitschaft, die –> H. Bergson als Selbst-A. bzw. „Aufmerksamkeit auf das Leben“ umschrieben hatte.

 

A. u. J. Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten; München 2001;D. J. Simons/C. F. Chabris, Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events, in: Perception Bd. 28, 1999, S. 1059-1074; J. Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture; Cambridge MA/London 1999; G. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998; Nyanaponika, Geistestraining durch Achtsamkeit. Die buddhistische Satipatthana-Methode, 6. Aufl. Stammbach 1997.