Peter Matussek

Gedächtnistheater

 


Erschienen in: Pethes, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung; Reinbek bei Hamburg 2001, S. 208-209.

 

     
 

(griech. théatron: Schauplatz, Theater). Schon immer gab es Bestrebungen, durch dramatische –> Inszenierung von –> Wissen das ‘tote’ Speicherwissen der –> Mnemotechnik (–> Auswendigkeit) in die lebendige Erinnerung der Subjekte zurückzuverwandeln. G. sind eine spezifische Erscheinungsform solcher Reanimationsbemühungen, die im 16. Jh. große Beachtung fanden und danach zunächst fast vollständig in Vergessenheit gerieten, in der Computermoderne jedoch eine auffällige –> Renaissance erfahren.

In Abhebung von den statuarischen Merksätzen der scholastischen Summenliteratur konstruierte G. Camillo ein Theatro della Memoria, in dem das Weltwissen szenisch imaginiert werden sollte. Grundlage dieser Wissensinszenierung war die neuplatonische Kosmologie des Corpus Hermeticum, die in Verbindung mit der lullistischen ars combinatoria der mittlerweile in Verruf geratenen klassischen ars memoriae zu einer eigenwilligen Neuaneignung verhalf: Die zentrale Anweisung der römischen Gedächtnistraktate, imagines agentes zu verwenden – Bilder also, die einen emotional ‘bewegenden’ Charakter haben (–> Emotion) –, wurde nicht mehr nur als bloßes Mittel zur besseren –> Einprägung verstanden, sondern als Medium der Steigerung von –> Aufmerksamkeit im Interesse eines emphatischen Er-Innerns. Anspielend auf jene Anweisung, ordnete Camillo die Memorabilia in seiner amphitheatralischen Konstruktion (–> Architektur) dergestalt an, daß sie „das Gedächtnis erschütterten“ (1550, S. 11). Der auf der Bühne stehende Besucher sah sich einem entsprechend evokatorischen Arrangement von emblematischen –> Bildern und kabbalistischen –> Zeichen gegenüber, die ihn von den Zuschauerrängen gleichsam anblickten. Die solcherart aktivierte Erinnerung makro- und mikrokosmischer Zusammenhänge wurde in einem Prozeß magischer Selbsttransformation zum Erlebnis der Teilhabe am göttlichen mens, ja der Identität mit diesem. Ähnliche Appellstrukturen einer divinatorischen scientia universalis kennzeichnen auch die G.-Systeme von G. Bruno und R. Fludd.

Demgegenüber scheint es fraglich, ob die seit den einschlägigen Untersuchungen von –> F. Yates zunehmenddiskutierte These einer Parallelität von historischen G.n und digitalen Informationsinszenierungen stimmig ist, da diese weniger auf reflexive Kontemplation als vielmehr reflexartigen Konsum von Wissen abzielen. Bemerkenswert ist aber die Tatsache, daß zahlreiche Künstler sich heute durch die traditionellen Vorbilder inspiriert fühlen, eben diese reflexive Qualität, wie sie bei Camillo durch die funktionale Inversion von Bühne und Zuschauerraum sinnbildlich zum Ausdruck kam, mit modernen Animationstechniken zu restituieren – so z.B. in B. Violas Theatre of Memory (1985), R. Edgars Memory Theatre One (1985), A. Hegedüs’ Memory Theater VR (1997) oder E. Hrvatins Camillo-Projekten (1998 ff.).

 

P. Matussek, Computer als Gedächtnistheater, in: G.-L. Darsow (Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 81-100; L. Bolzoni, Il Theatro della Memoria. Studi su Giulio Camillo, Padua 1984; L.B. Wenneker, An Examination of „L’Idea del theatro“ of Giulio Camillo, Pittsburgh 1970; G.D. Camillo, L’Idea del Theatro, Florenz 1550.