Peter Matussek

Mnemosyne

 


Erschienen in: Pethes, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung; Reinbek bei Hamburg 2001, S. 378-379

 

     
 

(griech. mnemos´yne: Erinnerung, Besonnenheit). Die griechische Göttin, deren Name bereits auf ihre Gabe des Sich-Innewerdens verweist, wird erstmals bei Hesiod erwähnt. Schon dieser früheste Beleg rückt sie in einen deutlichen Gegensatz zum späteren Gedächtnisbegriff der antiken –> Mnemotechnik: Nachdem Zeus sich mit M. verbunden hatte, gebar sie ihm die Musen, „damit sie“, wie es in der Theogonie ausdrücklich heißt, „Vergessenheit brächten der Leiden und Ende der Sorgen.“ Dieser scheinbar paradoxe Zusammenhang von M. und Lesmosyne klärt sich auf, wenn man sich die Funktion des Musenanrufs in der frühgriechischen Dichtung vor Augen führt (Snell 1964). Schon Homer ruft in der Ilias die Musen an, um sich an etwas erinnern zu können, wovon wir „nur eine Kunde“, aber selbst "nichts gesehen haben“ (–> Oral Poetry). Es geht hierbei weniger um die Befestigung des Vergangenen als vielmehr dessen lebendige –> Vergegenwärtigung, und dabei unterstützen den Dichter die Musen mit ihrer Fähigkeit, die Sorge, die den Blick auf das Wesentliche verstellt, vergessen zu machen. Auch Pindar verbindet seine Musenanrufe mit der Hoffnung, M. und ihre Töchter mögen ihm helfen, zu Einsichten vorzudringen, die vom menschlichen Alltagsgedächtnis überlagert werden. Die Erinnerungsgabe der M. reicht also über den Fokus der personalen –> Identität hinaus. Möglich erscheint dies im Kontext des pythagoreischen und orphischen Glaubens an die Seelenwanderung (–> Wiedergeburt). Beim Inkubationszeremoniell von Lebadeia etwa mußte der Knabe „das sogenannte ‘Wasser der lethe’ [des Vergessens] trinken, damit er alles vergesse, womit er bisher beschäftigt war, daraufhin ein anderes Wasser, das der mnemosyne[der Erinnerung], und dadurch erinnert er sich an das, was er bei seinem Abstieg geschaut hat“ (Pausanias, Beschreibung Griechenlands; –> Lethe, –> Vergessen). –> Platon, dessen –> Anamnesislehre diese Vorstellungen philosophisch rationalisiert, vergleicht im Theaitetos das "Geschenk von der Mutter der Musen" dem mehr oder weniger tiefen Abdruck eines Siegelrings in einer Wachstafel, womit er den zeitgebundenen Charakter des Erinnerns gegenüber dem räumlich-invarianten des –> Magazins hervorhebt.

Der musische Charakter der M. als Kriterium eines dynamisch-erlebnisorientierten Erinnerungsbegriffes wird v.a. in der spätaufklärerischen Kritik an den statisch-summarischen Formen der neuzeitlichen Wissensorganisation erneut akzentuiert. –> F. Hölderlins lyrische Verarbeitung des M.-Motivs bildet den dichterischen Angelpunkt für diese Wiederaneignung, –> M. Heidegger, der sich auf ihn bezieht, den philosophischen. Insbesondere –> A. Warburg aber ist es, der M. als Leitfigur einer kulturhistorischen Physiognomik reaktualisiert. Sein –> M.-Atlas – eine konstellative Anordnung von Bildmotiven zum Nachleben der Antike, die den in „Pathosformeln“ aufbewahrten „Prozeß […] der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte“ (Einleitung zum M.-Atlas) energetisch erfahrbar machen wollte – findet im Kontext der jüngsten Mediendebatte erneute Beachtung als Paradigma einer speicherkritischen Erinnerungsarbeit.

Das generelle Anliegen, „Geschichtsschreibung in eine ‘retrospektive Besonnenheit’ zu verwandeln, in welcher der menschliche Geist im begreifenden Akt der M. zu sich selbst kommt“ (Kany 1987, S. 185), bleibt freilich stets auf ihr anderes, die mnemonische Fixierung, angewiesen (–> Geschichte). Wie –> J. Derrida gezeigt hat, ist M. dialektisch eingebunden in die „wesentliche Zusammengehörigkeit des Denkens mit dem, was die Tradition als das ‘schlechte Gedächtnis’, als Mnemotechnik, Schrift, abstraktes Zeichen […] definiert“ (1988, S. 99). So ist die „Technik immer der Parasit für die wahre M., die Mutter aller Musen und die lebendige Quelle aller Inspirationen“ (S. 64).

 

M. Koos u.a. (Hg.), Begleitmaterial zur Ausstellung “Mnemosyne”, Hamburg 1994; J. Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988; R. Kany, Mnemosyne als Programm, Tübingen 1987.