Peter Matussek

Computer als Gedächtnistheater

 


Erschienen in: Darsow, Götz-Lothar (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter; Stuttgart-Bad-Cannstatt 2000, S. S.81-100.
Geht auf einen Vortrag von 1997 zurück.

 




"Einen sehr originellen Beitrag hat Peter Matussek verfaßt: Er vergleicht den Computer und seine Benutzeroberfläche mit dem Gedächtnistheater des Renaissancegelehrten Giulio Camillo Delminio."
Sic et Non – Forum for Philosophy and Culture

     
 

Das Neue der neuen Medien erkennen wir erst, wenn wir nach den alten medialen Praktiken fragen, die darin ihre latente Dynamik entfalten. Diese These will ich im folgenden an einem bestimmten Phänomenbereich verifizieren: dem Interface-Design heute gängiger Computersysteme.

Was ist Interface-Design? Das deutsche Wort "Oberflächen­programmierung" sagt aus, wie meist darüber gedacht wird – dichotomisch: Das eine ist die Information, das andere ihre Präsentation. Die binäre Logik der Denkmaschine bestimmt offenbar auch hier, wie in so vielen Bereichen, die Denkmodelle, in denen über sie reflektiert wird. Während herkömmliche Gedächtnismedien stets unter dem Gesichtspunkt der materialbedingten Relation von Form und Gehalt betrachtet wurden, scheint die digitale Revolution beides entkoppelt zu haben. Rückblickend liest sich dann auch die Geschichte der analogen Medien ganz anders. So etwa bei John Perry Barlow:

 

"[…] one of the side effects of digital technology is that it makes those containers irrelevant. Books, CDs, filmstrips – whatever – don't need to exist anymore in order to get ideas out. So whereas we thought we had been in the wine business, suddenly we realized that all along we've been in the bottling business."[1]

 

Die Plötzlichkeit von Barlows Eingebung ist weniger Zeugnis ihrer Richtigkeit als vielmehr dafür, daß sie unter dem Schock des Neuen das Alte verzerrt wahrnimmt. Weder den analogen noch den digitalen Medien wird es gerecht, die Information von der Präsentation zu scheiden wie den Wein, als das Wesentliche, von der Flasche als dem Unwesentlichen. Um im Bild zu bleiben: Die Flasche hat einen erheblichen Einfluß auf die Qualität des Weins. Und da das im neuen "bottling business" viel zu wenig beachtet wird, sehen wir uns allzu häufig einer Situation gegenüber, wo wir gleichsam den Internet-Kellner rufen möchten, um ihm zu sagen, daß die Daten moussieren oder die Information korkt.

Was also ist Interface-Design? Die erste Schwierigkeit, die es zu begreifen gilt, ist, daß wir es bei Computern technisch mit einer Entkoppelung von Daten und Verarbeitungsprogrammen zu tun haben, phänomenologisch aber eine entsprechende Unterscheidung sich gleichwohl als Täuschung erweist. Informationen erhalten wir, weil uns Daten, die im Wortsinn schlechthin "Gegeben" sind, derart "in Form" gebracht werden, daß wir ihnen Bedeutung entnehmen können.[2] Zum Begriff der Information gehört es also erstens, daß sie als Wahrnehmungsobjekt präsentiert wird; denn die im Computer gespeicherten Sequenzen von positiven und negativen Ladezuständen sind erst nach ihrer Umkodierung zu Buchstaben und Bildern, Steuerungselementen und Szenarien für uns verstehbar. Damit das derart Präsentierte Bedeutung für uns erlangen kann, muß es interpretiert werden; eine Information ist also zweitens dadurch charakterisiert, daß wir ihr je nach unserem individuellen Rezeptionshorizont Relevanz und Sinn zuschreiben. Und da an jeder Informationsgewinnung ein konstitutiver Akt des Subjekts beteiligt ist, gibt es schlechterdings keine Oberflächenprogrammierung, die nicht in die von ihr präsentierten Daten eingriffe; – ja, wir können sogar die Relation aufstellen: Je "oberflächlicher", hardware-ferner das Interface-Design, desto tiefer der Eingriff in die Bedeutungskonstitution. Diese wiederum gehört per se zu den Parametern unserer Erlebnisbildung und Handlungskoordination, so daß wir von der Gleichung ausgehen können: Interface-Design ist Interaktions-Design.

Wenn wir nun versuchen, die gegenwärtigen Erscheinungsformen von Computerdaten und die von ihnen evozierten Reaktionsweisen daraufhin zu betrachten, welche historischen Muster darin eventuell ihr Schattendasein führen, um so zu einer Art Urgeschichte der Siliziumzeit zu kommen, tritt sogleich eine weitere Schwierigkeit auf, die mit der soeben genannten zusammenhängt: Die relative Unabhängigkeit des Interface- vom Hardware-Design hat eine so breit gefächerte Vielfalt von Formen und Stilen hervorgebracht, daß sie alle möglichen historischen Vergleiche nahelegt. Diese Vielfalt der neuen Memorialarchitekturen stilgeschichtlich charakterisieren zu wollen, erscheint ähnlich abwegig wie der Versuch, das Wesen der postmodernen Architektur danach zu bestimmen, welche Epochen in ihr zitiert werden.

Wer also, wie schon die antike Historie, in der Wiederholung ein mahnendes Zeichen erblickt, daß wir aus der Geschichte nicht gelernt haben, der muß die heutigen Methoden der Computernutzung, bei allen Raffinessen des Edu- und Infotainments, als Symptom einer renitenten Lernschwäche erleben. Das Abkupfern von allen möglichen Vorlagen gehört unvermeidlich zum Naturell aller Interface-Designer. Es geschieht ganz automatisch, auch dort, wo sie versuchen, es sich zu verbieten. Denn die Funktionalität ihrer Produkte ist auf Wiedererkennung angewiesen. So wird in der Regel jeweils die Form der Datenpräsentation realisiert, die der Entwickler aus seinem Lebensumfeld kennt und mag. Und dabei schleicht sich dann Älteres ein: in Microsofts Wohnstuben-"Office" eine Kleinbürgerversion des antiken Gedächtnispalastes, in die Layouts akademischer Datenbanken ernüchterte Reminiszenzen an die Epoche der taxonomischen Tableaus und in die Gestaltung intelligenter Agenten eine elektrifizierte Neuauflage der rhetorischen Lehre von den imagines agentes, wie sie offenbar der MIT-Definition von intelligentem Verhalten entspricht: Die digitalen Gedächtnishelfer werden in den dortigen High-Tech-Labors als treudoof apportierendes Hündchen dargestellt.[3]

Daß diese Vergleiche parodistisch anmuten, spricht nicht gegen die Beobachtung, daß wir es hier mit Nachahmungen historischer Vorbilder zu tun haben. Die Wiederholung historischer Konstellationen, das wußte schon Marx, zeigt sich als Farce. Dem scheint nur eine fröhliche Wissenschaft angemessen zu sein, die den Reminiszenzen des Alten im Neuen mit gebührender Ironie begegnet. In diesem Sinne erkannte Umberto Eco in den Auseinandersetzungen zwischen Macintosh- und MS-DOS-Anhängern eine Wiederkehr der Glaubenskämpfe der Reformationszeit – und damit eben doch so etwas wie einen historischen Schwerpunkt in der Vielfalt der Zitate.[4] Denn wer wollte bestreiten, daß die Iconolatrie der einen Seite von katholischem, der Iconoklasmus der anderen hingegen von protestantischem Geiste sei? Dabei lasse ich es dahingestellt sein, ob MS-DOS wirklich zum calvinistischen Flügel des Betriebssystemprotestantismus gehört, wie Eco meint, oder ob die von PCs ausgehende Verpflichtung auf den Wortlaut der Schrift, die jede exegetische Eigenwilligkeit streng zurückweist, nicht vielmehr als Nachhall des insistierenden "est, est, est" gedeutet werden muß, das Luther im Streitgespräch mit Zwingli jedesmal auf den Tisch geklopft haben soll, wenn dieser sich mit einem bloßen "significat" begnügen wollte. Unbestreitbar hingegen ist die  Tatsache, daß die Einführung des Macintosh 1984 ein Schisma in der Computistenheit bewirkte, das in manchen Zügen an frühere Konfessionsstreitigkeiten erinnert. Ich übergehe wiederum die Detailfrage, ob Apples katholische Gegenreformation aufgrund ihres Missionseifers und ihrer schulischen Orientierung als jesuitisch zu präzisieren ist; auch soll hier unerörtert bleiben, ob es sich bei der Einführung von Microsoft Windows um eine echte Konversionsbewegung im Sinne der deutschen Romantik handelte oder um eine Kirchenspaltung anglikanischer Art, die dem zeremoniellen Bedürfnis Rechnung trägt, ohne deshalb den nüchternen Kern der Lehre – den Kernel, wie er in der Computersprache heißt – zu ändern, wie ja auch bei Windows jederzeit die Möglichkeit besteht, zu MS-DOS zurückzukehren. Festzuhalten bleibt, daß sich der Betriebssystemkatholizismus inzwischen plattformübergreifend durchgesetzt hat. Auch das Internet ist von seiner spröden Unix-Literalität abgerückt und bekennt sich zum Bildkatechismus des World Wide Web.

Damit aber stößt Ecos fröhliche Komparatistik an die Grenze ihres Differenzierungsvermögens. Die Genealogie der neuen Benutzeroberflächen verlangt eine Erweiterung des historischen Vergleichrahmens, die sich mit den heidnisch-antiken Wurzeln des modernen Bilderkults auseinandersetzt. Dieser beruht ja nicht einfach auf meditativen Andachten, sondern auf einer manipulativen, animistischen Praxis, die die Bilder zum Leben erweckt. Die über den christlichen Geschichtshorizont hinaus zu kommentierenden Phänomene heißen Direct Manipulation und Interactive Animation.[5]

Der Schritt in die Antike wird uns leicht gemacht durch ein – nun wirklich seriös gemeintes – Angebot von Brenda Laurel, unbestritten einer der einflußreichsten Impulsgeberinnen für das Interface-Design heutiger Computersysteme. In ihrem Grundlagenwerk Computers as Theatre, das mittlerweile Kultbuchstatus hat, erklärt sie die griechische Tragödie des 5. und frühen 4. Jahrhunderts zum Ur- und Vorbild der mausgesteuerten Interaktion.[6]

Der Vergleich ist umfassend gemeint. Laurel verweist auf den dionysischen Kontext der antiken Tragödie und betont den rituellen gegenüber dem kognitiven Aspekt, den wir mit Computern zu assoziieren gewöhnt sind. Das Spezifikum von Computern besteht ihr zufolge weniger darin, Wissen zu repräsentieren als Handlungen, an denen Menschen partizipieren. Die Mensch-Maschine-Interaktion, fordert sie, müsse ähnlich wie in der Aufführungspraxis der griechischen Tragödie alle Lebensaspekte bis hin zur spirituellen Erfahrung einbeziehen:

"Recall that in the Greek theatre, actors were the priests of Dionysus, the god of ecstasy and rebirth, and during the act of performance they felt themselves to be in possession of the god […].

I think we can someday have Dionysian experiences in virtual reality, and that they will be experiences of the most intimate and powerful kind […].

But for virtual reality to fulfill its highest potential, we must reinvent the sacred spaces where we collaborate with reality in order to transform it and ourselves." [7]

 

Wenn diese Resakralisierung der virtuellen Realität gelänge, so ihr enthusiastisches Resümee, wäre das ein "quantum leap in human evolution"[8] .

Schaut man sich in den Netzen um, so kann der Eindruck entstehen, als sei Laurels Vision ihrer Verwirklichung gar nicht so fern. "Multi User Dungeons", digitale Amphitheater mit Namen wie "Holy Mission", "Heaven's Door" oder "Quest for the Eternals" laden ein zur Selbsttransformation durch Partizipation als "Avatar", wie die kybernetische Reinkarnation mit dem hinduistischen Begriff meist genannt wird.[9] Aber auch dort, wo nicht explizit mythologische Anspielungen verwendet werden, erinnert die Obsession, die für manchen vom Computertheater ausgeht, an archaische Mysterienkulte. Unter Umständen freilich kann das dann wirklich zur Tragödie werden, wie in dem Fall des kollektiven Selbstmords von Sektenführer Applewhite und 38 seiner Anhänger, die ihre "container" – so nannten und empfanden sie ihre Körper – verließen, um mit dem vorbeziehenden Kometen Hale-Bopp auf Himmelfahrt zu gehen. Das Internet hatte sie – über ihre Web-Agentur "Higher Source" – am Leben erhalten, dabei aber anscheinend auch ihre Sehnsucht nach Entkörperlichung genährt. Den animierten Kometenschweif im Logo des Netscape-Browsers stets im Auge, hatten sie ihre Einswerdung mit der höheren Quelle in ihrer virtuellen Heimat, auf ihrer Homepage mit den Worten angekündigt:

"If you study the material on the website you will hopefully understand our joy and what our purpose here on earth has been. You may even find your 'boarding pass' to leave with us […]" [10]

 

Um möglichst viele dieser Bordkarten ausgeben zu können, hatten die Programmierer von Heaven's Gate im Code ihrer Seiten Schlüsselworte für die Suchmaschinen des Internet versteckt. Zu ihnen gehörten: "Angels", "Away Team", "Boddhisattva", "Glorified Body", "Theosophy", "Yahweh".

Die gnostischen Züge – nicht nur dieser Wahnsinnstat, sondern auch der zahlreichen harmlosen Spielarten elektronischer Ekstase – sind unübersehbar. Sie widersprechen diametral der von Brenda Laurel gehegten Erwartung, daß eine Perfektionierung partizipatorischer Interfaces zu einer Intensivierung des Daseinsgefühls im Sinne einer "Dionysian experience" führe. Das Gegenteil ist der Fall: Das Faszinosum des Virtuellen geht auf Kosten der eigenleiblichen Empfindung – mit deren Schwinden freilich die Suggestivkraft der simulierten Wirklichkeit sich erhöhen kann, da die dargebotenen Reize unmittelbar, ohne Reflexion des eigenens Befindens, rezipiert werden. "This is more real than my real life" – so die typische Auskunft eines passionierten Avatars im Interview mit der Computerpsychologin Sherry Turkle.[11] Das Geheimnis der kybernetischen wie gnostischen Selbststeigerung besteht im Verlassen des lästigen Körpers, der nur mehr als beengender Container wahrgenommen wird. "After all," resümiert ein anderer Netzbewohner aus Turkles Sample, "why grant such superior status to the self that has the body when the selves that don't have bodies are able to have different kinds of experiences?"[12]

Unwillkürlich unterlaufen Brenda Laurel ähnlich asketistische Formulierungen trotz ihres expliziten Bekenntnisses zum dionysischen Lebenstaumel. So etwa, wenn sie für eine "extension of ourselves embodied in our systems" optiert.[13] Eine derartige Extension aber kann trivialerweise nur um den Preis gelingen, daß sie mit dem Systemkörper kompatibel ist, das heißt unter Ausschluß alles Organischen. Der von Laurel erhoffte Quantensprung der Menschheit besteht in der sprunghaften Entscheidung für eine quantitativ berechenbare Daseinsform.

Ist es also Augenwischerei, das Theatralitätsmodell auf die Mensch-Maschine-Interaktion anzuwenden? Täuscht es Qualitäten vor, die von den Systemvoraussetzungen jener Kommunikation gar nicht erfüllt werden können?

Der technisch orientierte Zweig der heutigen Medientheorie neigt in der Tat zu dieser Argumentation. Ein digital aufbereitetes Wahrnehmungsobjekt gilt ihm per se als unkörperlich, der Glaube an seine Existenz daher als trügerisch. Im Computer ist ein Bild kein Bild, ja selbst die Schrift keine Schrift: "Alle Buchstaben, die scheinbar harmlos auf den Monitoren, Druckern und Synthesizerkeyboards laufen, sind nichts anderes als endlos verschlüsselte Zahlen"[14] – erklären uns die Hardware-Grammatologen.

Mit der gleichen Argumentation ließe sich sagen: was da so scheinbar harmlos auf den Seiten eines Buches erscheint, ist nichts weiter als ein Oberflächeneffekt von Druckerschwärze, eine unendlich komplexe Anordnung von Farbmolekülen. Entsprechendes gilt für bildschirmpräsente Bilder. Die Behauptung, daß diese allein schon aufgrund ihrer Binärkodierung prinzipiell andersartig seien, ist sachfremd, unter Umständen auch banausisch.[15] Im Grunde ist jedes Bild immateriell, handle es sich um ein Ölgemälde oder eine Bitmap, da erst der Vorgang des Sehens und die Besonderheiten der Wahrnehmungssituation seine piktorale Existenz konstituieren.[16]

Die Unterscheidung von digitalen und analogen Medien kann auf der Objektebene allein nicht sinnvoll getroffen werden. Das Spezifikum der elektronischen Datenverarbeitung erfassen wir erst unter Einbeziehung ihrer Rezipienten. Es sind die Besonderheiten der Situation seiner Nutzung, die den Computer wie alle seine Vorgänger als Medium charakterisieren. Diese Besonderheiten zeigen sich, wo Mensch und Maschine interagieren. Brenda Laurels Theatralitätskonzept trägt diesem performativen Aspekt Rechnung, und insofern ist es angemessen. Es reduziert den Computer nicht auf seine technische Funktionalität, sondern begreift ihn als Medium im umfassenden Sinne, das heißt als Element einer kulturellen Praxis.[17] Daß es gleichwohl diagnostische Schwächen aufweist, liegt nicht am Theatralitätskonzept als solchem, sondern an der verfehlten historischen Analogie, mit der es konkretisiert wird: Um die Aufführungspraxis der griechischen Tragödie mit der Situation einer interaktiven Computernutzung gleichsetzen zu können, muß Laurel alle Faktoren, welche die Schnittstelle als Schwelle zwischen zwei Wirklichkeitsebenen erscheinen lassen, zum Verschwinden bringen. Konsequent spricht sie vom "vanishing interface" – ermöglicht durch Virtual-Reality-Technik und "multisensory representations"[18] .

Zu deutsch: Viel hilft viel. Daß die Zunahme an Sinnesreizung mit dem Gefühl von "Lebendigkeit" korreliert sei, ist ein einträglicher Glaube, der in fast allen neueren Interface-Konzepten zu finden ist.[19] Schon die Theoretiker des florentinischen Disegno wußten es besser: Je geringer die Breite des Wahrnehmungsspektrums, um so größer die Eigenaktivität der Sinne. Auf den virtuellen Bühnen des Cyberspace wird in der Regel die umgekehrte Erfahrung gemacht. Um es auf Wienerisch zu sagen – mit den Worten einer Theaterregisseurin, die einschlägige Erfahrungen auf realen und virtuellen Bühnen gesammelt hat: "Je mehr aus dem Kastl kommt, desto weniger kommt außerhalb des Kastls." Ihre Konsequenz ist freilich nicht der Verzicht auf virtuelles Theater, sondern das Engagement in Projekten, die durch evokatorische Elemente die Aktivität des Zuschauers herausfordern. Unter meist parodistischen Titeln wie MetaMOOphosis oder Hamnet  wird das Interface nicht zum Verschwinden, sondern ironisch-selbstreferentiell ins Spiel gebracht.[20]

Das Konzept des "vanishing interface" dagegen führt zur Neutralisierung der Urteilskraft. Daß es – dem Sprichwort zufolge – kein Fisch war, der das Wasser entdeckte, nimmt Brenda Laurel als eine Bestärkung ihrer Position.[21] Wenn aber die Fische von realen in simulierte Gewässer hinübergleiten und dank vorzüglicher "multisensory representation" davon nichts merken, dann wird das für sie zum Problem. Mit einem anderen Bild: Ist der Schnitt der Schnittstelle nicht mehr spürbar, besteht die Gefahr, sich fortwährend daran zu verletzen.

Um ihr vorzubeugen, sind Interface-Konzepte vonnöten, die den Computer als einen expliziten Teil der Interaktion ins Spiel bringen. Damit kann sich Laurel freilich nicht abfinden. "If the same phenomena happened in the domain of film," polemisiert sie, "we would all go to see projectors instead of movies."[22] Dem ist entgegenzuhalten, daß künstlerisch ambitionierte Filme sich häufig genau dieses Effektes bedienen, um die kinematographische Illusion, als die Bergson unsere Alltagswahrnehmung beschrieb, aufzuheben.[23] Entsprechende Verfahren zur Erzeugung medialer Selbstreferenz haben alle Kunstgattungen entwickelt, um die vergessenmachende Wirkung der Gedächtnisspeicher ins Bewußtsein zu heben und eine Anamnesis der darin eingeschlossenen Erfahrungspotentiale zu bewirken.[24]

Im Computerzeitalter ist dieses Projekt wichtiger und zugleich schwieriger denn je. Noch nie war das Verhältnis von Speichern und Vergessen seinem absoluten Indifferenzpunkt derart nah. Und wenig spricht dafür, daß sich daran etwas ändern ließe. Doch wenn ein Lernen aus der Geschichte auf dem Gebiet der Erinnerungstechniken überhaupt möglich sein sollte, dann nur unter Stärkung der anamnetischen Eigenaktivität gegenüber der Neigung zum hypomnematischen Prothesengebrauch. Die erste Voraussetzung hierfür ist die Schaffung eines entsprechenden Differenzbewußtseins. Dieses wird durch die Selbstmythifizierungen der Computerszene in der Regel nivelliert. Brenda Laurels Vergleich von Virtual Reality-Szenarios mit der griechischen Festspielpraxis ist das Produkt einer solchen Mythenbildung; der antike Kult erfüllt hier eine ähnliche Funktion für die Multimedia-Industrie wie der geflügelte Hermes für das Berufsbild des Briefträgers.

Dennoch bleibt das Theatermodell als solches aus den genannten Gründen gültig. Allerdings müssen wir eine andere historische Konkretisierung heranziehen, wenn wir verstehen wollen, was die Interaktion mit Computern heute prinzipiell charakterisiert, und welches die dabei ungenutzten Potentiale sind. Das von Laurel vorgeschlagene Modell ist ja keineswegs das einzig denkbare. Schließlich ist es nichts ungewöhnliches, daß Gedächtnisspeicher mit Theatern verglichen werden – man denke etwa an Zwingers Theatrum vitae humanae, Bodins Universae Naturae Theatrum oder Alsteds Theatrum Scholasticum.[25] Als potenzierte Datenspeicher sind Computer zweifellos auch in dieser enzyklopädischen Genealogie zu sehen. Daß sie darüberhinaus den theatralischen Aspekt im performativen Sinne wieder verstärkt ins Spiel bringen, diese Doppelfunktion legt geradezu zwingend den Vergleich mit den Gedächtnistheatern der Renaissance nahe.

Antike Wurzeln haben wir auch hier: Giulio Camillo Delminio, um den es im folgenden hauptsächlich gehen soll, orientierte sich am vitruvianischen Theater.[26] Und das "Schauspiel", das er darin zur Aufführung brachte, datiert zurück bis in die Zeit der griechischen Tragödien. Dennoch ist es von völlig anderer Art. Camillo inszenierte die Grundprinzipien der antiken Mnemotechnik – in einer aktualisierenden Regie, die die hermetisch-kabbalistischen Strömungen seiner Zeit aufgriff. Zu diesem Zweck drehte er die Topographie des neoklassischen Theaterbaus um: Der Besucher blickt in den Zuschauerraum, der ob seines abgestuften Halbrunds geeignet war, die Gedächtnisbilder übersichtlich unterzubringen – aufgeteilt in sieben mal sieben Bögen über sieben ansteigenden Rängen. Mit dieser Umkehrung ließ sich die Effizienz der antiken Memorialarchitekturen bedeutend erhöhen. Das war auch nötig, denn das überlieferte mnemonische Prinzip der Gedächtnisorte war mittlerweile an eine Kapazitätsgrenze gelangt. Schon Augustinus, der als Rhetoriklehrer ein klassisch geschultes Gedächtnis hatte, beschrieb die loci als unüberschaubar und grenzenlos. Die einschlägigen Traktate des Mittelalters hatten schließlich die Bedeutung der Bilder zugunsten von schriftlichen Anweisungen immer mehr zurückgedrängt, so daß die Ars Memorativa zur Angelegenheit eines exegetischen Expertentums geworden war. Auf diese neue Unübersichtlichkeit reagierte Camillo mit seiner Konstruktion, die es ermöglichen sollte, das schier unendlich angewachsene, von zahllosen Kommentaren überwucherte Wissen der Rhetorik abermals unter eine bildorientierte Oberflächenstruktur zu bringen, so daß der Benutzer des Theaters, wie es heißt, "über jedes Thema nicht weniger gewandt disputieren kann als Cicero."[27]

Auch die Geschichte der neueren Interface-Technik beginnt mit einer Rückbesinnung auf das Prinzip der Gedächtnisorte. Der Simonides unserer Tage heißt Steve Jobs. Und wie im Falle des Sängers, dem von der rhetorischen Überlieferung die Erfindung der Gedächtniskunst angedichtet wurde, ist es auch im Falle von Apples Firmengründer nur eine Legitimationslegende, die ihn zum Erfinder des direct manipulation interface machte.[28] Gleichviel: Durch Jobs wurde die alte Erkenntnis, daß bildbasierte Topiken die höchste mnemotechnische Effizienz aufweisen, für den Computermarkt erneuert. Daß es sich dabei um eine historische Reprise handelte, ist von Apples Human Interface Group niemals reflektiert worden. Doch die von ihr entwickelten Richtlinien für die grafische Benutzerführung könnten durchaus der rhetorischen Überlieferung entlehnt worden sein. Ihre wichtigsten Stichworte hießen "use of prompts to guide the user", "consistency" und "avoidence of too many options". In der Rhetorica Ad Herennium lesen wir: Das Einprägen gelingt am besten, "wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen", verwenden (Apples "prompts"); diese "müssen wir […] an bestimmte Orte festsetzen" ("consistency"); schließlich, sagt die Rhetorica, dürfen wir uns "nicht zufällig in der Zahl der Orte täuschen können" (Apples "avoidence of too many options").[29] Arbeitspsychologische Untersuchungen belegen, daß mit diesen Prinzipien eine wesentlich bessere Erlernbarkeit von Betriebssystem und Programmen ermöglicht wird.[30]

Der Schritt zur Reaktualisierung des Gedächtnistheaters aber war damit noch nicht vollzogen. Solange es ausreichte, die zu verwaltenden Dateien auf einer "Schreibtisch" bzw. "Desktop" genannten Fläche unterzubringen, genügte die klassische Memorialarchitektur. Diese wird zwar beim Direct Manipulation Interface nicht mehr nur in der Vorstellung errichtet; sie ist sinnlich präsent. Aber das eigentliche Aufsuchen der Gedächtnisorte, das Hineingehen in die dritte Dimension, wie es Camillos Theater auszeichnet, findet nach wie vor in den Köpfen statt. Diese Imaginationsleistung vollziehen wir dank der erwähnten Konditionierungen so selbstverständlich, daß wir sie in der Regel nicht bemerken. Erst wenn sich "in" einem Fenster oder "unter" einem Menüpunkt nicht das erwartete Objekt befindet, merken wir an unserem Irrtum, daß unsere Einbildungskraft im Spiel – und überfordert – war.

Derlei Enttäuschungen hielten sich in Grenzen, solange die Zahl der zu verwaltenden Dateien nicht allzu groß war. Bei der Einführung des Macintosh-Desktop hatten die verwendeten Festspeicher, 400-Kilobyte-Disketten, ein maximales Fassungsvermögen von etwa 200 Schreibmaschinenseiten. Wer sich heute eine DVD (Digital Versatile Disc) auf den virtuellen Schreibtisch lädt, bekommt es mit 17 Gigabyte zu tun. Die entsprechende Papiermenge würde auf einem wirklichen Schreibtisch gut einen Kilometer hoch aufragen. Und wer auf das World Wide Web zugreift, kann rechnerisch in einer Seitenmenge wühlen, die ausgedruckt den Globus bedecken würde.

Es ist evident, daß bei dieser Zunahme an adressierbaren Speicherorten die Memorialarchitektur der Desktop-Metapher aus den Fugen geraten muß – so wie es den klassischen Gedächtnispalästen ja auch widerfuhr, als sie in der Nachantike durch die Menge des aufgezeichneten Wissens gleichsam gesprengt wurden. Der heutige PC-User steht vor einer abermaligen Explosion der visuellen Repräsentationstechniken – die Aufschichtung und Verschachtelung der ikonographisch aufbereiteten Gedächtnisorte ist so unübersichtlich geworden, daß er sich dem Heiligen Augustinus nahe fühlen mag, der von mühseligen Exkursionen in den Hallen seines Gedächtnisses zu berichten wußte:

"manches läßt sich länger suchen, und gleichsam aus entlegenen Kammern wird es erst hervorgezogen, manches stürzt sich im Schwall daher, und während doch anderes gefordert und gesucht wird, springt es mitten vor dich hin, als riefe es: Sind wir's vielleicht? Und ich scheuche es […] weg […], bis sich entwölkt, was ich will, und aus dem Versteck hervortritt in die Sichtbarkeit."[31]

Augustinus antizipierte auch schon die Lösung des Problems: den Perspektivenwechsel vom fixierten Standort innerhalb der klassischen Memorialarchitektur, die die einzelnen Gedächtnisorte wie von einer Wachstafel abliest,[32] hin zur freien Bewegung im Raum: "durch alles dieses laufe ich hin und her," schrieb er, "fliege hierhin, dorthin, dringe vor, so weit ich kann, und nirgends ist Ende".[33] Mancheiner fühlt sich hier schon an Gibsons "Cyberspace" erinnert.[34] Doch der entscheidene Unterschied zwischen beidem ist, daß Augustinus einen imaginierten Raumflug beschreibt, keinen simulierten.

Der Cyberspace entlastet die vor der Überzahl der Gedächtnisorte kapitulierende Vorstellungskraft, indem er Tiefenstrukturen abbildet, die der Datensuchende durchstreifen kann.[35] Deshalb wird der klassische Desktop heute mehr und mehr durch drei- und vierdimensionale Präsentationstechniken wie HTML, Hyper-G, VRML, XSpace usw. verdrängt. Deren vielschichtig verknüpfte, zunehmend auch vektorisierte Kartographien, die mit jedem Schritt oder Flugmanöver des Benutzers den Bildraum variieren, gestatten es, die Zahl der Gedächtnisorte extrem zu steigern, ohne allzuschnell Desorientierung hervorzurufen. Und eben dieser Übergang von der reinen Vorstellung des Raums zum Navigieren im Raum, wie er von hypermedialen Interfaces ermöglicht wird, stiftet die historische Verwandtschaft mit Camillos Gedächtnistheater.

In der Idea del Teatro[36] benutzt Camillo zur Erläuterung seiner Idee den Vergleich mit einem Wald, den wir in der planen Ebene als undurchschaubar erleben, den wir aber mit zunehmender Erhöhung des Betrachterstandorts immer besser überblicken.[37] Navigationssicher wie ein Power-User, der sich durch das "Dokuversum"[38] klickt, bewegte sich offenbar auch Camillo in seiner Datenkonstruktion. Viglius Zuichemus, der das Privileg hatte, das geheimnisumwobene Theater besichtigen zu dürfen, schreibt an Erasmus:

"Das Werk ist im Innern mit vielen Bildern versehen und voll von kleinen Kästchen; es gibt verschiedene Ordnungen und Zonen darin. Er gibt jeder einzelnen Figur und jedem Ornament seinen Platz, und er zeigte mir eine solche Menge Papier, daß ich, obwohl ich immer gehört hatte, daß Cicero die Quelle der reichsten Beredsamkeit sei, wohl kaum gedacht hätte, daß […] aus seinen Schriften solche Massen zusammengetragen werden könnten."[39]

Gewiß hat die Parallelisierung von Camillos Welttheater mit dem World Wide Web etwas Parodistisches. Ich erinnere aber daran, daß dies zum Wesen historischer Wiederholungen gehört. Und so gab es auch zu Camillos Zeit Polemiken, die sein Theater den großen Werken der Rhetorik gegenüberstellten und befanden, es sei – wie Eugenio Garin kolportiert – nur "die Parodie von allem, was die Renaissancetheoretiker auf strenge Weise versucht hatten".[40] Erasmus nannte ihn schlicht einen "Quacksalber".[41]

Das dürfte insbesondere auf Wigles Bericht zurückzuführen sein; denn auch dieser entbehrt nicht der ironischen Distanz. In seinem Brief an Erasmus schimmert etwas von jener Koketterie mit der eigenen technischen Unkenntnis durch, die noch heute das Distinktionsmerkmal des gebildeten Humanisten ist. So hebt er ausdrücklich hervor, daß Camillo "Latein nur mit Schwierigkeiten" spricht, und stellt durch die Erwähnung der Sprachbarriere klar, daß seine Bewunderung mehr auf Befremden als auf Verehrung beruht. Insbesondere der spirituelle Enthusiasmus Camillos ist Wigle suspekt. Er berichtet, daß er es nur durch geheuchelte Begeisterung geschafft habe, in das Arkanum eingeweiht zu werden, wobei er "die religiöse Sprache benutzte" und sich stellte, als sei er "durch die Wunderbarkeit dieses Dinges benommen."[42]

Der Viglius Zuichemus unserer Tage, der wahrscheinlich für das gehobene Feuilleton schreibt und in dessen Sold vielleicht auch einmal über Leute wie den Hypertext-Guru Ted Nelson zu berichten hat, mag sich gleichfalls augenzwinkernd genötigt sehen, die religiöse Sprache zu benutzen und ergriffen zu tun. Das provoziert die Frage, ob es denn wirklich auch in spiritueller Hinsicht historische Verwandtschaften gibt, ob also die Ähnlichkeiten der mechanischen Funktion es sind, die ähnliche Formen der magischen Faszination hervorrufen.

Nach Frances Yates quellennaher Darstellung liegt die historische Erklärung für Camillos Magie im hermetischen Schrifttum. Demzufolge macht die Reproduktion des göttlichen Makrokosmos im menschlichen Mikrokosmos diesen – vermittelt über okkulte Zeichen – zum alter deus. Trotz der Unvergleichbarkeit der mythologischen Inhalte und ihrer Beglaubigungskontexte gibt es eine strukturelle Verbindung zum virtuellen Gedächtnistheater, die für ähnliche Effekte sorgt: Der "Pan-Mnemismus"[43] unserer Tage nährt sich aus dem Traum von einer universalen enzyklopädischen Maschine, der nach Paolo Rossis Darstellung das zentrale Moment ist, das Camillos Teatrum Mundi gegenüber der klassischen ars reminiscendi auszeichnet.[44] Der erwähnte Hypertext-Guru Ted Nelson hat Ähnliches im Sinn:

"Universal or grand hypertext […] means […] an accessible great universe of linked documents and graphics […]. This is an idea many people now share – the idea that we can get to everything, add to everything, keep track of everything, tie everything together, that we can have it all." [45]

Hier geht es nicht mehr um profanes Information Retrieval, das funktionale Zuordnen und Abrufen von Speicheradressen. Hier geht es um die magische Anziehungskraft einer Omnipotenzphantasie: die Verfügung über das gesamte Weltwissen. Auch die lullistisch beeinflußte Spiritualität des "göttlichen" Camillo, dürfte sich nicht zuletzt aus dieser Quelle gespeist und berauscht haben. Sein Theatermodell versetzt den Besucher in die Position des Weltenschöpfers. Das wußte sein Mäzen, der französische König, gewiß zu schätzen.

Nun gehört es zum Traum von der totalen Enzyklopädie, daß er ein Traum bleiben muß. So ist es bemerkenswert, daß Camillo die Idea del Teatro, die er kurz vor seinem Tode, also im Rückblick auf jahrzehntelange Konstruktionsarbeiten diktierte, im Futur abgefaßt hat – als sei das eigentliche Gedächtnistheater erst noch zu bauen. Unvollendbarkeit ist hier nicht ein Manko, sondern ein Surplus; sie mindert nicht, sondern verstärkt das Mysterium. Auch das World Wide Web verdankt seine Aura als pan-mnemistisches Dokuversum dem Sfumato einer diffusen Datenpräsentation, die ob ihrer Unvollkommenheit das Ahnungsvermögen anregt und so jenes Gefühl überschwenglicher Raumerfahrung entstehen läßt, von dem passionierte Web-Surfer erfüllt sind. Der notwendig begrenzte Bildschirmausschnitt verstärkt das noch durch seinen Peephole-Effekt; auch er nährt die voyeuristische Phantasie, daß noch unendlich Spannenderes und Aufregenderes zu entdecken sei als man faktisch vor Augen hat. Auch die Idea del Teatro läßt vieles im Vagen; ihre "Enthüllung" beginnt mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Schweigens über göttliche Geheimnisse. Und zweifellos profitierte auch Camillos Nimbus schon davon, daß er nur ausschnitthaft zu erkennen gab, wie sein Theater beschaffen war.[46]

Es ließen sich noch manche Vergleichspunkte anführen, doch die angeführten Parallelen mögen genügen, um die prinzipiellen Differenzen hervortreten zu lassen. Diese nämlich beruhen auf einer übermäßigen Realisierung der Idea del Theatro. Was Camillo von den elektrifizierten Ekstatikern des Cyberspace unterscheidet und ein Licht auf die heute mit Ausnahme weniger künstlerischer Projekte ungenutzten Potentiale des digitalen Gedächtnistheaters wirft, ist die Tatsache, daß seine Datenkonstruktion stets als Theater in Erscheinung tritt. Die Orte und Bilder sollen bei ihm nicht unmittelbar faszinieren, sondern als inszenierte Objekte kontempliert werden. Es sind imagines agentes, aktive Bilder, weil sie die Vorstellungskraft anregen.[47] Ausdrücklich betont Camillo sein Anliegen, "eine Ordnung in diesen umfassenden und untereinander verschiedenen sieben Maßeinheiten zu finden, die den Geist aufmerksam erhält und das Gedächtnis erschüttert."[48] Die technische Realisierung der Bildaktivität in der Computeranimation hingegen ist nicht reflexiv, sondern reflexartig. Während der Theaterraum Camillos, gerade weil er sich als geordneter Raum präsentiert, dazu angetan ist, ihn zu transzendieren, hindert der Cyberspace durch seine Konturlosigkeit an der Einsicht, daß der Datenreisende sich auf festgelegten Transitstrecken befindet. So weit er sich auch aus seiner Alltagsrealität davonklicken mag – er bleibt an die Netzstruktur gebunden, seine Ekstasen sind Projektionen eines undurchschauten Eskapismus. William Gibsons Neuromancer beschreibt eindrucksvoll, wie sein Held Case zum Gefangenen einer entsprechenden holographischen Projektion wird. Und er beschreibt auch, was ihn dort am Ende – freilich unter mörderischen Anstrengungen – herausführt: Ein Affekt, der stärker ist als die alle seine Sinne fesselnde Halluzination des Cyberspace. In dem Moment, als Case wieder seine eigenen Hände an der Computerkonsole spürt, ist er wirklich frei – und gerät just bei der Destruktion der kybernetischen Matrix in den Zustand der Ekstase.

Nun wird sich der Leser dieser Zeilen vielleicht stirnrunzelnd fragen, ob ich – von Camillo bezirzt – für ein Interface plädiere, das uns ekstatische Erlebnisse verschafft. Geht es uns doch bei der Rechnernutzung in der Regel nur um die Möglichkeit einer zuverlässigen Speicherung und Wiedereinschaltung von Daten, also um eine rein mnemonische Funktion, also um das, was Camillo als bloßes Vehikel für einen anderen Zweck betrachtete. Doch auch das nüchternste Information Retrieval am Computer zieht uns in die von Gibson romanhaft problematisierte Halluzination hinein – die Halluzination, daß die Informationen im Computer seien und nicht erst durch unsere Interpretation dazu gemacht werden. An diese fatale Verwechslung, die auf Selbstvergessenheit beruht, gewöhnen wir uns nur allzuleicht. Und deshalb benötigen wir Interfaces, die uns aus dem Cybertspace immer wieder "ek-statisch" heraustreten lassen, indem sie uns sozusagen das Gefühl für unsere Hände an der Computerkonsole wiedergeben, das heißt für die Situation, in der wir uns tatsächlich befinden: an der Schnittstelle von Mensch und Maschine.

Camillos Modell eines invertierten Theaters, das den Besucher auf die Bühne stellt, wo er sich von den Memorabilia auf den Zuschauerrängen gleichsam angesehen fühlt, weist in diese Richtung. Denn es führt zu einer selbstreflexiven Form der Wahrnehmung, die die Zeichen und Bilder nicht einfach konsumiert, sondern kontempliert – als Objekte der Erinnerung im emphatischen Sinne. Eine Vollendung des Theaters hätte Camillos Intentionen vermutlich zunichte gemacht. Nur solange er an seiner Erweiterung arbeitete, konnte er sich und anderen das Gefühl geben, dem Geheimnis der Selbsttransformation auf der Spur zu sein. Das Theater mußte sich selbst, seine Architektur, seine Ikonologie permanent überschreiten.

Die Gedächtnissysteme Giordano Brunos haben diese Tendenz radikal weiterverfolgt. Durch ihre im Vergleich zu Camillos Theater wesentlich stärkere Orientierung am Lullismus intensivierten sie die Magisierung der antiken Memoria; sie sprengten deren Gedächtnisraum durch eine ins Absurde gesteigerte Komplexität und perpetuierten dadurch die transitorische Orientierung. Die Verbindung der ars memorativa mit der ars combinatoria stiftete anhand einer überschaubaren Zahl von Vorgaben die Idee einer "ständig permutierenden Welt".[49] Der verwirrende Überfluß der kombinatorischen Bezüge ist also keineswegs eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, wie etwa Hegel meinte.[50] Für Bruno war das Operieren mit den magischen Gedächtnissystemen "kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um hinter den Erscheinungen zu dem Einen zu gelangen."[51] Deshalb inflationiert er die astrologischen, mythologischen und kabbalistischen Zeichen. Indem sie sich jeder Fixierung entziehen, bringen sie, wie er sagt, "das unendliche Verlangen und Bedürfnis nach der göttlichen Unendlichkeit, den Durst nach dem Unendlichen" zum Ausdruck.[52]

Brunos Memoriaschriften machen in Überbietung derjenigen Camillos deutlich, daß die in ihnen entworfenen Topographien ihren Erfahrungsgehalt nicht der Perfektionierung der Gedächtnisordnung verdanken, sondern ihrer prinzipiellen Entgrenzung. Heterotopien im Sinne Foucaults, geben sie durch den Entzug von räumlichem Halt Anlässe für ein Erinnern jenseits der Geschlossenheit der Speichersysteme.

Auch hier drängt sich wiederum der Vergleich mit den kombinatorischen Explosionen der Hypermedien auf. So lesen wir etwa bei Erik Davis:

"today, […] Bruno's vision of a densely interconnected universe alive with constant communication begins to flicker on the screen, like some ghostly landscape arising from a hazy childhood recollection". [53]

Doch die Parallele ist oberflächlich. Während Brunos Kombinatoriken durch ihre ständig wechselnden Konstellationen mythologischer und astrologischer Zeichen eine bewegte Kosmogonie repräsentierten, die zu Recht als sehnsuchtsvolle Erinnerung an die Kindheit der Welt beschrieben werden kann, geht der Trend in den Hypermedien darauf aus, derartige Regungen mit ihren Datenlinks der Phantasie zu entreißen und in die Positivität schierer Gegebenheiten zu verbannen. Jeder Mausklick führt unter dem Versprechen des Assoziationsreichtums nur um so tiefer in die Dissoziationswüste. Der Eindruck bewegter Vielfalt ist bei ihnen ein reines Oberflächenphänomen, das keine Heterotopien bietet, sondern nur die im wesentlichen immer gleiche Topographie der Angstreaktionen auf den leeren Raum, der mit den panikartigen Versuchen, ihn zu füllen, nur um so mehr verödet. Das substanzlose "Angeregtsein", das schon Georg Simmel dem modernen Menschen attestierte,[54] findet im World Wide Web sein potenziertes Medium. Der Trend des Interface-Designs zum fortschreitenden Schwellenabbau gegenüber der Alltagswahrnehmung entwertet die Übergangserlebnisse durch ihre Inflationierung. Das teilt sich den Inhalten, auch den an sich bedeutungsvollen, mit. Sie verwirbeln im Strudel dessen, was Hans Ulrich Reck mit einer triftigen Formel "transitorische Turbulenzen" genannt hat.[55]

Freilich gibt es – insbesondere im künstlerischen Bereich – Gegenbeispiele zu diesem Trend.[56] Gemeinsam ist ihnen, daß sie der Situation am Computerterminal zu einer Erfahrung von sich selbst zu verhelfen suchen, so wie es Camillo und Bruno mit den Gedächtnissystemen ihrer Zeit taten.

Auch historisch ist diese Option nur bedingt weiterverfolgt worden. Schon Fludds Theater-Gedächtnissystem kehrt die selbstreflexive Blickrichtung in den Zuschauerraum wieder um und versetzt den Besucher zurück in seine konventionelle Rolle: die des Konsumenten, der auf die Bühne blickt – auf die Bühne Shakespeares, die zu selbstvergessener Identifikation mit dem Geschehen einlädt. An der Architektur wie der Idee des Globe Theatre orientiert,[57] spricht Fludd denn auch, wie Yates subtil beobachtet hat, nicht vom "Theatrum Orbis", sondern vom "Theatrum Orbi"[58] – der Dativ verrät, daß es nicht mehr darum geht, das Theater der Welt zum Gegenstand der Reflexion zu machen, sondern darum, das Theater in der Welt stattfinden zu lassen, sich dem Spektakel hinzugeben. Denn Fludds Ars Memoriae zufolge werden die Sinneseindrücke der Außenwelt als Bilder im Hinterkopf gespeichert, von wo sie das oculus imaginationis abruft und re-inszeniert.[59] Die urspünglich empfangenen Sensitiva und die sie repräsentierenden Imaginativa stehen dabei in einer direkten Korrelation zueinander, so daß Vorstellung und Wirklichkeit zusammenfallen. Indem Fludd diesen Grundzug des Illusionstheaters auf seiner Gedächtnisbühne zur Anwendung bringt, die "Schnittstelle" zwischen den inneren und den äußeren Bildern also nivelliert, präludiert er bereits dem "vanishing interface" Brenda Laurels – die es übrigens dann doch nicht so genau nimmt mit ihrer historischen Orientierung und sich am Schluß ihres Buches genauso leidenschaftlich zu Shakespeare bekennt.[60]

Nun ist freilich das Bekenntnis zu Shakespeare ganz und gar nichts Anrüchiges. Entscheidend ist nur die Art der Inszenierung. Daß diese auch für ein auf die Bühne orientiertes Publikum zum selbstreflexiven Theater der Erinnerung werden kann, hat Shakespeare eindringlich in der Schauspielszene des Hamlet demonstriert: Das Geschehen auf der Bühne konfrontiert den Zuschauer mit sich selbst, indem er ihm den Spiegel der eigenen Gedächtnisbilder vorhält. Wie hier der eigentliche Gehalt der Inszenierung erst durch die Imagination Claudios zustandekommt, so ist der Besucher im Gedächtnistheater Fludds ganz auf seine eigene Bildregie verwiesen. Fludds Ars Memoriae  liefert nur die Kulissen und die Requisiten einer ansonsten leeren Bühne. Die Vorstellung wird von den Besuchern gemacht. Deren Sensorium kommt umso mehr ins Spiel, je weniger es von "multisensory representations" zugeschüttet wird. Diesen Unterschied gilt es zu beachten, wenn man nicht – was heute notorisch geschieht – das Erlebnis von Interaktivität mit den Symptomen der hyperaktiven Aufmerksamkeitsstörung verwechseln will.[61]

Da aber der selbstvergessene Sinnesrausch ganz zweifellos zu den tief verwurzelten Neigungen unserer Natur gehört, wollen wir ihm, wie es sich auch bei hyperaktiven Kindern empfiehlt, nicht mit Strenge begegnen. Schließlich hat er keinen Königsmord zu gestehen, sondern schlimmstenfalls eine so läßliche Sünde wie den Totschlag der Zeit.


[1] Zitiert nach Nunberg, Geoffrey: Farewell to the information age. In: ders. (Hg.): The Future of the Book; Brüssel 1996, S. 103–139, hier S. 103.

[2] Das ist nicht nur etymologische Ableitung, sondern terminologische Konvention, was aber allzuleicht vergessen wird. Nach Shannons bekannter Definition sind Informationen Daten, die Material übertragen, das dem Empfänger vorher unbekannt war [Shannon, C. E. / Weaver, W.: The Mathematical Theory of Computation; Bell System Technical Journal 1948. Reprint University of Illinois Press 1962]. Damit sind als Kriterien sowohl die Präsentationsweise der Daten wie auch deren Rezeptionsbedingungen gesetzt: Das Datum "Sonntag" z.B. muß ich erstens verstehbar dargeboten bekommen und zweitens muß es für meinen Lebenskontext eine spezifische Bedeutung haben (z.B. als Antwort auf die Frage, wann die Tagung zuende ist), damit es für mich zu einer Information wird. Eingeschliffen hat sich dagegen ein nivellierter Sprachgebrauch, der von Informationen spricht, wenn er Daten meint. Zur neueren Diskussion vgl. Fleissner, Peter / Hofkirchner, Wolfgang: Informatio Revisted. Wider den dinglichen Informationsbegriff. In: Informatik Forum, Bd. 9, Nr. 3, November 1995, S. 126–131.

[3] Der Hund ist in der Tat das Emblem der automatisierten Informationsbeschaffung: Bereits in der ftp-Software Fetch zum Datenapport abgerichtet, hat er als "Cyberdog" Eingang in Apples Betriebssystemsoftware gefunden. Seine animistische Verniedlichung zum "Webdoggie" geht auf die von Pattie Maes und anderen am MIT durchgeführten Virtual Life- und Agents-Projekte zurück (s. alive.www.media.mit.edu/projects/alive/ bzw. agents.www.media.mit.edu:80/groups/agents/research.html). Daß ein abgerichtetes Tier, das Dokumente wie Stöckchen oder tote Beute herbeischleppt, nicht von allzu geistreicher Hilfe sein kann, scheint den Glauben an die von dieser Ikonographie inspirierte Technik intelligenter Agenten noch nicht irritiert zu haben.

[4] Eco, Umberto: MS-Dos ist calvinistisch. Über die Religion der Betriebssysteme. In: Spiegel-Spezial 3 (1995), S. 138–143.

[5] Vgl. Hutchins, E. / Hollan, J. / Norman, D.: Direct manipulation interfaces. In: Norman, D. / Draper, S.: User Centered System Design. New Perspectives on Human-Computer Interaction; Hillsdale, New Jersey 1986. – Robertson, G. R. / Card, S. K. / Mackinlay, J. D.: Information Visualization Using 3D Interactive Animation. In: Communications of the ACM, Vol. 36, 1993.

[6] Laurel, Brenda: Computers as Theatre; Reading (Mass.) 1991, S. 38.

[7] Ebd., S. 196 f.

[8] Ebd., S. 198.

[9] S. hierzu meinen Artikel: "www.heavensgate.com" – Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase. In: Paragrana 6 (1997), H. 1: Selbstfremdheit, S.129–147.

[10] Quellen: www.heavensgate.com und www.highersource.com.

[11] Turkle, Sherry: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet; New York 1995, S. 10.

[12] Ebd., S. 14.

[13] Laurel, a.a.O., S. 196.

[14] So – in Anlehnung an Friedrich Kittler – Meier, Cordula: Gedächtnis-Bilder / Bild-Gedächtnis. In: Bolz, Norbert / Meier, Cordula / Holschbach, Susanne (Hg.): Riskante Bilder. Kunst - Literatur - Medien; München 1996, S. 151–175, hier S. 168.

[15] Vgl. zur Kritik dieser These auch Reck, Hans Ulrich: Auszug der Bilder? Zum problematischen Verhältnis von Erinnern, Techno-Imagination und digitalem Bild. In: Bolz / Meier / Holschbach, a.a.O., S. 103–117, hier insbes. S. 107–109. Vgl. Rötzer, Florian: Bilder in Bildern – oder: Vom Bild zur virtuellen Welt. In: Fehr, Michael / Krümmel, Klemens / Müller, Markus (Hg.): Platons Höhle: das Museum und die elektronischen Medien, Köln 1995, S. 57–76, hier S. 62.

[16] Vgl. Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? München 1995.

[17] "Think of the computer, not as a tool, but as a medium." Laurel, a.a.O., S. xi.

[18] Ebd., S. 104 ff.

[19] Vgl. etwa Halbach, Wulf R.: Interfaces. Medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie; München 1994, S. 173. Das von mir in Frage gestellte Versprechen größerer Lebensnähe durch Schnittstellennivellierung ist freilich ein entscheidendes Argument bei der Einwerbung von Mitteln für aufwendige Projekte. So sind etwa die GMD-Projekte Virtual Balance oder Liquid Views darauf ausgerichtet, Grenzerfahrungen aufzuheben [Der GMD-Spiegel, 1 (1996), S. 42–44] bzw. den Bildschirm als Interface "unmerklich" zu machen [GMD-Spiegel 2 (1997), S. 56]. Weitere Beispiele dieser Art behandelt der Beitrag von Oliver Grau in diesem Band.

[20] Nähere Informationen zu diesem und anderen virtuellen Theaterprojekten befinden sich auf der Hompepage von Monika Wunderer: st1hobel.phl.univie.ac.at/~wunderer/. Im übrigen versammle ich Beispiele für selbstreferentielle Interfaces auf www.culture.hu-berlin.de/PM/Sammlungen/Interago/index.html.

[21] "Whoever discovered water, as the saying goes, certainly wasn't a fish." Laurel, a.a.O., S. 210.

[22] Ebd., S. 204.

[23] Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung; Jena 1912. S. 305. Das Verfahren, dem Zuschauer "projectors instead of movies" zu präsentieren, verwenden z.B. die Filme von Godard, Chris.Marker oder Wim Wenders. S. einschlägig dazu: Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1; 2. Aufl. Frankfurt am Main 1990 sowie ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2; Frankfurt am Main 1991. Vgl. auch Beilenhoff, Wolfgang: Licht – Bild – Gedächtnis. In: Haverkamp, Anselm  / Lachmann, Renate (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik; Frankfurt am Main 1991, S. 444–474.

[24] Für den Bereich der Schrift läßt sich das bis zu Platon zurückverfolgen. Vgl. hierzu meinen Artikel: Hypomnemata und Hypermedia. Erinnerung im Medienwechsel: die platonische Dialogtechnik und ihre digitalen Amplifikationen. In: Medien des Gedächtnisses. Sonderband der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1997 [im Erscheinen].

[25] Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Robert Fludds Theatrum memoriae. In: Berns, Jörg Jochen / Neuber, Wolfgang (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750; Tübingen 1993, S. 160.

[26] Ich übergehe hier die von Julia Mummenhoff [Das Gedächtnistheater des Giulio Camillo. In: Baumgart, Silvia u.a. Hg.: Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg, Berlin u.a. 1993, S. 177–198] und Lou Beery Wenneker [An Examination of  'L'Idea del teatro' of Giulio Camillo"; Pittsburgh 1970] erhobenen Einwände gegenüber der Rekonstruktion von Frances Yates, da sie für meine Argumentation unerheblich sind. Wichtig ist in unserem Zusammenhang lediglich die Tatsache, daß es sich um eine begehbare Konstruktion handelte, wie es aus dem Brief des Viglius Zuichemus an Erasmus zweifelsfrei hervorgeht [Erasmus von Rotterdam: Epistolae, hg. v. P.S.Allen, Bd. 10, S. 30].

[27] Yates, Frances A: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare; 3. Aufl. Berlin 1994, S. 123.

[28] In Wahrheit gebührt die Ehre Lawrence Tessler von Xerox PARC. Nachzulesen in: Sculley, John (mit John A. Byrne): Meine Karriere bei PepsiCo und Apple; Düsseldorf Wien New York 1987, S. 168 f.

[29] Ad Her. III, XVII f.

[30] Vgl. etwa Altmann, Alexandra: Direkte Manipulation: Empirische Befunde zum Einfluß der Benutzeroberfläche auf die Erlernbarkeit von Textsystemen. In: A&O. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie Heft 3 (1987), S.108-114.

[31] Confessiones X, 8.

[32] Ad Her. III, XVII.

[33] Confessiones X, 17.

[34] Vgl. Davis, Erik: Techgnosis, Magic, Memory, and the Angels of Information. In: Dery, Mark (ed.): Flame Wars. The Discourse of Cyberculture; Durham London 1994, S. 29–61, hier S. 34 f.

[35] Unter Cyberspace verstehe ich hier, wie es sich mittlerweile eingebürgert hat, schlicht den kybernetisch konstruierten Raum, also alle Hypermedien und nicht nur solche, deren Design der Vision Gibsons gleicht.

[36] Florenz 1550. Reprint mit englischer Übersetzung in Wenneker, a.a.O. Wo nicht anders angegeben zitiere ich im folgendenden nach Yates, a.a.O.

[37] Vgl. Yates, a.a.O., S. 133.

[38] Vgl. Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer; Regensburg 1997.

[39] Ebd., S. 124.

[40] Garin, Eugenio: Alcuni aspetti delle retoriche rinascimentali; Rom und Mailand 1953. Zitiert nach Rossi, Paolo: Clavis Universalis: arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz; Neuauflage Bologna 1983, S. 119, Anm. 8 (dt. Übersetzung nach einem Ts. von Karl Moormann).

[41] Epistola, a.a.O., Bd. 9, S. 479.

[42] Nach Yates, a.a.O., S. 124.

[43] Den Ausdruck übernehme ich aus: Samsonow, Elisabeth von: Zeit bei Giordano Bruno oder die Einverleibung der Welt im Gedächtnis; Ts. Wien 1996, S. 7.

[44] Rossi, Paolo, a.a.O.

[45] Zitiert nach Horn, Robert E.: Mapping Hypertext. Analysis, Linkage, and Display of Knowledge for the Next Generation of On-Line Text and Graphics; Waltham 1989, S. 259.

[46] Vgl. Yates, a.a.O., S. 127.

[47] "Imagines agentes" heißen sie, weil es auffällige und insofern das Gemüt bewegende – statt "stumme und unbestimmte" ("non mutas nec vagas") – Bilder sind, wie die Rhetorica ad Herennium III, 37 klarstellt, und nicht, wie Schmidt-Biggemann schreibt, weil ihr Spezifikum das "Ausmalen einer ganzen Szene" wäre [a.a.O., S. 154–170, hier S. 157, ähnlich S. 156].

[48] Übersetzung nach Mummenhoff, a.a.O., S. 182. Die Formulierung, daß das Gedächtnis "erschüttert" werden solle (wörtlich: "percossa"), unterstreicht den selbstreflexiven Charakter dieses Erinnerns im Sinne der platonischen Anamnesis, die ebenfalls mit einer Erfahrung der Erschütterung, nämlich der Aporie, einhergeht.

[49] Ernst, Ulrich: Ars memorativa und Ars poetica in Mittelalter und Früher Neuzeit. Prolegomena zu einer mnemonistischen Dichtungstheorie. In: Berns, Jörg Jochen / Neuber, Wolfgang (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750; Tübingen 1993, S. 73–101, hier S. 97.

[50] Er schreibt: "es läuft hier in diesem Versuche zu ordnen alles aufs Unordentlichste durcheinander" [Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Werke in zwanzig Bänden; Frankfurt am Main 1995, Bd. 20, S. 39].

[51] Yates, a.a.O., S. 205.

[52] Ebd., S. 266 f. – Vgl. den Passus in De la causa:"Weil also die göttliche Substanz unendlich ist und sich überaus weit entfernt von ihren Wirkungen hält, welche die äußerste Grenze unseres Erkenntnisvermögens darstellen, so können wir unmittelbar von ihr gar nichts wissen, sondern nur ihre 'Spur' erkennen, wie die Platoniker sagen, ihre 'entfernte Wirkung' – in den Worten der Peripatetiker, ihre 'Hülle' – im Sinne der Kabbalisten, ihre 'Rückansicht' – nach der Lehre der Talmudisten oder – mit den Apokalyptikern zu reden – nur ihr 'Spiegelbild', ihren 'Schattenriß', ihre Verschlüsselung im 'Rätsel'." [Bruno, Giordano: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine [De la causa, principio, et uno]; Stuttgart 1986, S. 53.]

[53] Davis, a.a.O., S. 34.

[54] Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais; 3. Aufl. Potsdam 1923, S. 236–268, hier S. 267.

[55] Reck, Hans-Ulrich: Transitorische Turbulenzen. Konstruktionen des Erinnerns. In: Kunstforum 127 (1994), S. 82–119. Sowie in: Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst; Stuttgart 1996, S. 65–92.

[56] Beispiele, die mir diesbezüglich interessant erscheinen, dokumentiere ich auf meiner Web-Site unter http://www.culture.hu-berlin.de/PM/Sammlungen/Interago(index.html.

[57] Diese These, die Yates im Rückgriff auf Richard Bernheimer vertritt läßt sich freilich nicht unmittelbar beweisen, da das Globe 1613 niederbrannte und keine Konstruktionsskizzen erhalten geblieben sind. Unbezweifelbar aber ist die Tatsache, daß Fludd seine Ars Memoriae als dramatische Inszenierung auffaßte. Er schreibt: "Ein Theater nenne ich (einen Ort, an dem) alle Aktionen von Wörtern, von Sätzen, von Einzelheiten einer Rede oder eines Themas gezeigt werden, wie in einem öffentlichen Theater, in dem Komödien und Tragödien aufgeführt werden" [Nach Yates, a.a.O., S. 301].

[58] S. ebd., S. 302.

[59] Eine ausführliche Darstellung der Gedächtnistheorie Fludds und der von ihm verwendeten Schemata und Embleme gebe ich auf http://www.culture.hu-berlin.de/PM/GT/Erl1.html.

[60] "By inviting the body and the senses into our dance with our tools, it has extended the landscape of interaction to new topologies of pleasure, emotion, and passion. A similar transformation occured in the Middle Ages, when theatre exploded out of the textual universe of the monastery into the sensory fecundity hat grave rise to Commedia dell' Arte, the robust improvisational theatrical form that emerged in Western Europe in the fifteenth and sixteenth centuries. In the same historical period, the monolithic Christian content of the drama was bathed in a wave of sensory, passionate, and archetypal imagery. It was this coming together of text, body, and narrative polyphony that opened the way for Shakespeare, Grand Opera, and all the vital permutions of the dramatic impulse that have come down to our day." [Laurel, a.a.O. S. 213f.].

[61] In der Tat würde es sich m.E. lohnen, das klinische Erscheinungsbild der Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) einmal mit den Effekten "action"-orientierter Computerspiele zu vergleichen, wie sie heute schon von der einschlägigen Reklame dramatisch vor Augen geführt werden. Vgl. etwa Barkley, R.A.: Taking Charge of ADHD; New York 1995.