Peter Matussek

Formen der Verzeitlichung.

Der Wandel des Faustschen Naturbildes
und seine historischen Hintergründe

 


Erschienen in: Matussek, Peter (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur; München 1998, S. 202–233.

 

     
 

Goethes Faust kann im doppelten Sinne als "Drama der Verzeitlichung" gelesen werden:[1] Das Werk problematisiert den in ästhetischer wie außerästhetischer Hinsicht dramatischen Wandel der kulturellen Anschauungsformen vom Raum zur Zeit, von der Naturalisierung der Geschichte bis zur Historisierung der Natur. Diese Feststellung, die im folgenden konkretisiert werden soll, gründet sich auf die Beobachtung einer bemerkenswerten Korrelation. In der über sechzigjährigen Entstehungsgeschichte des Faust hat Goethe es vermocht, den jeweils aktuellen Stand seiner Auseinandersetzung mit den Akzentverschiebungen und Umwälzungen im naturgeschichtlichen Denken seiner Zeit dramaturgisch zu verarbeiten, ohne das früher Gestaltete durch das später Hinzugekommene zu ersetzen. Das diachrone Arbeitsverfahren hat denn auch in der Komposition des Werks deutliche Spuren hinterlassen. Manche Brüche im dramatischen Ablauf und manche Wechsel der Sprachform sind nur durch die historischen Zeitverschiebungen zu erklären, erhalten durch deren Reflexion aber auch ihren prägnanten Sinn. So ist die polyzentrische Anlage des Faust keineswegs so konzeptionslos, wie es Goethe immer wieder vorgeworfen wurde. Allerdings hat er es seinen Kritikern nicht leicht gemacht. In einem Brief an Schiller etwa nennt er das Drama eine "Schwammfamilie" (1.7.1797), und den Direktor im Vorspiel läßt er von einem "Ragout" (V. 100) sprechen. Doch wie so oft bei Goethe verbirgt sich hinter scheinbar lakonisch hingeworfenen Formulierungen ein präziser Sinn. Das Bild von der "Schwammfamilie" bezeichnet eine Pilzkolonie, die durch ein kompliziertes untergründiges Fadengeflecht zusammen- und am Leben gehalten wird. Und damit ein "Ragout […] glücken" kann – wie es der zitierte Vers fordert –, bedarf es einer genauen Abstimmung der einzelnen Zutaten. Ein von der Forschung in dieser kompositorischen Relevanz noch kaum beachtetes Hauptmotiv des Faust-Dramas, das die wechselnden Inhalte und Formen des Dramas zueinander in Beziehung setzt, ist der Prozeß der Verzeitlichung.

Wie dieser im Werk zur Darstellung kommt, möchte ich anhand von vier Faust-Monologen aus unterschiedlichen Entstehungsphasen zeigen. Dabei kann es sich nicht einfach um deren Ableitung aus der Ideengeschichte handeln. Die zu interpretierenden Naturbilder Fausts verdanken ihren Reiz der Tatsache, daß sie als ästhetische Konfigurationen zum Begriffshorizont der Epoche in einem gespannten Verhältnis stehen. Dieses Spannungsverhältnis erzeugt Kontrasteffekte, die für das kulturgeschichtliche Verständnis des Problems der Verzeitlichung aufschlußreich sind. Denn es ist evident, daß in der diskursiven Sprache manches ungesagt bleiben muß, was in der Formensprache der Kunst dennoch seinen physiognomischen Ausdruck finden kann. Probleme und Paradoxien, die das Denken der Zeit mit seinen begrifflichen Konstrukten verdeckte, werden in solchen Physiognomien sichtbar. Es verhält sich ja nicht nur so, daß Fausts Monologe ein bestimmtes Gedankengut verkörpern. Vielmehr läßt sich an ihnen zeigen, daß Goethes Entwicklung als Naturforscher aus dem "Umweg" über die poetische Gestaltung wichtige Erfahrungen zog, die zur Korrektur und Neubestimmung seiner theoretischen Positionen beigetragen haben – welche wiederum in die jeweils nächste Phase der Arbeit am Faust eingegangen sind. Macht man sich diese Zusammenhänge deutlich, sind manche von der Faust-Forschung bisher ungeklärte Deutungsprobleme lösbar, wie ich zeigen werde.

Um die exemplarisch gewählten Faust-Monologe aus den vier genealogischen Werkstufen in einer ersten Annäherung zu bestimmen, habe ich ihren Naturbildern Namen gegeben, die das Charakteristische an den von ihnen verkörperten und poetisch problematisierten Diskurstypen hervortreten lassen. So unterscheide ich das "expressive" Naturbild der Erdgeistbeschwörung aus dem Urfaust (1775), das "sympathetische" Naturbild des Monologs in Wald und Höhle aus dem Faust-Fragment (1790), das "harmonisierende" Naturbild des sogenannten Osterspaziergangs aus Faust I (1808) und das "konstruktivistische" Naturbild des Schlußmonologs aus Faust II (1832).

 

 

Das expressive Naturbild: Erdgeistbeschwörung

 

Die Beschwörungsszene ist Teil des Konvoluts, das Goethe 1775 von Frankfurt nach Weimar mitbrachte. Sie steht ganz im Zeichen der Geniebewegung. Meine Charakterisierung ihres Naturbildes als "expressiv" ist an Charles Taylor angelehnt, der mit dem Wort die auf Herder zurückgehende poetische Realisierung eines "Ausdrucksgeschehens" bezeichnet.[2] Es handelt sich dabei um einen spezifischen Reaktionstyp auf die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzende Temporalisierung der Naturgeschichte. Inwiefern die Erdgeistbeschwörung an ihm partizipiert, ist nicht unmittelbar einsichtig, zumal Faust uns hier als Gelehrter des 16., nicht des 18. Jahrhunderts begegnet. Doch die historische Einkleidung des aktuellen Gehalts gehört selbst zur zeitgenössischen Poetik, deren hervorstechendstes Merkmal die allegorische Form ist. Unter diesem Aspekt ist der dramatische Kontext zu interpretieren.

Faust wird von dem rings um ihn aufgehäuften Wissensballast schier erdrückt. Sein Zimmer ist von einem "Bücherhauf", von "Gläsern, Büchsen" und "Instrumenten vollgepfropft" (V. 402–407) – ein prägnantes Bild dafür, daß die Naturerkenntnis auf diesem akkumulativen Wege an die Grenzen ihrer Speicherkapazitäten gestoßen ist. Sie zu dynamisieren erscheint als der rettende Ausweg: Faust hat sich "der Magie ergeben" (V. 377), um die "Wirkenskraft" (V. 384) der Natur zu schauen. In einer Makrokosmosvision sieht er "Himmelskräfte auf und nieder steigen/ Und sich die goldnen Eimer reichen" (V. 449 f.). Goethe spielt hier auf das Motiv der "Kette der Wesen" an, das auf alttestamentliche und neuplatonische Vorstellungen zurückgeht und noch bis ins 18. Jahrhundert hinein das anerkannte Modell für die Beschreibung natürlicher Zusammenhänge und Interdependenzen war.[3]Es zeigt die Natur als in sich bewegt, und insofern bewundert Faust dieses "Schauspiel" (V. 454) auch. Letztlich aber ist er doch enttäuscht, nur unbeteiligter Zuschauer dabei sein zu können. Er sucht eine Erfahrung der Zeit als leibliche Dynamik, als wirkliche Teilhabe am Zeitstrom, den "Quellen alles Lebens" (V. 456), und geht deshalb von der theoretischen zur praktischen Magie über, von der mystischen Kontemplation zum alchemistischen Experiment. Dessen historisches Grundmotiv ist es, die Naturvorgänge im Laboratoriumsversuch nachzuahmen – nicht nur als ein äußeres Geschehen, sondern als einen Transformationsprozeß, in den der Alchemist einbezogen ist: Indem er den Schöpfungsvorgang der Natur wiederholt, macht er sich zum Herrn der Zeit. Voraussetzung hierfür ist seine Bereitschaft zur Selbstpreisgabe, denn sie ist die seelische Entsprechung zur Auflösung der Stoffe in die prima materia, eine massa confusa. Der enthusiasmierte Faust ist entschlossen zu diesem "kleinen Tod", wie ihn die Alchemisten nannten. Er beschwört den Erdgeist unter Einsatz seiner Existenz, ihn zur Teilhabe an der Produktivität der Natur zu befähigen: "Du mußt! du mußt! und kostet' es mein Leben!". Tatsächlich erscheint der Erdgeist daraufhin "in der Flamme" (nach V. 481f.). Doch bald schon wendet er sich wieder ab; Faust hatte zwar die Kraft, ihn "anzuziehn", nicht aber "zu halten" (V. 624f.).

Das ungelöste Problem, das diese Exposition des Dramas in der historischen Einkleidung des 16. Jahrhunderts zur Darstellung bringt, ist eines, das zugleich die unmittelbare Gegenwart des jungen Goethe betrifft: Die Verzeitlichung des Naturwissens ist ein Ergebnis des Erfahrungsdrucks, der durch zunehmende Faktenanhäufung entstand.[4]So wie im Ausgang des Mittelalters die zahllosen scholastischen Schriften und Traktate jeden Erkenntnisfortschritt unter sich zu begraben schienen und die Forderung nach praktischem Erfahrungswissen hervorbrachten, so waren im 18. Jahrhundert die Naturgeschichten zur neuen Scholastik geworden; mit ihren starren Klassifikationen gelangten sie ob der Fülle der darin festgehaltenen Materialien an die Grenze ihrer Darstellungsmöglichkeiten. Nun hatte sich zwar inzwischen mit der klassischen Mechanik eine Theorie herausgebildet, die dynamische Prozesse der Natur begreifbar machte, aber dieses Verzeitlichungskonzept war unbefriedigend. Goethe und seine Straßburger Freunde registrierten sehr genau den Substanzverlust, mit dem das neue, insbesondere von den französischen Aufklärern vorgetragene Bewegungs- und Fortschrittsmodell erkauft wurde: "Wenn wir von den Encyklopädisten reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen", berichtet er rückblickend in Dichtung und Wahrheit, "so war es uns zu Mute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen einer großen Fabrik hingeht" (1811, HA IX, 487).

Goethe geht es wie seinem Faust um eine substantielle Erfahrung zeitlicher Dynamik, die nicht "Mit Rad und Kämmen, Walz' und Bügel" (V. 669) zu erlangen ist, sondern nur als leibhaftige Teilhabe an der "lebendigen Natur" (V. 414). Diese Opposition zur "Gedanken-Fabrik" der französischen Enzyklopädisten, die auch in der mephistophelischen Studienberatung mit einem "Weber-Meisterstück" verglichen wird (V. 1922f.), stützt sich auf Herders frühe Geschichtsphilosophie, die im Fortschrittsbegriff der Aufklärung nur "lauter leblose Räder einer großen, hölzernen Maschine"[5] am Werke sieht; Herder setzt dagegen den Ausdruck der kreativen und kreatürlichen Kräfte in einer neuen Gefühlssprache, dem pindarischen "Odenfeuer"[6].

Geradezu schulgerecht kommen die Postulate dieser Poetik in Fausts Monolog zum Ausdruck. Was in der Renaissance die Anrufung magischer Kräfte war, wird nun mit einem neuen Kraft- und Erhabenheitsvokabular artikuliert:

Schon fühl' ich meine Kräfte höher,
Schon glüh' ich wie von neuem Wein,
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen. (V. 462–467)

 

Der alchemistische Prozeß der Selbsttransformation vollzieht sich hier in der Sprache. Der Druck der Wissensanhäufung, der das Subjekt bedrängt, steigert sich zum Äußersten im vierfachen Haufenreim und weicht dann unmittelbar der Selbstauflösung in eine prosodische massa confusa: Vers und Reim lösen sich auf, das Metrum verliert sein Regelmaß, die Sätze werden elliptisch – kurz, die sprachlichen Konstruktionsregeln weichen einem rein mimetischen Erlebnisausdruck:

Es wölkt sich über mir –
Der Mond verbirgt sein Licht –
Die Lampe schwindet!
Es dampft! – Es zucken rote Strahlen
Mir um das Haupt – Es weht
Ein Schauer vom Gewölb' herab
Und faßt mich an!
Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehter Geist.
Enthülle dich! (V. 468–476)

Durch das Odenfeuer der neuen Sprachmagie "angezogen", erscheint nun tatsächlich die "Flammenbildung" (V. 499) des Erdgeistes. Fausts "Seelenflehn" hat ihn geneigt gemacht (V. 488). Nur Bleiben mag er nicht. Als Grund nennt er die Furcht des Geisterbeschwörers, der vor der herbeigerufenen Gestalt seinen eben noch erfolgreichen Mut verliert (V. 496 ff.). Die Kommentare folgen in der Regel dieser Begründung. Aber ist es wirklich so, daß erst das bange Nachlassen von Fausts Begeisterung die Differenz zum Erdgeist markiert oder liegen die Unterschiede tiefer? Immerhin ist es merkwürdig, daß die Sprache des Erdgeistes völlig anders ist als diejenige, die ihn herbeirief: Die Selbstdarstellung des Geistes steht im absoluten Kontrast zur dithyrambischen Beschwörungsrede Fausts. Ihr "glühend Leben" ist nicht dionysisch berauscht, sondern appolinisch gebändigt zum "wechselnd Weben", das in monotonen Rhythmen und Reimen "auf und ab" und "hin und her" geht, "Grab" und "Meer" in seine gleichmäßige Textur aufnimmt, als handle es sich nicht um Entgrenzungswörter, sondern um Versatzstücke eines ihnen gegenüber äußerlichen Bewegungsmechanismus (V. 501-507). Und als wolle Goethe gar nicht erst den Eindruck erwecken, die Webe-Metapher sei hier organisch zu verstehen, präzisiert er sie abschließend in dem mechanistischen Sinne, in dem er zu jener Zeit seine Kritik der enzyklopädistischen Natursysteme versinnbildlichte: Äquivok zu den "bewegten Spulen und Weberstühlen einer großen Fabrik", die deren atheistisch-seelenlosen Charakter nach dem Bericht aus Dichtung und Wahrheit auszeichneten, sagt der Erdgeist, er schaffe "am sausenden Webstuhl der Zeit" (V. 509). Dieses Bild läßt weniger an eine natürliche Produktivität denken, wie etwa das Weben einer Spinne, als vielmehr an maschinelle Produktion. In der Tat hatte bereits zu Goethes Straßburger Zeit der berühmte Automatenbauer Jacques de Vaucanson mit seiner Erfindung des mechanischen Webstuhls von sich reden gemacht, so daß fortan das seit der Antike gebräuchliche Gleichnis der natura textor seine Unschuld verloren hatte. Gleichwohl  freilich beansprucht dieser Webstuhl-Geist, die Idee organischer Naturproduktivität zu verkörpern: Er "wirke der Gottheit lebendiges Kleid" (V. 509 f.), heißt es weiter. Wie reimt sich das zusammen?

Um das ambivalente Oszillieren der Erdgeistcharakteristik zwischen mechanistischer Bildlichkeit und organizistischer Bedeutung zu verstehen, bedarf es der Korrektur eines philologischen Gemeinplatzes: der undifferenzierten These von der Allegorie-Abstinenz des "Symbolikers" Goethe. Während die neuere Faust II-Forschung[7] diesbezüglich zwischen der Hochklassik und dem Spätwerk zu unterscheiden gelernt hat, ist eine entsprechende, für das Werkverständnis wesentliche, Formdiskussion hinsichtlich des Faust I bisher kaum geführt worden. Das läßt sich in der hier gebotenen Kürze freilich nicht detailliert begründen.[8]Für unseren Zusammenhang muß die allgemeine Feststellung genügen, daß sich auch im ersten Teil des Dramas allegorisch geformte Partien von symbolisierenden abheben. Erstere entstammen der Werkphase des Goetheschen Sturm und Drang und finden ihren reinsten Ausdruck in der Erdgeistszene. Die im Bann der Symbolinterpretation stehende Faust I-Philologie hat diese Tatsache weitgehend ignoriert und folglich auch die mechanistische Provenienz des "sausenden Webstuhls" unterschlagen. In fragloser Selbstverständlichkeit erscheint er ihr als "Symbol organischer Produktivität"[9]. Die Unbegreiflichkeit des Erdgeistes, an der die Beschwörung scheitert (V. 512 f.), muß sie folglich daraus erklären, daß Fausts rational begrenzter Menschenverstand die irrationale Übermacht der natürlichen Kräfte nicht zu fassen vermöge. Dieses mit der Macht der Gewohnheit sich haltende Deutungsklischee stellt die dramaturgische Konstellation auf den Kopf. Denn es ist Faust, der sich irrationalistisch entgrenzt, und es ist der Erdgeist, der sich von dessen chaotisierter Sprache durch eine Klarheit und Regelmäßigkeit seiner Verse absetzt, die im Hinblick auf den mechanistischen Aspekt der Webstuhl-Metaphorik rationalistisch genannt werden kann – ja muß, wenn man den weiteren dramatischen Kontext beachtet, der eben diese Metaphorik als Bild für das "Collegium Logikum" verwendet: "Zwar ist's mit der Gedanken-Fabrik", erklärt Mephisto dem verwirrten Schüler, "wie mit einem Weber-Meisterstück"; doch der kausale Zusammenhang, der sich daraus ergebe, sei geistlos, ihn "preisen die Schüler aller Orten,/ Sind aber keine Weber geworden" (V. 1911, 1922f., 1934f.). Der Erdgeist freilich ist ein Weber; er wirkt der "Gottheit lebendiges Kleid". Zugleich bleibt aber auch er als produktives Prinzip seinen Produkten gegenüber transzendent; er schafft nur "am sausenden Webstuhl der Zeit".

So führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß – wie auch William S. Heckscher bemerkt – bei Goethe "das Gleichnis vom Webstuhl […] eine merkwürdig ambivalente Bedeutung" hat, da er zum Beispiel "die Idee des mephistophelischen 'Meisterstücks', fast ohne Änderung des Wortlauts, auf die Natur überträgt".[10]Ohne Rekurs auf die Tradition der allegorischen Emblematik ist diese Ambivalenz nicht zu erklären. Daß Goethe in späterer Zeit später immer wieder im Gleichnis des Webens die Idee organischer Naturproduktivität auszudrücken versuchte,[11] ändert nichts daran, daß die Verbindung zwischen dem Bild und seiner Bedeutung bei der Webstuhl-Metapher brüchig ist. Und eben dies ist das Hauptmerkmal der Allegorie. Von der für diese charakteristischen Verzweiflung an der Hinfälligkeit der Zeichen ist die Beschwörungsszene ganz und gar durchzogen – angefangen bei Fausts Abwendung vom bloßen "Schauspiel" (V. 454) der Makrokosmosvision über den geradezu inflationären Gebrauch erhabener Topoi (V. 464ff.), die Sturm laufen gegen die Grenzen des Sagbaren, bis hin zur schroffen Abfuhr durch den Geist, der nicht "gefaßt" (vgl. V. 455) und nicht "begriffen" (vgl. V. 512) werden kann. Er selbst ist ja, als Personifikation, eine im konventionellen Sinne allegorische Figur. Und so deutet auch seine Webstuhl-Metapher auf das Ungreifbare im vordergründig Greifbaren. Sie verkörpert die Außenseite einer Beschleunigungsdynamik, deren inneres Wesen im Verborgenen bleibt: ihre Produktivität wird einzig von ihrer Funktionalität her beschrieben, deren "sausende" Geschwindigkeit zur Zeit des jungen Goethe ihren angemessenen Vergleich in den modernen Textilmaschinen fand.

Wenn er also den Erdgeist, diesen Inbegriff schöpferischer Naturkräfte, mit einer Apparatur in Verbindung brachte, der zwar Selbsttätigkeit zuzuschreiben war, die aber auf rein mechanischen Prinzipien beruhte, so handelt es sich ganz offenbar um einen bewußt inszenierten Bruch zwischen Bild und Bedeutung. Dessen allegorische Ausdrucksintention im Kontext der Erdgeistbeschwörung wird erkennbar, wenn man sich von der traditionellen, hier völlig unangemessenen Zuschreibung einer Natursymbolik erst einmal befreit hat: Die Idee einer substantiellen Verzeitlichungsform, wie sie im Kompositum der "Lebensfluten" (V. 501) angedeutet wird, ist zur Zeit des jungen Goethe noch nicht formulierbar; Spinozas monistischer, aber statischer Substanzbegriff und die bewegungsorientierten, aber rein mechanistisch formulierten Naturkonzepte standen sich unversöhnlich gegenüber. Die Nötigung der Genieästhetik zur Allegorie beruht denn auch nach der Einschätzung von Goethes Straßburger Mentor Herder darauf, daß die zeitgenössische Begrifflichkeit noch nicht imstande war, der Idee einer naturgeschichtlichen Entwicklung entsprechende Bilder zu verleihen. In seiner Auseinandersetzung mit Klotz verteidigt er die Allegorie als ein Verfahren, "abstrakte Wahrheit in Bilder zu hüllen"[12]. Ausdrücklich beschreibt er dies als eine Notlösung, solange die eigene Gegenwart noch keine der antiken Mytholo­gie ebenbürtige "neue My­thologie"[13] geschaffen habe. Sein Rat an die junge Generation lautet, sich vorläufig des alten Bildervorrats der Griechen zu bedienen. "Lernet von ihnen", empfiehlt er, "die Kunst zu allegorisiren."[14]Bis in Herders Ideen hinein – aber auch bei anderen Antimechanisten jener Zeit – hat die Maschinenmetaphorik nachgewirkt, ehe sie durch die des Organismus abgelöst wurde.[15]Erst mit der Kritik der Urteilskraft (1790) erhält diese ihre philosophische Basis.

Vorläufig jedoch vermag die Allegorie durch den expressiven Verweis auf ihre eigene Unzulänglichkeit ihren konstruktiven Charakter zu destruieren und so eben doch, wenn auch indirekt, ein lebendiges Geschehen zu artikulieren. In der Erdgeistbeschwörung verkörpert sich somit eine philosophische Position, die als nominalistisch zu bezeichnen ist. Es ist die Position des jungen Herder, dessen frühe, zu den französischen Aufklärern alternative Geschichtsphilosophie das Nomen anruft, um es als unzuläng­lich zu verwerfen. Worte sind für ihn – wie für den spätaufklärerischen Nominalismus überhaupt – nur flatus vocis, sie sind, wie er schreibt, "nur Zeichen! Evidenz und Gewißheit muß also in den Sachen liegen, oder sie liegt nir­gends!"[16]

Welches Temporalisierungskonzept daraus folgen muß, liegt auf der Hand: Ohne daß Herder zu dieser Zeit einen positiven Begriff der Geschichte hätte, möchte er doch der Überzeugung Ausdruck geben, daß es einen "Fortschritt" gibt, "wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmern einzelner Szenen".[17]Das Unaussprechli­che, die Dynamik der Natur, zeigt sich entsprechend an der Erdgeistbeschwörung in der expliziten Differenz zwischen Sagen und Meinen. Herders Inbegriff des mechanistischen Fortschrittsmodells, das "Räderwerk", wird hier in der Gestalt des Webstuhls zur Kritik an eben diesem Modell durch seine explizit allegorische Verwendung, das heißt durch die nominalistische Enthüllung der Konstruktion als Konstruktion.

Aus der allegorischen Lesart ergibt sich eine andere Erklärung für das Scheitern der Erdgeistbeschwörung als sie in den geläufigen Deutungen zu finden ist. Faust scheitert nicht an der übermächtigen Lebensfülle des Erdgeistes, sondern an der Äußerlichkeit seiner mechanistischen Bestimmung, deren Verweischarakter er nicht erkennt. Dies muß freilich auch Hermann von Helmholtz vorgehalten werden, einem der wenigen Interpreten, die im Erdgeist überhaupt eine "allegorische Figur Goethes"[18] erkennen. Während die symbolischen Lektüren der Szene deren Ambivalenz umgehen, indem sie den mechanischen Aspekt zugunsten des organischen ausblenden, verfährt Helmholtz umgekehrt: Für ihn ist die Selbstcharakteristik des Erdgeistes nichts anderes als eine vorweggenommene Formulierung des Gesetzes von der Konstanz der Energie, eines mechanistischen Prinzips also. Auch das kann freilich die Abfuhr nicht erklären, die Faust durch den Geist erfährt. Sie wäre dann nichts anderes als ein Armutszeugnis in puncto technischer Intelligenz. Selbstverständlich geht es hier um anderes, das zu begreifen wäre, und damit auch um ein anderes "Begreifen" (vgl. V. 512): das sinnlich-konkrete, leibhaftige Erfassen der Gottnatur in ihrer organischen Produktivität. Faust aber erfährt nichts von diesem Leben, sondern nur von dessen Weben. Warum ist das so? Hatte der Magier nicht mit "allen Kräften" (V. 495) leidenschaftlicher Emphase den Geist herbeigerufen? Warum präsentiert dieser sich ihm nicht in der gleichen Leidenschaftlichkeit?

Weil es zum Wesen genialischer Begeisterung gehört, daß keine äußere Manifestation dem inneren Gefühlsüberschwang entsprechen kann. Das Streben nach Korrespondenz muß daher in die Erfahrung einer Differenz münden, wenn es seinen eigenen Anspruch nach Entgrenzung nicht falsifiziert sehen möchte. Dieses Paradox, das aus der allegorischen Verfaßtheit der Szene hervorgeht, hat Goethe dichterisch minutiös gestaltet. Die Zurückweisung Fausts durch den Erdgeist beruht nicht auf dem Ausdrucksmittel der Dissonanz, sondern dem der Übereinstimmung, dem Gleichklang:

Faust:
Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!

Geist:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!" (V. 510–13)

 

Die Replik, inhaltlich eine schroffe Ab­fuhr, wird hier im Ton mimetischer Einsfühlung vorgebracht. Der Satz des Erdgeistes korrespondiert in allen klanglichen Komponenten – Assonanz und Alliteration, Reim und Wiederholung – Fausts Identitätsbegehren. Auch das Metrum beider Sätze ist identisch – allerdings mit einer erheblichen Verkürzung der Silbenzahl in der Replik, die sich als bedeutsam erweist: Der Zeile "Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!" korrespondiert nur ein Überbleibsel der Vokalsequenz auf i: "Nicht mir!" Was hier vom Erdgeist zurück­kommt, ist nicht mehr die vollständige Lautfolge, son­dern deren verkürzte Wiederholung, also ein Echo. Der nachhallende Gleich­laut markiert die Ungleichheit, er konfrontiert Faust mit einer neuen Grenze, die er abermals zu überschreiten hat: "Ich Ebenbild der Gottheit!/ Und nicht einmal dir!" (V. 516f.)

Die im Echo verkündete Nichtidentität ist somit eine Konsequenz des Geniegedankens und zugleich dessen Verhöhnung: Seine emphatische Einsfühlung erweist sich als Schimäre, die vermeinte Unmittelbarkeit wird als Konstrukt zurückgespiegelt. Anstatt in die Geheimnisse der Natur weiter einzudringen, wird Faust von seiner eigenen Projektion, dem Erdgeist, auf seine abstrakte Gelehrtenexistenz zurückgeworfen. Dieser dialektische Umschlag von unmittelbarer Naturbegeisterung in nüchterne Scholastik wird satirisch unterstrichen durch den eintretenden Famulus Wagner, der ein "griechisch Trauerspiel" glaubte "declamieren" zu hören (V. 522f.). Auch ohne die Hinzuziehung dieses Zwischenspiels, das die geschichtsphilosophischen Hintergründe der gescheiterten Erdgeistbeschwörung expliziert, läßt sich aus der Szene eine Kritik Goethes an den Grundpositionen des Sturm und Drang herauslesen. Zugespitzt auf unsere leitende Fragestellung besagt sie folgendes: Das expressive Naturbild der Erdgeistbeschwörung steht zwar in einem deutlichen physiognomischen Kontrast zu den frühen, mechanistischen Ansätzen einer Temporalisierung. Zugleich aber erscheint dieses Gegenbild selbst als fragwürdig; die von ihm beanspruchte Unmittelbarkeit ist rein selbstbezüglich, ihr Naturbild bleibt deshalb abstrakt und partizipiert so ungewollt an den Tendenzen, gegen die es sich stellt. Das von Goethe offenbar gesehene und als solches zur Darstellung gebrachte Problem ist das einer naturgeschichtlichen Konstellation, bei der die geschichtliche Dynamik unter das Zeichen der Natur gestellt wird "unter" insofern, als es noch kein sprachliches Bindeglied gibt, um diese Dynamik "im" Zeichen der Natur, also symbolisch, zum Ausdruck zu bringen.

Die Ratlosigkeit des Faust-Dichters, der auf dem eingeschlagenen Weg nicht weiterzugehen vermochte, andererseits aber noch nicht über ein neues Temporalisierungskonzept verfügte, dokumentiert sich auch in der Tatsache, daß die Fortsetzung der Szene lange Zeit unausgeführt blieb. Erst in der Phase seiner Zusammenarbeit mit Schiller wird er die "große Lücke" der Verse 608–1769 schließen. Zuvor aber kommt es zu einer Naturbildkonzeption, die als Zwischenstufe angesehen werden kann.

 

Das sympathetische Naturbild: Wald und Höhle

 

Fausts Monolog in Wald und Höhle ist – nach einer Formulierung Max Schelers – einzureihen in die Tradition der "Versuche […], in Liebe und Sympathie bestimmter Artung Funktionen nachzuweisen, die uns dem Grunde aller Dinge selbst näher führen".[19] In diesem Sinne spreche ich hier vom "sympathetischen" Naturbild.

Als habe er das Scheitern der Erdgeistbeschwörung auf der Grundlage neuer Erfahrungen und Erkenntnisse revidieren wollen, schreibt Goethe in den 80er Jahren eine neue Faust-Szene, in der uns vorgeführt wird, wie die Kommunikation mit dem Geist doch noch gelingen kann. Der Monolog in Wald und Höhle zeigt die Natur als Gegenstand jener substantiellen Zeiterfahrung, die zuvor vergeblich erstrebt worden war. Faust dankt dem "Geist", daß er ihm das Gefühl der Teilhabe an den Naturvorgängen vermittelt:

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. (V. 3221–28)

 

Wie ist dieser sympathetische Mitvollzug der Naturprozesse als leiblich erfahrene Dynamik möglich geworden?

Faust hat sich inzwischen verwandelt. Durch Mephistos Hilfe ist er verjüngt und liebesfähig geworden. Derart vitalisiert, zieht er sich zurück in die Natur und erfährt nun die in seiner Gelehrtenexistenz bloß deklamatorisch angemaßte "Kraft, sie zu fühlen, zu genießen". War es in der Beschwörungsszene der Blick eines Allegorikers, der an der Äußerlichkeit des mechanistischen Bewegungskonzepts abprallte, ist es nun der Blick eines Symbolikers, der in den konkreten Erscheinungen der Natur die Verwandtschaft alles Lebendigen – unter Einbeziehung seiner selbst – erkennt. Die vormalige Rivalität mit der schrecklichen "Flammenbildung" ist der Rezeptivität gegenüber einem "Freund" gewichen, der ihn in seinen "Busen" schauen läßt. Daß beides indessen – die Glut des Lebens und die Wärme der Sympathie – Attribute derselben Naturkraft sind, ist Faust durchaus bewußt: "Du hast mir nicht umsonst/ Dein Angesicht im Feuer zugewendet" (V. 3219 f.), sagt er im Rückblick auf die gescheiterte Erstbegegnung mit dem Geist. Das Feuerelement, das er als Verliebter in sich spürt, vermag er aber nun in eine zärtliche Gestimmtheit zu transformieren, die den Betrachtenden und das Betrachtete zu Kommunikationspartnern macht.

Der Monolog, den man auch einen inneren Dialog nennen könnte, dokumentiert in seiner expliziten Abgrenzung von der Erdgeistbeschwörung geradezu dokumentarisch den Übergang von der Geniepoetik zur Ästhetik des ersten Weimarer Jahrzehnts. Das Gefühl der Naturnähe wird hier nicht durchs identifikatorische Subjekt herbeigezwungen, sondern es stellt sich unwillkürlich ein. Rief Faust zuvor den Erdgeist als Akkusativ-Objekt an ("Enthülle dich!" – V. 476), so empfängt er nun die Naturerscheinungen im sympathetischen Dativ ("du gabst mir"; "hast mir […] zugewendet"; "Vergönnest mir"; "führst […] mir" etc.). Der Wahrnehmungsvorgang wird dabei niemals auf einen vereindeutigenden "Punkt" gebracht, sondern gleitet assoziativ von einer Ähnlichkeit zur nächsten und schließlich von der Außen- zur Selbstwahrnehmung über:

Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich. (V. 3229–35)

 

Die "Reihe der Lebendigen" ist also keine nur objektivierend beobachtete, sondern zugleich subjektiv erfahrene Abfolge. Das innere wie äußere Mitgehen mit dem Wechsel der Erscheinungen ist bis in die Sprachform hinein erkennbar: Sie bildet Synonymketten, die in wechselnden Nuancierungen ihre Semantik entfalten. Fausts Sehen ist einmal ein "Schauen", dann ein "Kennenlernen", dann ein "Gezeigtbekommen", ist "Angesicht", "Blick", "Betrachtung". Die Offenbarungen des Erdgeistes sind ein "Geben", ein "Erlauben", ein "Vergönnen", und die begleitenden Affekte ein "Fühlen", ein "Genießen", ein "Empfinden". Diese kontinuierlichen Bedeutungsverschiebungen qualifizieren die Symbolik des Monologs als metonymisch. Während eine synekdochische Symbolik die Einheit von Bild und Bedeutung dadurch herstellt, daß ein herausgegriffener exemplarischer Fall das ganze vertritt (pars pro toto), läßt die metonymische Symbolik die Phänomene in ihren nachbarschaftlichen Verhältnissen aufeinander verweisen: Das Bezeichnete wird nicht re-präsentiert, sondern es präsentiert sich im steten Wandel des Bezeichnenden.

Die "Reihe der Lebendigen", die Faust so kennen­lernt, ist mithin vernehmbar als eine sprachliche Reihung. Sie hat keine bestimmbaren Grenzen, findet keinen Abschluß in einer festen Bedeutungszuweisung, sondern wird in semantischen Übergängen zunehmend erweitert, bis sie sich im Gestus der schweifend ermüdenden Betrach­terlust sozusagen ausblendet:

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust. (V. 3236–40)

 

Allerdings bleibt es nicht bei dieser Horizontöffnung ins Undeutliche und Ungewisse. Aus der zerfließenden "Wonne", die Faust "den Göttern nah’ und näher bringt" (V. 3242f.), wird er abrupt herausgerissen durch den Gedanken an Mephisto. Unter dessen "Worthauch" werden die Gaben des Erdgeistes wieder "zu Nichts" (V. 3246f.). Zugleich aber erlebt Faust auch Mephisto als eine der vom Geist empfangenen Gaben; ja der "Gefährte" gehört für seine Wahrnehmung ausdrücklich "zu dieser Wonne" hinzu (V. 3241). Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Ein Blick in den diskursgeschichtlichen Kontext mag darüber näheren Aufschluß geben.

Goethe bekennt in einem Rückblick auf die Zeit seiner Ankunft in Weimar: "Von dem hingegen, was eigentlich äußere Natur heißt, hatte ich keinen Begriff, und von ihren sogenannten drei Reichen nicht die geringste Kenntnis" (1817/31, HA XIII, 149). Das ändert sich in dem Moment, als der Übersiedler durch die beruflichen Aufgaben, die er nun am Fürstenhof übernimmt – unter anderem im Garten- und Bergbau –, mit der zeitgenössischen Naturkunde in Berührung kommt. Vor diesem biographischen Hinter­grund ist auch Fausts Dank an den Erdgeist, die "herrliche Natur zum Königreich" bekommen zu haben, keine bloß metaphorische Aussage. Aus der Perspektive des Dichters ist sie metonymisch, da für ihn die Teilhabe am politischen Reich tatsächlich in die Aneignung der Lehre von den Reichen der Natur übergeht. Buchstäblich im Vorübergleiten macht sich Goethe auch mit der naturwissenschaftlichen Terminologie seiner Zeit vertraut. So schildert er den anmutigen Eindruck einer Fahrt mit der Kutsche, vor der "ein schmucker Land­knabe, im kurzen Westchen, daherlief, große Bündel von Kräutern und Blumen vorweisend, sie alle mit Namen, griechischen, lateini­schen, bar­barischen Ursprungs bezeichnend; ein Phänomen, das bei Männern, auch wohl bei Frauen, vielen Anteil erregte" (154). Die – für einen wissenschaftshistorischen Aufsatz geradezu provokante – Betonung der entspannten Begleitumstände seiner Naturstudien verfolgt durchaus programmatische Intentionen: Die rigiden Raster der naturgeschichtlichen Taxonomie jener Zeit sollen in Bewegung versetzt werden. Hierzu tragen die relativierenden Sprachvergleiche ebenso bei wie der poetische Kontext der Präsentation der Phänomene.

Fausts Monolog beschreibt einen ähnlich gearteten Lernvorgang. Sein Blick ist nicht der eines "kalt staunenden" Taxonomen, sondern läßt sich durch die Naturerscheinungen führen, die Abfolge ihren Attraktionskräften überlassend. Seine Rede von der "Reihe der Lebendigen" legt die in den 80er Jahren immer noch gültige Idee einer "Kette der Wesen" anders aus als die naturgeschichtlichen Standardwerke: Nicht als unveränderliche Ordnung, sondern als kontinuierlicher Übergang. So unterscheidet der Monolog zwar durchaus die drei Naturreiche voneinander; doch als seine "Brüder" erkennt Faust die Vegetabilia und Animalia "Im stillen Busch, in Luft und Wasser" ebenso wie die Mineralia der "Felsenwände", die ihm von den Geistern der "Vorwelt" beseelt erscheinen. In dieser genealogischen Zusammenschau ist das Interesse des naturfor­schenden Dichters zu erkennen, über die statischen Klassifikationen, ihr "scharfes […] Absondern" (1817/31, HA XIII, 582) hinauszu­gelangen, indem er alle Glieder der "Kette der Wesen" als Übergangsformen in einer gemeinsamen Dynamik begreift. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Erdgeistes haben allemal Teil an derselben Lebensbewegung, wie sie in Fausts Bedeutungsverschiebungen zum Ausdruck kommt. Ihre "Synonymenvariation"[20] dient nicht nur der objektivierenden Umschreibung, sondern dem Ausdruck einer subjektiv nachvollziehbaren Zeitlichkeit in der sich Innen- und Außenaspekte zwanglos verbinden.

Goethe hält dieses Modell für durchaus vereinbar mit wissenschaftlichen Ansprüchen. Ja, er verteidigt in seinem Namen die "mathematische Methode"; sie könne – wie er in dem programmatischen Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt betont[21] – "nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden". Denn die "Materialien", so fährt er fort, "müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein" (1792, HA XIII, 20). Doch "in Reihen" – das heißt für Goethe eben nicht: in einer fixierten Systematik. Anders als Linné, der die wachsende Materialfülle biologischer Entdeckungen durch konsequente Klassifikation einzugrenzen gesucht hatte, setzt er nicht auf eine festgefügte Terminologie, sondern eine, die sich mit ihrem Gegenstand beständig weiterentwickelt: "Da alles in der Natur, be­sonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe. […] Die Vermannigfaltigung eines jeden Versuches ist also die eigentliche Pflicht des Naturforschers." Da nun Goethe zufolge davon auszugehen ist, "daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe in irgendeiner Sache abzuschließen" (17f.), müssen mit den Beobachtungen auch die Begriffe sich fortwährend modifizieren.

Die prinzipielle Unabschließbarkeit der metonymischen Symbolik hat also ihr theoretisches Pendant in einem modifizierten Konzept naturwissenschaftlicher Reihenbildung. Die Naturphänomene werden nicht endgültig erklärt, sondern in einem unendlichen hermeneutischen Prozeß immer wieder neu gedeutet. Die Erwartung freilich, daß damit das Verstehen zunehmend vertieft werde, ist aus diesem Ansatz allein nicht zu rechtfertigen. Er setzt voraus, daß die sprachliche Reihenbildung des Naturforschers und die "Reihe der Le­bendigen" korrespondieren. Faust vertraut darauf, daß seine Beobachtungen die Naturvorgänge adäquat wiedergeben. Will man diese Position auf einen erkenntnistheoretischen Begriff bringen, so bietet sich der des naiven Realismus an, da er durch eine "Einstellung" charakterisiert ist, "in der die Inhalte der Wahrnehmung und das Ansichsein des Wahrgenommenen identifiziert […] werden"[22]. Eben das trifft auf den vorklassischen Goethe zu, der vom Naturforscher verlangt, er solle "die Data der Beurteilung nicht aus sich, son­dern aus dem Kreise der Dinge nehmen die er beobachtet" (1792, HA XIII, 10). Damit knüpft er philosophiegeschichtlich an diejenige Position des Universalienstreits an, die charakterisiert ist durch die Formel "universalia in rebus": Die Allgemeinbegriffe existieren nicht neben den Dingen – seien sie nun ihnen vorgeordnet ("universalia ante rem") oder nachträglich angeheftet ("universalia sunt nomina") –, sondern sie existieren nur zusammen mit den Dingen. Dieser philosophiegeschichtlicher Hintergrund seiner Position ist Goethe durchaus bewußt. In einer dezidierten Stellungnahme zum Spinoza-Streit vom 9. Juni 1785 schreibt er an Friedrich Jacobi: "Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne". Von der Kunst erwartet Goethe entsprechend, "daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen, genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen nebeneinander zu stellen und nachzuahmen weiß" (1788, HA XII, 32, Hv. P.M.).

Mit Naivität im umgangssprachlichen Sinne hat dieser Realismus freilich nichts zu tun. Zwar hat Goethe später sich selbst unter dem Einfluß der Etikettierung Schillers, er sei ein "naiver Dichter", dahingehend stilisiert und behauptet, er habe bis zu Kant Subjekt und Ob­jekt "niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über die Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbe­wußter Naivetät und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen" (1817, HA XIII, 26f.). Doch die genau abgestufte Verhältnisbestimmung der beiden Seiten der Erkenntnis in den zitierten Texten aus der Zeit vor seiner Rezeption der kritischen Philosophie zeigt, daß er diesbezüglich durchaus zu unterscheiden vermochte. Naiv ist sein erkenntnistheoretischer Standpunkt hier nur insofern zu nennen, als er ihm ein fundamentum in re zuspricht. Auch seine Ästhetik ist in dieser epistemologischen Basis verankert: Für den vorkritischen Goethe "ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, inso­fern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen" (1788, HA XII, 32).

Goethes Zuversicht in die Möglichkeit einer Wesenserkenntnis der Natur findet ihren deutlichsten Ausdruck in seiner Abhandlung Über den Granit, die mit Fausts Monolog in einer engen Verbindung steht. Wie dieser in intimer Zwiesprache dem "erhabnen Geist" für die vergönnte Selbstoffenbarung dankt, so schildert der Granit-Aufsatz "die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Na­tur gewährt" (1784, HA XIII, 255). Was hier als Bedingung genannt wird: ein Mensch, "der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will" (255), ist dort eingelöst durch einen Faust, der erfährt, wie seiner "eignen Brust/ Geheime tiefe Wunder (sich) öffnen". Das Subjekt wird – so wiederum der Aufsatz – in dem "Augenblicke, […] da die Einflüsse des Himmels [es] näher umschweben, […] zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt" und gelangt vom konkreten Naturphänomen zur Versen­kung in ge­schichtlichen Sinn; die Granitfelsen erscheinen ihm als "Denkmäler der Zeit" (255). Äquivok "schweben" auch Faust, der sich "den Göttern nah und näher" fühlt, "von Felsenwänden […] Der Vorwelt silberne Ge­stalten auf". Auch im Monolog also wird eine Solidität der Natur als Erkenntnisfundament angenommen, das dann deutend transzendiert und neuen Ver­stehenshorizonten geöffnet werden kann. Indem Faust die Unbewegtheit des Gesteins zur Projektionsfläche geschichtlicher Betrachtungen macht, erscheint ihm dieses selbst als zeitlich: Geschichte steht im Zeichen der Natur.

Bemerkenswert ist nun, daß der Monolog eine Wendung nimmt, die das in betrachtender Versenkung gewonnene Erlebnis zeitlicher Dauer wieder destruiert. Der Umschlag des Mono­logs von kontemplativer Ruhe in hektische Erregung – ein Phänomen, das zu erklären vielen Faust-Kommentatoren unmöglich scheint – wird vor dem Hintergrund des Granit-Aufsatzes als durchaus konsequent begreifbar: "Ich kehre", schreibt Goethe, "von jeder schweifenden Betrachtung zurück und sehe die Felsen selbst an […] und fast möchte ich bei dem ersten Anblicke ausrufen: Hier ist nichts in seiner ersten, alten Lage, hier ist alles Trümmer, Unordnung und Zerstörung" (1784, HA XIII, 257). Galt der Granit ihm zunächst als unerschütterlich und vorgeschichtlich, so zeigt er sich nun, da er in die geschichtliche Betrachtung einbezogen ist, seinerseits als veränderlich. Eine solche Wechselwirkung finden wir auch bei Faust. Die "Wonne", die ihn "den Göttern nah und näher bringt", verdankt sich zunächst einem Basisvertrauen in die Solidität der Naturerscheinungen, aus dem sie hervorgeht; andererseits wirkt ihre Dynamik mit zunehmender Loslösung von jenem festen Grund auf diesen zurück. Die kontemplative "Betrachtung" der "Reihe der Lebendigen", die das Gewißheitsgefühl der Fortdauer genoß, schlägt nun um in ihre Kehrseite: der Einsicht in ihre Unabgeschlossenheit, die ihr plötzlich als bedrohlich haltlos erscheint und das Verlangen nach sinnlicher Konkretion weckt: "So tauml’ ich von Begierde zu Genuß,/ Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde" (V. 3250f.).

Was zuvor ein hermeneutischer Zirkel sukzessiv sich sublimierenden Naturverstehens war, ist nun zum Teufelskreis geworden. Faust beschreibt diesen Umschlag denn auch als eine Wirkung Mephistos. Doch er weiß durchaus, daß der "Gefährte" ebenso zu den Gaben des Erdgeistes gehört wie die Begierde zum Genuß. Daß Faust dem einen Aspekt im anderen begegnet, ist der künstlerisch konsequente Ausdruck des erkenntnistheoretischen Problems, das Goethe zu jener Zeit beschäftigte. Der Versuch, das klassifikatorische Naturwissen seiner Zeit im Modell eines sich reziprok vertiefenden Dialogs zwischen Subjekt und Objekt zu dynamisieren, verfängt sich in einem circulus vitiosus: Das von jeder Hermeneutik notwendig vorausgesetzte Fundament der Verstehbarkeit relativiert sich in ihrem eigenen Vollzug.

Goethes naiver Realismus, der sich in Fausts Naturgenuß verkörpert, wird hier, im dichterischen Durchspielen seiner Konsequenzen, an eine Grenze geführt, die ihn letztlich destruiert: Er zeigt sich nominalistischem Zweifel hilflos ausgeliefert, wie das sich anschließende Wechselgespräch mit Mephisto zeigt. Unter dessen "Worthauch" werden die "Gaben" des Erdgeistes "zu Nichts". Er entwertet die geistig "hohe", aber erkenntnistheoretisch haltlose "Intuition" (V. 3291) Fausts ob ihrer Unbestimmtheit zum leeren "Kribskrabs der Imagination" (V. 3268) und moniert, daß Faust in "stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen" (V. 3288) wolle. Schon dieser Erklärungsdruck führt eine Vernichtung des zuvor erfahrenen Naturgenusses herbei. Dessen flüchtige Qualität verwandelt sich durch die Festlegung auf Ziele und Zwecke von einem erotischen Genießen in ein sexuelles Begehren, den Busen der Natur in einen bloßen Ersatz für den Busen Margarethes – was Mephisto durch die "unanständige Gebärde" (nach V. 3291) der Masturbation andeutet.

Wenn Goethe seinen Faust derart in Argumentationsnot bringt, so spricht daraus ein Bewußtsein der Problematik, die seiner theoretischen Position im ersten Weimarer Jahrzehnt innewohnt: Der naiv-realistische Naturbegriff hält analytischer Kritik nicht stand – er muß letztlich auf eine Emphase rekurrieren, die von der Verständnisbereitschaft des anderen abhängt. Indem Goethe das aber mit der neuen Dramenszene selbstkritisch zum Ausdruck bringt, problematisiert er zugleich die ähnlich gearteten Versuche der Naturgeschichten jener Jahre, einen nichtmechanistischen Entwicklungsbegriff zu formulieren. Diese Versuche sind insgesamt von argumentativen Unsicherheiten geprägt, wie Wolf Lepenies feststellt: "Lange Zeit waren die Naturalisten auf die Erweiterung ihrer Kenntnisse konzentriert gewesen, bevor sie merkten, daß ihre Erkenntnismittel nicht mehr ausreichten, um über die Anhäufung von Tatsachen hinaus noch zu einer Systematisierung des Wissens zu gelangen. Was sich unter dem Druck zur Temporalisierung ändert, ist aber zunächst nicht die jeweilige naturhistorische Methode, sondern die Naturgeschichte in ihrer Darstellungs­form."[23]Der zunehmende Erfahrungsdruck des Wissens hatte zwar in den 80er Jahren die statisch-räumlichen Klassifikationssysteme gesprengt; doch eine alternative, dynamische Systematik gab es noch nicht. Die neue Verzeitlichungstendenz steht auf terminologisch unsicheren Füßen. So spricht etwa Buffon zwar mittlerweile von Zwischenstufen, vermag diese aber nicht in ein Konzept zeitlicher Kontinuität zu integrieren.[24]Die im Ansatz zwar temporale Vorstellung von einer "Kette der Wesen" bleibt immer noch vorwiegend räumlich bestimmt.

Wie die Naturwissenschaftler seiner Zeit findet Goethe zur Konsequenz der Verzeitlichung nur indirekt, über die Dar­stellungsform. Als "naiver" Realist möchte er dem Subjektivismus der naturwissen­schaftlichen Kategorisierung entgehen, indem er der "leise sprechenden Natur" zuhört und ihre Geschichtlichkeit durch Geschichten, durch Vermannigfaltigung und Synonymenreihung, zum Ausdruck bringt. Er leistet damit einen bedeutenden Beitrag zu einer Temporalisierung des Naturwissens. Doch mit der Hereinnahme der Sprachbewegung in die Phänomenologie der Natur kann er das naturgeschichtliche Problem der Fachwissenschaft, "die Zeit zu einem Faktor des Klassifikations­systems selbst"[25] zu machen, nur insofern lösen, als er die Systematik ihrerseits auflöst: Sie verliert ihren begrifflichen Rahmen. Das Prinzip der Reihenbildung ist ebensowenig terminologisch zu fassen wie die in ewiger Verwandlung befindliche Natur, an der sie ihr Vorbild hat. Solange aber hier noch, wie es Lepenies für die Naturgeschichten dieser historischen Phase insgesamt hervorhebt, "der naturale Zeit­bezug eindeutig im Vordergrund steht"[26], kann ein autonomer Entwicklungsgedanke nicht aufkommen.

Goethe ist dieses Problem durchaus bewußt gewesen, für das er – wie er programmatisch am Ende des Granit-Aufsatzes sagt – eine Lösung erst noch sucht: "Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfa­den zu ferneren Be­obachtungen? Dies ist es, was ich zu tun mir gegenwärtig vorsetze […]" (1784, HA XIII, 257).

Wie Goethe zu seiner Lösung findet und um welchen Preis, zeigt sich am nächsten Naturbild.

 

Das harmonisierende Naturbild: Osterspaziergang

 

Warum ich von einem harmonisierenden und nicht einfach von einem harmonischen Naturbild spreche, wird im folgenden deutlich werden.[27] Die Szene Vor dem Tor, der wir uns nun zuwenden, entstand um die Jahrhundertwende, also nach dem Monolog in Wald und Höhle. Im dramatischen Ablauf aber liegt sie diesem voraus. Der Osterspaziergänger Faust ist hier noch der Gelehrte, der gerade zum ersten Mal im Verlauf des Dramas seine Stube verlassen hat. Er führt Wagner durch die frühlingshafte Landschaft auf einen Hügel und beschreibt ihm von dort oben die Szenerie des aufkeimenden Lebens in der Natur:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück (V. 903ff.).

 

Den Vorgängen in der Landschaft korrespondieren – aus der eingenommenen Vogelperspektive jedenfalls – die Feiertagsaktivitäten der Menschen. Wagners Blick wird entsprechend gelenkt:

Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstren Thor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden (V. 916–22).

 

Das konkrete Phänomen aufbrechenden Lebens und die allgemeine Idee der Auferstehung werden hier, in der gesellschaftlichen Sphäre, ebenso bruchlos in Übereinstimmung gebracht wie zuvor in der natürlichen. Was aber verbindet die beiden Sphären untereinander? Wie im Monolog Wald und Höhle, so werden auch im Osterspaziergang Natur- und Humangeschichte verschränkt:

Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür. (V. 911–15)

 

Fausts Verse können "Blumen" und "geputzte Menschen" als austauschbar erscheinen lassen, da sie durch ein gemeinsames Drittes zusammengehalten werden: Beide Lebenssphären werden durch das Sonnenlicht gleichermaßen vitalisiert. In der leitmotivischen Formel "Bildung und Streben " kommt ihre Indifferenz zur Sprache – das Leitmotiv beschreibt ebenso biologische wie anthropologische Qualitäten. Diese Übereinstimmung beruht nun aber, anders als im Monolog Wald und Höhle, nicht auf inneren Verwandtschaften, sondern auf äußeren Analogien, die ihrerseits durch die Parallelität kontrapunktischer Entgegensetzungen gestiftet werden: Der Bildungsvorgang der Natur ergibt sich aus dem Widerstreit zwischen winterlicher Erstarrung und frühlingshaftem Aufbruch, kontrahierender Schneedecke und expandierendem Sonnenlicht. Dieser Vorgang wiederum spiegelt sich, mit derselben kontrapunktischen Struktur, im Bereich der Gesell­schaft: Auch die Bürger der Stadt stehen in der Polarität zwischen "Gewerbesbanden" und Freizeit, strömen aus der bedrückenden "Enge" der Stadt ins Weite der Landschaft, aus dem "finstren Tor" "ans Licht" des sonnigen Sonntags (V. 924–28). Faust be­schreibt die Phänomene der Natur so, daß sie in ihrer äußeren Erscheinung Vorgängen des gesellschaftlichen Lebens entsprechen: Wie der Frühling alles "mit Farben beleben" will, so haben die Menschen an diesem Tag neue, "farbige Kleider" (V. 936) angelegt. Wie die Sonne den dunk­len Winter vertreibt, so überwinden an diesem Tag die Bürger der Stadt die Düsternis ihrer Lebensverhältnisse. Umgekehrt bildet das Strömen der "Menge", die sich "Durch die Gärten und Felder zerschlägt", eine Analogie zum Flußlauf (V. 930f.).

Die hier zugrundegelegte Symbolik ist als synekdochisch zu charakterisieren: Das harmonisierende Naturbild stützt sich nicht auf Assoziationsreihen wie das sympathetische, sondern es nimmt einzelne Erscheinungen nach dem Prinzip pars pro toto als Repräsentanten allgemeiner Ideen. Die synekdochische Symbolik ist damit notwendig weit weniger nah an den Phänomenen als die metonymische. Fausts Blick kommt aus "Höhen", von denen er die Erscheinungen nicht sequentiell, in Reihen, sondern global, als einen umfassenden Gesamteindruck, wahrnimmt. Dadurch erst kann das Einzelne zum Repräsentanten des Ganzen werden. Die Synekdoche findet stets einen totalisierenden kategorialen Rahmen – als "Flur" und "Revier", "Stadt" und "Dorf", "Menge" und "Volk" (V. 910–37). Da Faust die Szenerie souverän von oben überschaut und wie ein Maler die Perspektiven arrangiert, kann er Partikulares, das für sich genommen zufällig wäre, in den kompositorischen Gesamtkontext einbetten. Er faßt die Natur nicht in konkreten Individuen auf, sondern in Linien, Flächen und Koloriten: Sie sendet "Streifen über die grünende Flur", ergießt sich, als "Fluß", in "Breit' und Länge" (V. 931) und bietet den Hintergrund für das "Blinken […] farbige[r] Kleider" (V. 936). Auch die akustische Wahrnehmung wird auf Hauptlinien und Koloraturen reduziert: Aus dem "Getümmel" (V. 937), das vom Dorf herüberklingt, ist gerade noch das Stimmgemenge von "groß und klein" (V. 939) zu unterscheiden, und was es "zufrieden jauchzet", erhält in Fausts Paraphrase erst seine generalisierende Bedeutung: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" (V. 940).

Die Symbolik des Osterspaziergangs folgt somit den ästhetischen Maximen, die Goethe in der Zeit seiner Zusammenarbeit mit Schiller entwickelt. "Indem der Künstler", schreibt er in seiner Einleitung in die Propyläen, "irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höheren Wert hineinlegt" (1798, HA XII, 46). In der Tat ist es Faust mit seinem idealisierenden Blick, der in die Naturerscheinungen "erst den höheren Wert hineinlegt"; er ist es, der die symbolischen Gehalte vorgibt, indem er sie ausspricht: "Hoffnungsglück", "Bildung und Streben ", "Auferstehung", "Mensch […] sein". Ohne Einführung dieser Bezeichnungen könnten die geschilderten Gesellschaftsphänomene mit ihrem von Verstädterung, Zunftordnung und profanisierter Glaubenskonvention bedingten Feiertagsjubel kaum ihrer geschichtlichen Kontingenz enthoben werden. Aber was gestattet es, diese Sinnzuweisungen den Bewegungsprinzipien der Natur, ihren Zyklen und Rhythmen, gleichzusetzen?

Eben diese Frage beschäftigte Goethe, als er 1797 seine Vaterstadt besuchte. Die bürgerlichen Lebensverhältnisse dort erschienen ihm mittlerweile als wesentlich von Abstraktionen bestimmt, so daß sie eine symbolische Darstellung nach dem antiken Vorbild der Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Idee kaum noch zuließen. Das zentrale Dokument dieses Reflexionsprozesses ist Goethes sogenannter "Symbolbrief", den er am 16. August aus Frankfurt an Schiller schrieb. Eine ausführliche Diskussion des Briefes, mit der Heinz Schlaffer (1981) ein neues Kapitel der Faust-Deutung einleitete, muß hier unterbleiben. Ich beschränke mich auf Goethes Kernaussage: Auch in der bürgerlichen Gesellschaft gibt es symbolische Gegenstände, nämlich "eminente Fälle, die […] als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen" und sich dem sinnlichen "Anschauen" erschließen.

Die Szenerie des Faust-Monologs ist entsprechend ausgewählt. Sie greift einen "eminenten Fall" des bürgerlichen Lebens heraus, den Ostersonntag, der für die allgemeine Idee der Auferstehung aus bedrängten Verhältnissen repräsentativ ist und in den für einen solchen Feiertag typischen Ritualen und Gebräuchen anschaulich machen läßt. Das Freizeitverhalten wiederum ist mit dem Naturphänomen der frühlingshaft aufkeimenden Landschaft kombinierbar, so daß sich eine quasi organische Verbindung beider Sphären ergibt.

Freilich erst durch das Blickfeld-Arrangement Fausts. Erst seine distanzierte, auf das Geschehen herabblickende Perspektive macht die sozialen Aktivitäten den Naturvorgängen analogisierbar. Selbst das "zufrieden(e) […] Jauchzen", das Faust zu vernehmen meint, verdankt sich offenbar dem von der Propyläen-Einleitung geforderten "Hineinlegen" subjektiver Deutungsvorgaben. Während der nüchterne Wagner nur ein "Schreien" (V. 945) wahrnimmt, das er als Ausbruch des "Rohen" (V.944) in der menschlichen Natur auffaßt, deutet es Faust als einen Inbegriff kultureller Sublimation – einen Hymnus säkularisierten Christentums:

 

Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel (V. 937f.).

 

Die Frage nach den diskursgeschichtlichen Hintergründen dieser Darstellungsform führt zu der Feststellung, daß Goethes klassische Symbolkriterien – Totalität, Repräsentanz und Anschaulichkeit – Grundzüge seiner wissenschaftstheoretischen Entwicklung in den 90er Jahren benennen: erstens die Anerkennung des Kantschen Arguments, daß eine Totalität nur im Sinne der kritischen Transzendentalphilosophie zum Erkenntnisobjekt werden kann; zweitens die Erweiterung dieses Arguments im Sinne Schellings, dessen objektiver Idealismus den Vollzügen des transzendentalen Ich die Fähigkeit zur Repräsentation der an sich seienden Wirklichkeit zuspricht; drittens schließlich die Rückführung der bei Schelling spekulativ konzipierten intellektuellen Anschauung auf die konkret-sinnliche Wahrnehmung der Urphänomene. Diese drei Entwicklungsschritte seien im folgenden kurz referiert.

(1) In der Mitte der neunziger Jahre beginnt Goethe, seine Naturforschungen erkenntnistheoretisch zu fundieren. Am 25. November 1795 schreibt er an Schiller: "Bei Zusammenlegung meiner physikalischen Erfahrungen ist es mir schon, wie ich finde, von großem Nutzen, daß ich etwas mehr als sonst in den philosophischen Kampfplatz hinunter sehe." Kants Transzendentalphilosophie, auf die hier angespielt wird, gestattete eine solche Zusammenlegung naturwissenschaftlicher Beobachtungen durch die Bereitstellung von Kategorien, die aus einheitlichen Vernunftprinzipien abgeleitet waren. Sie versprach den Mangel an theoretisch begründeter Systematik, wie er noch im sympathetischen Naturbild zutage getreten war, zu beheben. Wie groß das durch den mittlerweile erdrückenden Materialreichtum wissenschaftlicher Entdeckungen induzierte Bedürfnis nach einer solchen philosophischen Vereinheitlichung war, bezeugt – repräsentativ für die Tendenzen der Zeit – eine Formulierung aus Goethes Symbolbrief: Er hoffe, schreibt er darin, sich zum letzten Mal "mit der millionenfachen Hydra der Empirie herumgeschlagen" zu haben. Die neue Lösung, Erfahrung und Idee auf der Grundlage der kritischen Philosophie zu vermitteln, kommt denn auch in der Symbolik des Osterspaziergangs zum Ausdruck: Fausts Blick verhält sich zu den Gegenständen so konstitutiv wie Kants transzendentales Subjekt. Er gibt die Begriffe vor, nach denen die Wahrnehmung strukturiert ist: "Frühling" und "Winter", "Flur" und "Revier", "die Menge" und "das Volk" sind Bezeichnungen, die nicht der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben sind; sie bestätigen den Grundsatz aus der Kritik der reinen Vernunft, demzufolge "Anschauungen ohne Begriffe […] blind" sind (B 75). Das Subjekt erhält dadurch eine logische Vorrangstellung gegenüber den von ihm erkannten Objekten.

Das Initial für diese subjektorientierte Wendung in der Naturwahrnehmung Goethes war sein erstes Gespräch mit dem Kantianer Schiller im Jahre 1794. Dessen Belehrung über den Unterschied von Erfahrung und Idee erneuerte für ihn, wie er schreibt, "die alte Hauptfrage, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage. Ich habe beides niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten: wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so ent­springe sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Die Erkenntnisse a priori ließ ich mir auch ge­fallen, so wie die synthetischen Urteile a priori" (1817, HA XIII, 27).

Fausts Position auf dem Hügel ist sinnbildlicher Ausdruck jenes Standpunktes, "der dem Menschen am meisten Ehre macht": Sein Sehen beruht auf einem Wissen. Insofern ist auch der Jubelsatz "Hier bin ich Mensch", den er dem Volk zur Krönung seines Monologs in den Mund legt, ein synthetisches Urteil a priori; Faust hat es sich gebildet, bevor er nahe genug herangekommen ist, um mehr als nur ein Stimmengewirr vernehmen zu können. Der Jubel ist sein eigener – nicht als der eines Menschen, der mitfeiert, sondern eines, der souverän darübersteht. Dies läßt sich als ästhetisches Symptom für die in jenen Jahren vollzogene Abkehr Goethes vom naiven Realismus lesen. Zugleich aber wird deutlich, daß diese Abkehr auf einer eigenwilligen Kant-Exegese beruht: Zwar ist es Faust, der Wagners Blick auf die Szene steuert und das Gesehene kompositorisch arrangiert. Aber als Regisseur ist er doch zugleich um Objektivierung seiner subjektiven Eindrücke bemüht. So führt er etwa die Wahrnehmung der leitmotivischen Idee von "Bildung und Streben " nicht auf seinen, sondern "des Frühlings holden belebenden Blick" (Hv. P.M.) zurück. Gerade diese Zurückführung aber bedarf des Menschen, in dem die Natur – nach einer Formulierung Schellings – einen Lichtblick ins Mögliche wirft[28], das heißt die notwendig anthropomorphe Wahrnehmung der Natur als Subjekt nicht anthropozentrisch, sondern physiozentrisch gedeutet wird.[29]Eine solche Position beruht philosophisch gesehen auf einer Vermengung zweier Erkenntnisansprüche: des diskursiven der Kritik der reinen Vernunft und des reflektierenden der Kritik der Urteilskraft. Goethe konnte mit der einen Kritik wenig anfangen, mit der anderen dafür um so mehr, da er hier mit dem Begriff der intellektuellen Anschauung eine Möglichkeit beschrieben fand, die Funktionen organischen Lebens als einen immanenten Naturzweck zu begreifen. Diesem Werk, sagt er deshalb, sei er "eine höchst frohe Lebensepoche schuldig" (1820, HA XIII, 27) gewesen. Freilich legt er es unorthodox aus: Goethe nimmt es zur Grundlage seiner Naturwissenschaft und verletzt hiermit die Grenzen der von Kant strikt auseinandergehaltenen Vernunftprinzipien. Denn Kant zufolge wird die "teleologische Beurteilung" zwar "mit Recht zur Natur­for­schung gezogen; aber nur, um sie nach der Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beob­achtung und Naturforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen, sie danach zu erklären" (KdU, A 265).

Eben diese Anmaßung aber, den regulativen Vernunftgebrauch mit dem Erkenntnisanspruch des diskursiven zu versehen, findet sich in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften jener Zeit. Als theoretische Grundlage des harmonisierenden Naturbildes können wir deshalb einen kritischen Realismus ausmachen – allerdings in dem erweiterten, über Kant hinausweisenden Sinne einer Position, bei der "im Durchgang durch erkenntniskritische Erwägungen und in Rücksicht auf die Phänomenalität des Gegebenen ein wie auch immer eingeengter Zugang zum Ansichseienden gesucht wird, wo sozusagen eine Synthese von Erkenntnistheorie und Ontologie angestrebt wird"[30]. Philosophischen Rückhalt hierfür findet Goethe bei Schelling.

(2) Schelling suchte den reflexionsphilosophischen Dualismus zu überwinden, mit dem Kant die Erkenntnis auf die Kategorien transzendentaler Subjektivität reduziert und das Ding an sich außerhalb ihres Fokus gerückt hatte. Seine Naturphilosophie kulminiert dagegen in einem Identitätskonzept: "Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen."[31]Durch seinen Umgang mit Schelling gelangt Goethe zur objektiv-idealistischen "Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur", nämlich "Polarität" und "Steigerung"; die Polarität ist "der Materie, inso­fern wir sie materiell," die Steigerung hingegen ist der Materie, "insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in im­mer­währendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen" (1828, HA XIII, 48).

Nach diesem Modell einer Steigerung aus Polaritäten ist auch der Osterspaziergang konzipiert. Auch hier wird die Natur zunächst "materiell" – in den Polaritäten von Winter und Frühling, Kontraktion und Expansion, Finsternis und Licht – wahrgenommen, um daraus "geistig gesteigert" hervorzugehen: als Ermöglichung neuen Lebens im Modus von "Bildung und Streben ". Dieser Modus verbindet organisch die Sphäre der Natur mit derjenigen der Menschen, die dasselbe Gesetz wiederum auf höherer Ebene realisieren: auch sie stehen in polarisierten Lebensverhältnissen – zwischen der städtischen Enge und dem ländlichen Erholungsgebiet außerhalb ihrer Tore, reglementierten Arbeitsverhältnissen und ausgelassener Freizeit. Das Osterfest hebt diese Gegensätze in einer höheren Synthese auf: In "der Kirchen ehrwürdger Nacht" erinnert man sich des Mysteriums der Auferstehung, das anschließend seine sinnliche Entsprechung im Feiertagsvergnügen findet.

Mit der Konkretion dieser Synthesen geht Fausts Monolog allerdings auch über Schellings Philosophie hinaus. Die Identität von Geist und Materie ist aus seiner Sicht nicht bloß das Resultat einer intellektuellen, sondern einer leibhaftigen Anschauung. Die Formulierung "Kehre dich um, von diesen Höhen/ Nach der Stadt zurück zu sehen" (V. 916) hat in diesem Sinne programmatischen Charakter. "Sieh nur sieh!" (V. 929), fordert Faust, als sei das vor seinem geistigen Auge entstehende Steigerungsprinzip zugleich konkret anschaulich.

(3) Goethe benutzt die Identitätsphilosophie gleichsam nur als Leiter, um zur reinen Anschauung der Urphänomene auf­zusteigen. Sie sind für den Naturforscher die "Grenze seiner Wissenschaft" (1810, HA, XIII, 483), da sie sich nicht weiter ableiten lassen. Ihre leibhaftige Wahrnehmung führt, wie Hermann Schmitz in seinem Beitrag zum vorliegenden Band erläutert, an jenen Punkt heran, wo das Subjekt einem "Ganz-Anderen" begegnet – und sich entweder auf die ihm zugängliche Sphäre bescheidet oder dem Erlebnis des Numinosen aussetzt. Die naturwissenschaftliche Bedeutung des Urphänomens ist somit von seiner ästhetischen Wahrnehmung – im urspünglichen Wortsinn: als Aisthesis – nicht zu trennen. Paradigmatisch kommt dies in Goethes morphologischen Lehrgedichten zum Ausdruck. Die Metamorphose der Pflanzen etwa macht das Verständnis dieses Naturvorgangs von einer mitvollziehenden Anschauung abhängig: "Werdend betrachte sie nun", heißt es da, und "Immer staunst du aufs neue" oder "Wende nun […] den Blick" (1798, HA I, 199 ff.). Fausts Monolog verwendet, wie wir gesehen haben, ähnliche Anregungsformeln. Er lenkt Wagners Blick auf die Analogien in Natur und Gesellschaft, um sie als Urphänomene kenntlich zu machen, das heißt als konkrete Erscheinungen, die nur im "Hier" des erlebten Augenblicks wahrnehmbar sind.

Insofern löst der Osterspaziergang das Problem, das in Wald und Höhle offen blieb: Die Temporalität der Phänomene, die dem naiven Realismus des sympathetischen Naturbildes durch beständige metonymische Verschiebungen sozusagen außer Kontrolle geriet, wird hier durch das konstitutive Subjekt systematisierend gebändigt und überschaubar gemacht, ohne den Anspruch des lebendigen Mitvollzugs preiszugeben. Stand zuvor die Geschichte im Zeichen der Natur, so steht nun die Natur im Zeichen der Geschichte. Faust gibt den an sich kontingenten geschichtlichen Erscheinungen einen höheren Sinn, den er zur Grundlage seiner Naturwahrnehmung macht: Aus den individuellen Manifestationen des Freizeitverhaltens wird eine allgemeine Idee des Freiheitsstrebens destilliert, die sich ihrerseits auf die frühlingshaft aufkeimende Landschaft rückprojizieren läßt. So entsteht das Bild einer humanisierten Natur und einer naturalisierten Gesellschaft, die in einer gemeinsamen Bewegung aufgehoben sind. Mit ihm partizipiert Goethe an der systematischen Überwindung der im Temporalisierungsdiskurs der vergangenen Jahrzehnte aufbrechenden Problematik: Hatte das mechanistische Fortschrittsmodell zu einer Autonomsetzung des Zeitfaktors geführt, so kann nun das Auseinanderdriften von Periodizität und Linearität vermittelt werden: Das harmonisierende Naturbild zeigt, daß reale Wachstumsvorgänge und ideale Bewegungsgesetze auf einheitlicher Grundlage zu verbinden sind. Das Strukturprinzip von Polarität und Steigerung versöhnt beide Tendenzen, wie Lepenies in Anlehnung an Jaußformuliert, durch die "Kompromißmetapher der Spirale", die "aufs Neue historisches und naturales Denken miteinan­der kombiniert".[32]

Auch hier indessen finden wir eine bemerkenswerte innere Widersprüchlichkeit, die im Medium der künstlerischen Form das begrifflich gelöste Problem diskreditiert. Der Osterspaziergang kehrt die selektiven kompositorischen Arrangements Fausts derart aufdringlich hervor, daß sie sich als Hilfskonstruktionen zu erkennen geben und somit Zweifel an der beschriebenen Versöhnung von Natur und Geschichte wecken. Die Willkür der Harmonisierungsleistungen zeigte sich ja schon in der dozierenden Geste, mit der Faust von seinem Hügel Wagners Blicke lenkt. Sie zeigt sich aber auch in der Konventionalität der Bilder, die Goethes eigenen Symbolkriterien widerspricht, was insbesondere an dem Vers "Im Tale grünet Hoffnungsglück" deutlich wird: Denn die physiologische Wirkung des Grünen ist nach Goethes Farbsymbolik die der Ruhe und Ausgeglichenheit (vgl. 1810, HA XIII, 501). Mit dem Geschehen vor dem Tor ist das nicht vereinbar. Nur durch eine arbiträre Konvention wird Grün zum "Hoffnungsglück", was dem Kriterium für den allegorischen Gebrauch der Farbe entspricht: "Bei diesem", schreibt Goethe, "ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen Konventionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es bedeuten soll; wie es sich zum Beispiel mit der grünen Farbe verhält, die man der Hoffnung zugeteilt hat" (1810, HA XIII, 520). Die Abhängigkeit der Bedeutung von einem explizit vorgegebenen Sinn zeigt sich schließlich besonders kraß in den Versen:

Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden (V. 921f.).

Im Unterschied zu Faust, der in der vorausgegangenen Szene beim Klang der Osterglocken erinnernd seine eigene Wiedergeburt erfuhr[33], trauen die zitierten Verse dem von ihm geschilderten Volk ein derart authentisches Erleben des christlichen Mysteriums offenbar nicht zu. Das Kausalpronomen kehrt die symbolische Ordnung um: Nicht die Kirchenfeier gibt den Anlaß zum Erlebnis der Auferstehung, sondern der freie Tag bei schönem Frühlingswetter. Die Verbindung zwischen dem religiösen Begriff und seiner säkularen Bedeutung ist hier völlig arbiträr. Man absolviert den Gottesdienst, weil er nun einmal zur ostersonntäglichen Konvention gehört. Da aber der Auferstehungsbegriff benötigt wird, um das bürgerliche Freizeitverhalten ideell zu überhöhen, wird er aus der erkennbar zur Routine verkommenen Tradition entlehnt, die seinen Sinn nicht mehr verbürgen kann. Der allegorische Bruch zwischen beiden Sphären schreibt den Feiertagsaktivitäten das Stigma des Mangels an autonomer Zeitverfügung ein. Die Abhängigkeit vom Kirchenkalender, der als äußerliches Regulativ den Rhythmus von Arbeit und Erholung bestimmt, weckt Zweifel am Bild der analog zur Natur "befreit[en]" (V. 903) Menschen. Nichts weist über die Tatsache hinaus, daß sie zurückkehren werden in ihre "Handwerks- und Gewerbesbanden", was hier genauso selbstverständlich erscheint wie der Wechsel der Jahreszeiten. Dies ist die latente Kehrseite der in Fausts Monolog vollzogenen Gleichsetzung von erster und zweiter Natur. So dekonstruieren die zum Allegorischen tendierenden "Schönheitsfehler" in der Symbolik des Osterspaziergangs das Modell einer prästabilierten Harmonie zwischen biologischen und geschichtlichen Prozessen, denn sie legen die Hilfskonstruktionen frei, mit denen das um 1800 bereits anachronistisch gewordene Bild der Versöhnung von Natur und Gesellschaft künstlich zusammengehalten werden muß.

Der im Verhältnis zu Wald und Höhle entstehungsgeschichtlich spätere Monolog ist deshalb nicht nur vom dramatischen Ablauf her, sondern auch in bezug auf die Realisierung der Absicht, ein Modell substantieller Zeitlichkeit abzugeben, das weiter zurückliegende Naturbild. Die großen begrifflichen Abstraktionen, die den eher intuitiven Organismusgedanken des ersten Weimarer Jahrzehnts methodisch präzisieren, lassen im Zuge dieser Präzisierung die Metaphorik der Maschine in die des Organismus subkutan wieder Eingang finden: Bei der ersten Lektüre der oben erwähnten Sätze fällt es kaum auf, daß Goethe die Schellingschen Begriffe von "Polarität und Steigerung" mit einer mechanistischen Wendung die "zwei großen Triebräder aller Natur" nennt. Mit zunehmender Verwissenschaftlichung der Idee der Zeitlichkeit in der Natur entfernt sie sich von ihrer substantiellen Erfahrungsgrundlage. Die methodisch konsistentere Darstellung temporaler Naturprozesse wird erkauft durch einen Verzicht auf Phänomennähe, einen Verzicht, der notwendig in die Logik des Fortschrittsdenkens eingebaut ist.

Das Extrem dieser Entwicklung zeigt sich in dem letzten der hier zu untersuchenden Naturbilder.

 

 

Das konstruktivistische Naturbild: Fausts letzter Monolog

 

Wenn es auch modernistisch anmutet, die erst sehr viel später formulierten konstruktivistischen Programmatiken in der Bezeichnung dieses Naturbildes anklingen zu lassen, scheint es mir doch von der Sache her gerechtfertigt. Die letzten Worte Fausts – geschrieben in Goethes letzten Lebensjahren – nehmen den Konstruktivismus der neueren Wissenschaftstheorie ebenso vorweg, wie ihr Autor den der neueren Kunstgeschichte antizipiert, der sich kritisch zu jenem verhält, indem er den artifiziellen Charakter seiner Naturdarstellung als solchen thematisch werden läßt.

Fausts Monolog beschreibt kein Vorhandenes, sondern er entwickelt eine Vision, die Vision eines künstlichen Paradieses, das in einem technischen Projekt gigantischen Ausmaßes dem Meer abgerungen werden soll:

Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das Letzte wär' das Höchsterrungene.
Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
[…]
Im Innern hier ein paradiesisch Land:
Da rase Flut bis auf zum Rand!
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. (V. 11559–72)

 

Die naturgeschichtliche Dynamik ist hier vollständig auf das Subjekt übergegangen. War die Natur zu Beginn unseres Untersuchungszeitraums der Quell und das Vorbild schöpferischer Produktivität, erscheint sie hier nur noch als "fauler Pfuhl", dem erst die zivilisatorische Großtat des Wasserbauingenieurs neues Leben einhaucht. Ihre elementare Kraft beweist sie zwar noch in Gestalt der "Flut", die in das deichgeschützte Neuland "gewaltsam einzuschießen" droht, doch sie muß draußen bleiben; für das "paradiesisch[e]" Konstrukt "im Innern" bedeutet sie nichts als "Gefahr". Energiequell ist nun einzig der tätige Mensch, der mit einem durch äußere Risiken ihm abgenötigten "Gemeindrang eilt", jede eventuell im anti-ozeanischen Schutzwall sich auftuende "Lücke zu verschließen". Stand in der Erdgeistbeschwörung die Geschichte unter dem Zeichen der Natur, so ist es nun umgekehrt: Natur steht unter dem Zeichen der Geschichte.

Indem der Schlußmonolog Natur als geschichtliche Konstruktion darstellt, reagiert er ästhetisch auf den wissenschaftlichen und moralischen Diskurs der Zeit: Das Ende der Naturgeschichte ist im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts besiegelt.[34] Um 1825 hat sich mit den ersten Ansätzen einer Evolutionslehre die Temporalisierung in der Naturwissenschaft allgemein durchgesetzt. Unter anderem kam mit der Entwicklungstheorie der Bedarf nach längerfristigen Zeiteinheiten auf, wobei auch der Vorschlag "Äon" gemacht wurde.[35]Daß Faust ebenfalls von "Äonen" spricht, als der vermeintlichen Dauer der "Spur" von seinen "Erdentagen" (V. 11583f.), ist ein Reflex auf diese Öffnung des Zeithorizontes ins Maßlose.

Das Interesse für die Geschichte der Natur, das Goethe in seinem letzten Lebensabschnitt entwickelt, verbindet sich bei ihm, wie Dorothea Kuhns Beitrag zum vorliegenden Band darlegt, mit dem Interesse für die Geschichte der Naturwissenschaften, in die er sich selbst einbezieht. Wenige Monate vor seinem Tod, am 1. Dezember 1831, schreibt er an Wilhelm von Humboldt: "So gesteh ich gern, daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird: […] ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich."

Die Selbsthistorisierung freilich, die sein Faust im Schlußmonolog vollzieht, ist anderer Art. Er verzeitlicht sein Tun nicht im Sinne der Relativierung, sondern der Befestigung. Die Souveränität des modernen naturwissenschaftlich-technischen Subjekts, das die Rhythmen der Natur durch seinen Erfindungsreichtum überwindet, duldet kein Eingedenken seiner Vergängnis. Die Deiche sollen für "Äonen", also für unvorstellbar lange Zeit, der periodisch wiederkehrenden Flut Widerstand bieten. Was der Erdgeistbeschwörer im alchemistischen Experiment vergeblich intendierte: sich zum Herrn der Zeit zu machen, scheint hier realisiert.

Doch dieser Schein trügt. Schon die Sprache des Monologs verrät, just in der Proklamation seiner Unabhängigkeit vom natürlichen Zeitlauf, die Abhängigkeit von diesem. Die energisch betonte Superiorität über die äußeren Gefahren ist Ausdruck höchster Alarmbereitschaft. Mit ihrer permanenten Drohung, das Ingenieurswerk einzureißen, diktiert die Natur weiterhin den Lebensrhythmus im künstlichen Neuland. Die "Freiheit wie das Leben" des Volkes sind so instabil, daß es "täglich sie erobern muß" (V. 11575f.) – immer wieder, von der "Kindheit" bis zum "Greis", mit jedem "tüchtig Jahr" (V. 11578). Das erinnert weniger an zivilisatorische Prinzipien als an die Gesetze der freien Wildbahn. Hinter dem Anschein sozialer Utopik lauern archaische Ängste vor der Übermacht einer unbewältigten Natur.

Faust wird auch hier nicht zum Herrn der Zeit, sondern "Die Zeit wird Herr" (V. 11592), wie Mephi­sto im Anschluß an Fausts letzte Rede feststellt. Und sie wird es nicht im Sinne des von ihr proklamierten linearen Fortschritts, sondern aufgrund natürlicher Zyklen. Faust glaubt nur, daß das "Geklirr der Spaten" (V. 11539) von den Arbeitern herrührt, die sein Projekt vorantreiben, doch in seiner Blindheit erkennt er nicht, daß es die Lemuren sind, die ihm das Grab schaufeln. Sein Tun "treibt sich […] im Kreis als wenn es wäre", kommentiert Mephisto, "Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere" (V. 11603f.) – eine Vorliebe, die sich just auf dem Höhepunkt der Bemühungen Fausts um das Gegenteil zu erfüllen scheint.

Was hat Goethe diesem ernüchternden Blick auf die endgültige Durchsetzung eines Temporalisierungskonzepts, das sich im blinden Aktionismus erschöpft, entgegenzusetzen? Der Monolog zeigt keine substantielle Alternative bzw. nur die Scheinalternative des in Wahrheit leeren Konstrukts vom "paradiesisch Land". Die meisten Interpreten suchen denn auch das hier vermißte "Gegenbild"[36] in der folgenden Szene Bergschluchten, die aber solche Erwartungen kaum zu erfüllen vermag: Ihre Sphäre ist das "Unbeschreibliche" (V. 12108) postmortalen Seins.

Wir haben uns den sterbenden Faust anzusehen, nicht erst den verstorbenen, wenn wir herausfinden wollen, ob Goethes Drama der Verzeitlichung Hinweise darauf gibt, wie seiner agonalen Tendenz zu entkommen wäre. Solche Hinweise gibt es. Sie bestehen paradoxerweise in der radikalen Immanenz des konstruktivistischen Naturbildes. Nichts in Fausts Sprache weist von sich aus über deren Bedeutungshorizont hinaus. Gerade dadurch aber wird ihre Zwanghaftigkeit offenbar. Die Integration von Bild und Bedeutung, die bereits in der synekdochischen Symbolik des harmonisierenden Naturbilds brüchig zu werden begann, unterliegt hier vollständig Fausts Vorgaben. Die konstruierte Natur ist der Spiegel ihres Konstrukteurs. Als Ausdruck reiner Willkür ist das künstlerische Verfahren, mit dem dies zur Darstellung gebracht wird, wiederum allegorisch zu nennen. Dabei handelt es sich aber nicht um jene explizite Allegorik, wie sie in der Erdgeistbeschwörung den Abgrund zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ostentativ offenhält, sondern um eine implizite Allegorik, die diesen Abgrund allein dadurch markiert, daß sie das Bezeichnete als nicht vorhanden einführt. Fausts Sprache bleibt gänzlich in der Signifikantenebene befangen. Sie ist in sich schlüssig, doch ohne subtantielles Signifikat; ein festes Gefüge von Kausalsätzen, die keine objektive Beglaubigung finden. Ihre formale Logizität, die in antithetischen Setzungen ("Nicht sicher zwar, doch tätig-frei"; "Im Innern hier […] Da rase draußen" – V.11570f.) und deduktiven Konklusionen ("der Weisheit letzter Schluß" – V. 11575, "Und so […] " – V. 11578) den Monolog durchzieht, ist vollkommen apodiktisch; sie beansprucht restlose Gültigkeit ("Das Letzte wär"; "nur der"; "Es kann […] Nicht", "den höchsten" – V. 1152–86). Gerade diese Apodiktik weckt Zweifel an der Dignität der von ihr getragenen Sozialutopie. Ihre geschlossene Struktur macht sie blind für die Möglichkeit des Irrtums und damit auch blind für ihre absolute Selbstbezüglichkeit.

Daß Goethe in seiner Spätphase zum Allegoriker geworden sei, ist eine umstrittene These, die hier aber nicht weiter erörtert zu werden braucht. Denn so unbestreitbar es ist, daß er auch im Alter noch am Symbolbegriff festhält, so unbestreitbar ist es, daß er dessen Definition und poetische Anwendung in eben dem Sinne ändert, der hier als allegorisch verstanden wird: als Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Schon die Symbolik der Hochklassik zeigte, daß Goethe sehr bewußt zu allegorischen Hilfskonstruktionen griff, um ihren nicht mehr selbstevident organischen Charakter mechanistisch abzustützen. Im Brief vom 6. März 1810 an Zelter legt er sich, nun noch deutlicher werdend, Rechenschaft darüber ab, daß es "eine Art Symbolik" gibt, bei der "das Bezeichnete mit dem Bezeichnenden in fast gar keinem Verhältnisse zu stehen scheint". Diese Verhältnislosigkeit ist es, die ich hier als immanente Allegorik bezeichne. Sie hat ihren prägnanten Ausdruck in Fausts Blindheit.

Diese wird hervorgerufen durch die allegorische Figur der Sorge. In der Forschung ist viel diskutiert worden, ob das nun heißt, daß sie ihn sorglos blind macht, oder ob er blind wird, weil er sich zu sorgen beginnt. Eine Interpretation, die die Form der immanenten Allegorik beachtet, gibt beiden Deutungen Recht – und damit keiner für sich: Faust sorgt sich blindlings um die "Spur seiner Erdentage", deshalb ist er sorglos blind für die Gewalt, auf der sie beruht. Der antike Topos des geblendeten Sehers schlägt hier in sein Gegenteil um: die visionäre Verblendung.

Sie ist ein Effekt der vollendeten Temporalisierung. Wer sehen will, benötigt das Gefühl, Zeit zu haben. Verzeitlichung aber führt zur Zeitnot. Mit ihren plakativen Verknappungen verrät Fausts Sprache, daß sie keine Muße für Einwände hat. Es ist die Sprache der Planungsstäbe, die an Resultaten orientiert ist, deren Zustandekommen nicht in ihre Kompetenz fällt, und die deshalb Zeitwörter vermeidet:

Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt auf des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft. (V. 11565–68)

 

Da die "Natur" hier – als "neuste Erde" und "aufgewälzter Hügel" – zum reinen Artefakt geworden ist, steht sie, wie gesagt, unter dem Zeichen der Geschichte. Darin aber liegt eine innere Dialektik. Die vollständig der geschichtlichen Verfügung unterworfene Natur verliert ihren Eigensinn; an ihre Stelle tritt die zur zweiten Natur geronnene Geschichte. Die von ihr geschaffenen Artefakte erscheinen als undurchdringlicher und insofern mythischer Zwangszusammenhang. So wirkt das konstruktivistische Naturbild auf seinen Verkünder zurück; er macht sich selbst zum irrealen Konstrukt. Faust hat kein biologisches Alter, sondern ein abstraktes; er ist, wie Goethe am 6. Juni 1831 im Gespräch mit Eckermann erläutert, "hundert Jahre alt", Repräsentant eines Jahrhunderts, das am Ende seines Temporalisierungsprojekts greisenhaft verhärtet – und auf seine Ausgangsproblematik zurückgeworfen wird.

Mit der ungelösten Frage, wie eine Dynamisierung der Naturgeschichte ohne Substanzverlust möglich sei, schließt sich die Reihe der Naturbilder, in denen Goethe das Drama der Verzeitlichung entfaltete, zum Kreis zusammen. Faust hat auf den erfüllten Augenblick gewettet, und er genießt ihn schließlich in einem "Vorgefühl" (V. 11585), das keinen realen Hintergrund hat. Denn ihm mangelt das Moment der Selbstbesinnung, der Er-Innerung, ohne die das Erleben der Gegenwart unausgefüllt bleiben muß. Der Versuch der Selbstmonumentalisierung in einem Werk, das der Erde dauerhaft die eigene Spur aufprägt, bleibt leer, weil er ohne die Emotion unternommen wurde, die Goethe in komplementärer Entgegensetzung zur Faustschen Rede vom "Vorgefühl" das "Nachgefühl" genannt hat.[37]Der tragische Held seines Verzeitlichungsdramas ist, wie dieser selbst in einem flüchtigen, ergebnislosen Aufblitzen solcher erinnernden Selbstbesinnung sagt, "nur durch die Welt gerannt" (V. 11433).



[1]In komprimierter Form habe ich dies im Schlußabschnitt meines Handbuchartikels (Matussek 1996c) getan, unter Voraussetzung von Erkenntnissen, die ich in meinem Faust-Buch (Matussek 1992) ausführlich dargelegt habe und die auch hier aus Platzgründen weitgehend implizit bleiben müssen.

[2]Taylor 1975, 28.

[3]Vgl. Lovejoy 1933.

[4]Vgl. Lepenies 1976, S. 62.

[5]Herder 1774, 90.

[6]Herder 1765, 78.

[7]Einen wichtigen Impuls hierfür gab die von Walter Benjamin (1922 und 1925) inspirierte Kritik Heinz Schlaffers (1981) an Wilhelm Emrich (1943). Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. auch Zabka (1993) und den Beitrag von Mandelkow im vorliegenden Band.

[8]Dies geschieht in Matussek 1992.

[9]Danckert 1951, 473.

[10]Heckscher 1962, 52 f.

[11]Vgl. den Beitrag von Uwe Pörksen im vorliegenden Band. Bei allen Verwendungen der Webstuhl-Metaphorik jedoch muß zwischen theoretischer Darstellungsintention und ästhetischem Bild unterschieden werden – zum Beispiel, wenn Goethe die Verwendung des Gleichnisses in seinem Gedicht Antepirrhema ausdrücklich damit erläutert, daß er sich "in die Sphäre der Dichtkunst flüchten" müsse, um den "Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem" zu schlichten, der aber gleichwohl "immerfort ungelöst" bleibe (1818, HA XIII, 32; Hv. P.M.). Der Webstuhl kann auch hier nicht eo ipso als positives Bild des Organismusgedankens herhalten. In den Wanderjahren schließlich ist er der Inbegriff der industriellen Idyllenvernichtung.

[12]Herder 1766/68, S. 443.

[13]Ebd., S. 444.

[14]Ebd., 443.

[15]Vgl. Kuhn 1982, 270–274.

[16]Herder 1774, 270.

[17]Ebd., 87 f.

[18]Helmholtz 1892, S. 244.

[19]Scheler 1912, S. 14.

[20]Pörksen 1986, 82.

[21]Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Wolfgang Krohn im vorliegenden Band.

[22]Halbfass 1992, Sp. 160.

[23]Lepenies 1976, S. 62.

[24]Ebd., 60.

[25]Ebd., S. 94.

[26]Ebd.

[27]In meinem Faust-Buch (1992) spreche ich von einem "harmonikalen" Naturbild, und zwar im Anschluß an Jörg Zimmermann (1982), der das Attribut zur Kennzeichnung des antiken, an Symmetrie und Proportion orientierten Naturbildes verwendet, das zweifellos für die Ästhetik der Hochklassik Vorbildcharakter hat. Da aber der Begriff des "Harmonikalen" für Musikwissenschaftler einen allzu spezifischen Klang haben könnte, möchte ich ihn – obschon sich Anspielungen auf die pythagoräisch-platonische Tradition der Sphärenharmonie auch in den Faust-Szenen der Hochklassik, etwa dem Prolog im Himmel, finden – hiermit ändern.

[28]Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. In: ders.: Sämmtliche Werke, Hg. K.F.A. v. Schelling; Stuttgart und Augsburg 1856ff. I. Abt., Bd. 7, S. 361.

[29]Vgl. hierzu ausführlich meinen Aufsatz Naiver und kritischer Physiozentrismus bei Goethe (1996a).

[30]Halbfass 1992, Sp. 159.

[31]Schelling 1797, 294.

[32]Lepenies 1976, 27; vgl. Jauß 1965, S. 192.

[33]Vgl. Matussek 1996a, 152.

[34]Vgl. Lepenies 1976, S. 29ff.

[35]Vgl. ebd. u. S. 71.

[36]Schlaffer 1981, 164.

[37]Vgl. zur Erinnerung als "Nachgefühl" Goethes gleichnamiges Gedicht sowie HA VIII, 258 und den Brief an Zelter vom 19.3.1827.