Peter Matussek

Kritische Theorie

 


Erschienen in: Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will; Reinbek bei Hamburg 2000, S. 93-103.

 

     
 

"Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward" (Adorno 1966, S. 15). Mit diesem Einleitungssatz seiner "Negativen Dialektik" bringt Adorno den Grundgedanken der Kritischen Theorie auf den Punkt. Er nimmt eine doppelte Abgrenzung vor: Zum einen gegenüber der Kulturphilosophie, indem er klarstellt, daß die Kritische Theorie Kultur nicht nur kommentieren, sondern als uneingelöstes Potential begreifen soll, das erst in der praktischen Realisierung seinen Begriff erfüllt. Insoweit lehnt sich Adorno an die berühmte Marxsche These über Feuerbach an, die besagt: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern" (1845, S. 144). Zum anderen jedoch grenzt sich Adorno von der marxistischen Revolutionsdoktrin ab. Im historischen Rückblick auf die enttäuschten Hoffnungen, die mit den sowjetischen Umwälzungen verbunden waren, glaubt Adorno, der Feuerbach-These nur in ihrer Umkehrung die Treue halten zu können. Eine Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen, so lehrt seine Marx-Variation, kann nur aus einer fortgesetzten Interpretation der Welt hervorgehen, die erhellt, warum jene Hoffnungen trogen.

Der Satz aus Adornos erkenntniskritischem Spätwerk fiel in eine Zeit, die seinen Pessimismus ganz und gar nicht teilen mochte. Die revoltierenden 68er-Studenten forderten von ihren marxistischen "Vordenkern" konkrete Handlungsanweisungen und Beteiligung an ihren Aktionen. Als Nichtmitmacher wurde Adorno selbst zu einem Ziel der Protestaktionen. Die psychische Belastung, einerseits dem Spott der Studenten, deren Zielen er sich eigentlich nahefühlte, andererseits dem Hohn der Konservativen ausgesetzt zu sein, die ein tatkräftiges Durchgreifen forderten, dürfte zu seinem verfrühten Tod beigetragen haben. In seinem letzten Interview für den "Spiegel" ("'Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung…' Adorno: 'Mir nicht'") hatte er noch einmal mit stoischer Beharrlichkeit betont: "Im Augenblick […] scheint mir viel wichtiger, erst einmal die Anatomie des Aktionismus zu bedenken" (1969, S. 206 u. 208f.).

Diese Position hat einen langen Entwicklungsprozeß durchlaufen. Er beginnt in den zwanziger Jahren, als der Marxismus aus denselben Gründen in die Krise geriet, aus denen die Kulturphilosophie ihren Aufschwung nahm (vgl. Kap. II,3). Die historische Situation nach dem Ersten Weltkrieg war eher dazu angetan, die Erfüllung utopischer Hoffnungen im geistigen Reich der "Kulturwerte" zu suchen als in den "Sachgehalten" einer ruinösen Praxis. Diese widersprach allen Voraussagen des Historischen Materialismus: Auf der einen Seite erwies sich das kapitalistische Gesellschaftssystem in den fortgeschrittenenen Industrienationen als erstaunlich absorptionsfähig gegenüber dem Widerstand der von ihm Benachteiligten; Sozialkritik wurde als Teil des Kulturbetriebs, als dessen "gesunde Kost" sozusagen, integriert. Auf der anderen Seite fand ausgerechnet dort eine sozialistische Revolution statt, wo die Verhältnisse, der Doktrin nach, noch gar nicht reif hierfür waren; ein leuchtendes Vorbild konnten die desolaten Verhältnisse in Rußland nur für hartgesottene Ideologen sein. Entsprechend zwiespältig war die Haltung der Linken in Deutschland: Nach außen hin übte man Solidarität mit der leninistischen Variante des Marxismus, doch innerlich wuchs die Kritik an deren zunehmender Tendenz zu totalitärem, despotischem Verhalten. So hatte man sich die Diktatur des Proletariats nicht vorgestellt. Angesichts der gleichzeitigen Revolutionsmüdigkeit der kriegsgeschwächten Arbeiter in den westlichen Industrienationen und ihrer wachsenden Neigung zu Autoritätshörigkeit und Antisemitismus bestand erheblicher Erklärungsbedarf, warum das Proletariat – nach Marx das historische Subjekt des unaufhaltsamen sozialistischen Fortschritts – sich hüben wie drüben unterdrücken und entmündigen ließ.

In dieser Situation des Erklärungsnotstands, in der man sich mit der Frage konfrontiert sah, warum die marxistische Theorie sich nicht gemäß ihren eigenen Vorhersagen verwirklichte, wurde deren philosophische Dimension wiederentdeckt. Was in verschiedenen unorthodoxen Köpfen sich zu artikulieren begann, das Postulat einer Untersuchung der Tiefenstrukturen des Kapitalismus und seiner Immunisierungsfähigkeit gegenüber revolutionären Impulsen, fand bald Unterstützung durch eine Maßnahme, die als Glücksfall außeruniveritärer Akademien anzusehen ist: die 1923 erfolgte Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main aus Stiftungsmitteln, die der jüdische Fabrikant Hermann Weil bereitstellte. Schon die kapitalistische Herkunft des Geldes für den sozialistischen Zweck kann als Symptom für den undogmatischen Charakter des Unternehmens gesehen werden, und es war nicht das einzige. Der erste Direktor des Instituts, Carl Grünberg, betonte in seiner Eröffnungsansprache, daß wahrer Marxismus eine Denkweise, keine Doktrin sei, und hob die "relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung" (Jay 1973, S. 29) materialistischer Analysen hervor. Das soeben erschienene Werk "Geschichte und Klassenbewußtsein" des jungen, noch nicht zum Parteiideologen gewandelten Georg Lukács gehörte zu den zentralen philosophischen Anregern in dieser Frühphase des Instituts, das ein eigenständiges wissenschaftliches Profil noch suchte.

Dieses gewann es erst mit der Übernahme der Leitung durch Max Horkheimer im Jahre 1930. Der neue Direktor, der im institutionellen wie intellektuellen Sinn ein herausragendes Organisationstalent war, erweiterte den Fokus der Forschungsarbeit von der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Antisemitismus auf die Theorie der Gesellschaft insgesamt und ihrer Bindungskräfte. Er wollte den Reflexionsrückstand des zeitgenössischen Marxismus, der sich in der Nichterfüllung seiner Prognosen zeigte, vor allem durch die Einbeziehung neuerer Ansätze der empirischen Sozialforschung und der analytischen Sozialpsychologie überwinden. So untersuchte eine der ersten von ihm initiierten Studien die Mentalität von Arbeitern und Angestellten daraufhin, wie politsche Einstellungen und ästhetische Geschmacksorientierungen untereinander korrelierten. Das Resultat war ernüchternd. Es besagte, daß die "faktischen Einflußchancen der Linksparteien viel geringer waren, als es ihre numerische Wählermacht erscheinen ließ" (vgl. Dubiel 1978, S. 25). Denn unter diesen Wählern war autoritäres Denken mit einer entsprechenden Anfälligkeit für die massenkulturelle Propaganda rechter Ideologen weit verbreitet.

Die historischen Ereignisse sollten diesen Befund bald bestätigen. Hitlers Machtübernahme war auch deshalb möglich, weil ihm, dem unverhohlenen Verächter der Massen, deren Sehnsüchte entgegenstrebten. Kritisches Denken war kaum gefragt und bald auch nicht mehr geduldet. Das Frankfurter Institut, dessen Mitglieder sämtlich jüdischer Herkunft waren, mußte schließen. Horkheimer wurde bereits 1933 aus Deutschland verwiesen; ihm folgten Adorno, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse und andere. Durch eine hellsichtige Planung – den rechtzeitigen Transfer des Institutskapitals nach Holland, die Gründung von Zweigstellen in Genf, Paris und London und schließlich die Übersiedlung des gesamten Institus nach New York – sowie durch internationale Hilfsbereitschaft (zu den großzügigsten Spendern gehörte Henri Bergson) konnte die Arbeit trotz aller Widrigkeiten fortgeführt und damit nicht zuletzt den Mitarbeitern der Lebensunterhalt gesichert werden. Einzig für den in Paris verbliebenen Walter Benjamin – der auf Vermittlung Adornos als freier Mitarbeiter gewonnen worden war, bei den übrigen Institutsmitgliedern aber nur auf geringe Akzeptanz stieß – kam das Hilfsangebot zu spät: Auf der Flucht vor den Nazis, die 1940 in Frankreich einmarschierten, nahm er sich, um seinen Verfolgern nicht in die Hände zu fallen, an der Grenze nach Spanien das Leben.

Die Barbarei der Hitler-Diktatur, die sich nach der Beobachtung der Institutsmitglieder nicht trotz, sondern mit Hilfe moderner Wissenschaft und Technik durchsetzte, führte zu einer Neuorientierung, die Horkheimer in einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1937 als "kritische Theorie" definierte. Zwar postulierte er darin weiter den Einsatz neuer wissenschaftlicher Methoden zur Verbesserung der Lage der Menschen. Doch mittlerweile waren diese Methoden selbst in den Verdacht geraten, ein Denken zu unterstützen, das die Welt in den Zustand der Barbarei versetzt oder diesem doch zumindest nichts entgegenzusetzen vermocht hatte. Gerade deshalb, schreibt Horkheimer im Hinblick auf den positivistischen "Betrieb der modernen Fachwissenschaft", sei "die kritische Theorie der Gesellschaft auch als Kritik der Ökonomie philosophisch […]: ihren Inhalt bildet der Umschlag der die Wirtschaft durchherrschenden Begriffe in ihr Gegenteil, des gerechten Tauschs in die Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit, der freien Wirtschaft in die Herrschaft des Monopols, der produktiven Arbeit in die Festigung produktionshemmender Verhältnisse, der Erhaltung des Lebens der Gesellschaft in die Verelendung der Völker. […] Der Hinblick auf die Tendenzen der gesamten Gesellschaft, der noch in den abstraktesten logischen und ökonomischen Erwägungen entscheidend ist, nicht ein spezieller philosophischer Gegenstand, bezeichnet den Unterschied zu rein fachlichen Betrachtungen" (1937, S. 59). Was die "kritische Theorie" zudem von der "traditionellen Theorie" unterscheidet, ist ihre Selbstreflexion als Moment gesellschaftlicher Praxis. Indem etwa die Kulturphilosophie sich zur Lebenswelt – und sei es auch kritisch – beschreibend verhält, hält sie sich von vornherein an die tradierte Arbeitsteilung von Forschung und Politik. Die Kritische Theorie hingegen begreift ihr Dasein selbst schon als ein Symptom des falschen Zustands; ihr selbstreflexives Ziel ist ihre eigene Aufhebung in einer nichtentfremdeten Gesellschaft.

Das Mißtrauen gegenüber der modernen Wissenschaft, die bis in ihre Kategorien hinein mit den Mechanismen der Ausbeutung und Unterdrückung verflochten schien, führte in konsequenter Folge zur Vertiefung des marxistischen Ansatzes von wirtschafts- und sozialanalytischen zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Die marxistische "Kritik der politischen Ökonomie" wurde ausgeweitet zur "Kritik der instrumentellen Vernunft" – auch dies eine Formel Horkheimers, die nun in enger Zusammenarbeit mit Adorno entwickelt wurde. Das bedeutendste Produkt dieser Zusammenarbeit ist die zu Beginn der vierziger Jahre geschriebene "Dialektik der Aufklärung".Die Kernthese des allem Aktionismus abschwörenden und gleichwohl die spätere Protestbewegung maßgeblich inspirierenden Buchs ist, daß die aufklärerische Rationalität in den mythischen Bann, von dem sie die Menschen zu befreien sucht, zurückfällt, sofern sie nicht ihre eigene Herkunft aus dem Mythos bedenkt. Um diese These zu verifizieren, setzen Horkheimer und Adorno bereits bei der Urgeschichte der Menschheit an: Schon die frühesten, "primitiven" Ansätze der Subjektwerdung durch die instrumentelle Zurüstung der Umwelt zu Objekten der eigenen Nutzanwendung seien Vorformen jener Unversöhntheit zwischen Mensch und Natur, als deren Höhepunkt die Autorendie Heillosigkeit der eigenen Gegenwart ansahen. Da sich jedem zivilisatorischen Forschritt der Stempel seiner Abhängigkeit vom Prinzip der Selbsterhaltung einschreibe, jede Weiterentwicklung der Technik sich also nur um so tiefer in den Naturzwang verstricke, sei eine Versöhnung von Mensch und Natur nur möglich, wenn die instrumentelle Vernunft sich auf ihre eigenen Defizite besinnt. Eine entsprechende Selbstreflexion soll dazu führen, in aller Selbsterhaltung, so notwendig sie ist, ihre dialektische Kehrseite zu erkennen, die das Lebendige im Interesse der Herrschaft über die Natur verdinglicht und ihm dadurch Gewalt antut. Das Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft, das Marx noch auf den technologischen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts gegründet hatte, wird nun im Rückgriff auf Nietzsche und Freud von einer Befreiung der inner- und außermenschlichen Natur schlechthin abhängig gemacht. Dieses Ideal kann aber, da jedes begriffliche Denken sich notwendig in der Logik der Naturbeherrschung bewegt, nicht positiv formuliert werden. Einzig als philosophische Figur der Negativität, die mit den Mitteln des identifizierenden Denkens das Nichtidentische zu umstellen sucht, oder aber in der nichtbegrifflichen Sprache der Kunst vermag dieses utopische Ziel aufzuscheinen.

Zu ihrer allem positiven Denken radikal skeptisch begegnenden Position sahen sich Horkheimer und Adorno insbesondere durch die Beobachtung veranlaßt, daß der Nazi-Terror mit wissenschaftlich-technischer Organisation und Präzision betrieben wurde. Deshalb vermochten sie auch im Positivismus und der Technologiegläubigkeit des freien Westens keine wirkliche Gegenkraft zu erkennen. Unter den Erscheinungsformen der Liberalität entdeckten sie Tendenzen der Monopolisierung und des Konformismus: Die Konsumfreiheit diente zuallererst dem Großkapital; und die scheinbare Vielfalt der Kultur war industriell produziert zu dem Zweck, das Volk auf unterhaltsame Weise an der Einsicht in seine reale Abhängigkeit zu hindern. In Los Angeles, nahe bei Hollywood, wohin Horkheimer und Adorno 1941 zogen, fanden sie für ihre Thesen zur Kulturindustrie das Anschauungsmaterial. Auch die scheinbar wertfreie positivistische Wissenschaft schien ihnen in diesem Kontext nur die Rolle einer Affirmation des Bestehenden zu spielen, Propaganda zu betreiben für "den Mythos dessen, was der Fall ist" (1947, S. IX). Gerade in ihrer Selbstbescheidung auf das Faktische sahen Horkheimer und Adorno eine Form der Willkür, die das Nichtbegriffliche, im rationalen Zugriff nicht aufgehende Lebenselement der Phänomene unterdrücke.

Es wäre allerdings zu einfach, wollte man das erklärte Mißtrauen der Kritischen Theorie gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb als resignativen Rückzug ins spekulative Denken beschreiben, wie es immer wieder getan worden ist. Insbesondere der Exkurs zur homerischen "Odyssee", aus der die Autoren der "Dialektik der Aufklärung" eine Station in der durch Verhärtung gekennzeichneten Urgeschichte der Subjektivität herauslesen, ist häufig als Zeugnis der Abwendung von fachwissenschaftlicher Erkenntnis angeführt worden. Das Vorurteil, daß hier geschichtsphilosophische Phantasien an die Stelle solider Philologenarbeit getreten seien, ist inzwischen widerlegt. Wie die unlängst veröffentlichte Frühfassung des Exkurses deutlich macht, wurde hier von Adorno eine kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Altertumswissenschaft geführt, deren "historischen Positivismus" er dialektisch einem naiven Mythenglauben zurechnet, "einem Geiste, wie er etwa Siegfrieds Kampf mit dem Drachen durch die Entdeckung von Saurierskeletten erhärtet" (1943, S. 38). Gerade in der philologischen Tendenz zur Vereindeutigung des Uneindeutigen und zur Intoleranz gegenüber der Ungewißheit von Schicksal, sah Adorno eine Bestätigung für die Kernthese der "Dialektik der Aufklärung", daß die triumphierende Zivilisation die alte Barbarei noch übertrumpft.

Die Kritische Theorie hatte sich in dieser Phase weit von ihrem urspünglichen Konzept einer empirischen Sozialforschung entfernt. Nicht zufällig ist Adornos bedeutendste Produktion der kalifornischen Jahre neben der "Dialektik der Aufkärung" ein Aphorismenbuch: Unter dem Titel "Minima Moralia" verdichtete er seine amerikanischen Eindrücke zu "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" und führte sie zu dem ernüchternden Schluß: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (1951, S. 42). Nach Adornos Beobachtung reicht die gesellschaftliche Tendenz zur Verdinglichung bis ins Privatleben der Menschen hinein und verwandelt sein Wohnen wie sein Arbeiten in Formen der Anpassung. Obwohl er also der Aussagefähigkeit von Subjekten über ihre Lebensbedingungen genauso mißtrauisch gegenüberstand wie derjenigen ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen, führte ihn das nicht zu einem vollständigen Rückzug aus der empirischen Forschung, wie oft behauptet wird.

Das beweist unter anderem die umfangreiche, von Horkheimer und Samuel H. Flowerman herausgegebene Teamarbeit "Studies in Prejudice", zu der auch Adorno mit "Studien zum autoritären Charakter" (1949/50) wesentlich beitrug. Freilich ging Adorno mit einem durchaus qualitativ orientierten Ansatz an die Empirie. Seine abschätzige Meinung von quantitativen Methoden der Sozialforschung führte denn auch in einem anderen Zusammenhang, dem von Paul Lazarsfeld geleiteten 'Radio Research Project', in dem die Auswirkungen des Massenhörens untersucht wurden, zum offenen Konflikt, weil Adorno sich grundsätzlich weigerte, Wahrnehmungsweisen (die er etwa in seinem Aufsatz "Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens" untersucht hatte) nach quantitativen Meßverfahren zu beschreiben. "Als ich den Anspruch an mich gestellt sah, 'Kultur zu messen'", erinnert er sich später, "kam mir der Gedanke, daß Kultur gerade der Zustand sein könnte, der eine Mentalität ausschließt, die fähig ist, sie zu messen" (zit. bei Jay 1973, S. 264).

Ihre fundamental skeptische Einschätzung hat Adorno und Horkheimer nicht daran gehindert, intellektuelle Instrumentarien zu entwickeln, die sich mit der konkreten gesellschaftlichen Praxis auseinandersetzen. In ihrem Zentrum steht die "immanente Kritik" – ein Verfahren, das durch die Marxsche Devise inspiriert ist: "Man muß diese versteinerten Verhältnisse da­durch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre ei­gene Melodie vorsingt!" (1844, S. 20). Die immanente Kritik erkennt, nach einer Definition der "Dialektik der Aufklärung", "keine abstrakten Normen oder Ziele an, die im Gegensatz zu den geltenden praktikabel wären. Ihre Freiheit von der Suggestion des Bestehenden liegt gerade darin, daß sie die bürgerlichen Ideale, ohne ein Einsehen zu haben, akzeptiert, seien es die, welche seine Vertreter wenn auch entstellt noch verkündigen, oder die, welche als objektiver Sinn der Institutio­nen, technischer wie kultureller, trotz aller Manipulierung noch erkennbar sind. Sie glaubt der Arbeitsteilung, daß sie für die Menschen da ist, und dem Fortschritt, daß er zur Freiheit führt. Deshalb gerät sie leicht mit der Arbeitsteilung und dem Fortschritt in Konflikt" (Horkheimer/Adorno 1947, S. 218).

1949 kehrte das Institut zurück nach Frankfurt und mit ihm die meisten seiner Mitarbeiter (zu den Ausnahmen gehörten Marcuse und Löwenthal). Doch im Restaurationsklima des Adenauer-Deutschland waren die Rezeptionsbedingungen Kritischer Theorie denkbar schlecht. Die "Dialektik der Aufklärung",1944 in einer hektographierten Vorveröffentlichung, 1947 in einem kleinen niederländischen Verlag erschienen, blieb zunächstein unbekanntes Buch. Eine Neuausgabe fand erst im Zuge der Studentenbewegung statt: 1969, im Todesjahr Adornos. Er, der das reflexive Zentrum der Kritischen Theorie bildete, so wie Horkheimer das programmatische war, wurde nun zwar gelesen, aber von denen, für die er vornehmlich geschrieben hatte, mit Befremden aufgenommen. Sein umfangreiches Œuvre, darunter die großen Spätschriften zur Erkenntnistheorie und Kunstphilosophie, "Negative Dialektik" (1966) und "Ästhetische Theorie" (1970), lieferte den protestierenden Studenten zwar die zentralen Stichworte, entzog sich aber ihrer aktionistischen Ungeduld. In der Kritik am "Salonmarxismus" der Kritischen Theorie war sich die undogmatische Linke mit der dogmatischen einig. Georg Lukács, der einst zur ersten Gruppe gehört hatte, polemisierte nun, in den sowjetischen Apparat eingebunden, gegen die 'Frankfurter Schule', die er "Grand Hotel Abgrund" taufte, in dem "der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen" nicht zu Umsturzversuchen führen, sondern "die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen" könne (1955, S. 219).

Friktionen hatte es aber auch vorher schon in den eigenen Reihen gegeben. Bereits in der Zeit des Exils war der Kurs, den Adorno und Horkheimer einschlugen, insbesondere die Grundlagenkritik an der empirischen Sozialforschung, durchaus umstritten. Dies hatte unter anderem zum Austritt Erich Fromms 1939 sowie zur Aufspaltung in eine kalifornische und eine New Yorker Linie geführt, deren Leitung 1941 Paul Lazarsfeld übernahm.

Nach dem enttäuschenden Verlauf der Studentenrevolte war es das Hauptanliegen der jüngeren Vertreter Kritischer Theorie, diese wieder stärker nach szientifischen Kriterien auszurichten, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Motor dieser Bestrebungen war der als junger Assistent zu Adorno gekommene Jürgen Habermas, der in der negativ-dialektischen Subversion der wissenschaftlichen Rationalitätsfundamente eine unnötige Schwächung ihrer argumentativen Potentiale sah. Habermas erkannte durchaus die methodische Stärke der immanenten Kritik, hielt sie aber für nicht mehr zeitgemäß. Während Marx, schrieb er, sich noch "damit begnügen konnte, den normativen Gehalt der herrschenden bürgerlichen Theorien, des modernen Naturrechts und der politischen Ökonomie […] beim Wort zu nehmen und immanent zu kritisieren", sei nunmehr "das bürger­liche Bewußtsein zynisch gewor­den: Von verbindlichen normativen Gehalten ist es […] gründlich entrümpelt worden. Wenn aber die bürgerlichen Ideale, wie in Zeiten der Rezession noch unverhohlener zu Bewußtsein kommt, eingezogen sind, fehlen Normen und Werte, an die eine immanent verfahrende Kritik mit Einverständnis appellieren könnte. Auf der anderen Seite sind die Melodien des ethischen Sozia­lis­mus ohne Ergebnis durchgespielt worden" (1976, S. 10).

An die Stelle der immanenten Kritik sollte daher eine transzendente Kritik treten, die gesellschaftliche Fehlentwicklungen an einem ausformulierten Normengerüst messen könnte. Das zu diesem Zweck aufgestellte Projekt einer "Rekonstruktion des Historischen Materialismus" baute Habermas in den siebziger und achtziger Jahren unter Zugrundelegung sprachanalytischer und -pragmatischer Modelle (Wittgenstein, Austin, Searle, Apel) konsequent zu einer diskursethisch orientierten "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) aus und bildete damit das Zentrum der dritten Generation der Kritischen Theorie.

Die sprachanalytische Rekonstruktion steht in Konkurrenz zu einer anderen Form der Weiterführung der Intentionen Kritischer Theorie, die ebenfalls linguistisch fundiert ist, aber von einem völlig anderen Sprachmodell ausgeht: dem des Poststrukturalismus. Dieser übernahm von dem Genfer Begründer der strukturalistischen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure, die These, daß Bedeutungen von Zeichen sich immer nur in Differenz zu anderen Zeichen bestimmen ließen, nicht durch die den Signifikanten vermeintlich "zugrundeligenden" Signifikate, die ihnen nur durch eine willkürliche, arbiträre Operation zugeordnet seien. Der Poststrukturalismus weitet dieses Differenztheorem auf Kulturen und ihre Selbstdarstellungen aus, um deren zeichenhafte Konstruiertheit und Arbitrarität in einem an der surrealistischen Ästhetik geschulten Verfahren zu de-konstruieren (vgl. Frank 1983, Culler 1982).

So stellt sich die Situation Kritischer Theorie heute als eine Aufspaltung dessen dar, was Adorno in einer zwischen analytischer und ästhetischer Urteilsbildung pendelnden Denkbewegung zu überspannen suchte (vgl. Lehmann 1984, Matussek 1992). Doch es gibt auch im thematischen und argumentativen Spektrum der Cultural Studies Ansätze, die explizit oder implizit an Adornos Doppelperspektive anknüpfen. Durch die Erzeugung von phänomenerhellenden Kontrasteffekten zwischen rekonstruktiven und dekonstruktiven Verfahren bleibt in diesen neueren Ansätzen die zweite Generation Kritischer Theorie präsent und trägt mehr noch als die dritte zur methodischen Neuorientierung der Kulturwissenschaft heute bei.