Peter Matussek

Transformationen der Naturgeschichte:
Thema und Kompositionsprinzip

 


Erschienen in: Matussek, Peter (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur; München 1998, S. 7–14.

 

     
 

Verzeitlichung, das Leitmotiv dieses Buches, ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis unserer kulturhistorischen Situation. Ohne die Ablösung der Zeit vom Raum, ohne die Emanzipation temporaler Prozesse von topischen Bindungen wäre die Fortschrittsdynamik der Moderne nicht durchsetzbar gewesen. Deren Errungenschaften, das Aufbrechen starrer Ordnungsstrukturen, wie auch ihre Kehrseite, das Herausfallen aus lebensweltlichen Orientierungsrahmen, sind Resultate desselben Vorgangs. Dabei kann von einem Ausgleich beider Tendenzen längst nicht mehr die Rede sein. Unsere restlos temporalisierte Kultur hat Zentrifugalkräfte entwickelt, die sie aus der Konzentration auf ihren Daseinszweck zunehmend heraustreibt. Unterwegs zum globalen Dorf, in dem die Raumdimension dank elektronischer Kommunikationsverarbeitung zu einer nur mehr virtuellen Größe diffundiert, verlieren wir buchstäblich die Bodenhaftung. Orte, Körper und Qualitäten verflüchtigen sich in Datenströme, deren Beachtlichkeit vor allem an ihrer Übertragungsgeschwindigkeit bemessen wird. Damit aber schlägt das Entfesselungspotential der Verzeitlichung in neue Formen der Versklavung um. Die anschwellende Informationsflut bindet alle Kapazitäten unsere Aufmerksamkeit und verhindert die Besinnung auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen. In dieser Situation scheint es nur zwei Optionen zu geben. Sie sind gleichermaßen prekär: Anpassung unserer Sinne an den Termindruck einer beschleunigten Wahrnehmung oder Ausweichen in eine überzeitliche Naturidyllik. Die eine Option ist lebensfeindlich, die andere illusorisch. Gibt es vielleicht doch eine dritte?

Das Nachdenken darüber beginnt mit historischer Erinnerung. Schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte der kulturelle Prozeß der Verzeitlichung sein aporetisches Stadium erreicht. Goethes Spätwerk bezeugt dies eindringlich. In den Wanderjahren beschreibt er jene schlechte Alternative von Anpassung oder Ausstieg als Reaktion auf die "veloziferisch[e]" Beschleunigung aller Lebensvollzüge durch das "überhandnehmende Maschinenwesen". Wer in den Teufelskreis der Beschleunigungstechniken geraten ist, dem bleibt aus der Perspektive der Betroffenen "nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen?" (1829, HA VIII, 289 u. 429 f.) Die Antwort bleibt, wie stets bei Goethe, offen. Auch Wilhelm Meister erfährt, daß nicht die Wahrheit in der Mitte liegt, sondern das Problem (vgl. 262). Indem der Roman das Verzeitlichungsdilemma prägnant formuliert, fordert er die notwendige Reflexion vom Leser. Aber wird dieser noch in unserer, von einer akuten Verschärfung des Problems betroffenen Gegenwart erreicht?

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen davon aus, daß Goethes Spiegelungen seiner Epoche das Verständnis unserer eigenen vertiefen können. Unsere Gegenwartsproblematik kann in wesentlichen Zügen als Spätfolge jener Umbrüche diagnostiziert werden, die Kulturhistoriker wie Lovejoy (1933), Foucault (1966) und Lepenies (1976) als Eindringen der Zeit, Entdeckung der Historizität oder Das Ende der Naturgeschichte beschrieben haben. Diese in der Goethezeit vollzogenen Prozesse brachten einen radikalen Wandel des menschlichen Selbst- und Naturverständnisses mit sich. Nachdem unter "Naturgeschichte" seit der Antike im Prinzip unverändert ein auf- und erzählendes Beschreiben der Phänomene und ihrer räumlich-einteilenden Anordnung verstanden wurde, hatte sich der Akzent am Ende dramatisch verschoben: Naturgeschichte bedeutete nun nicht mehr Erzählung von der Natur, sondern Evolution der Natur. Diese naturwissenschaftliche Verzeitlichungstendenz, die nicht zuletzt durch den zunehmenden Bewältigungsdruck der angesammelten Daten ausgelöst wurde, fand ihre Entsprechungen im ökonomischen und sozialen Bereich: Die traditionelle Manufaktur wurde durch die maschinelle Produktion und die festgefügte Hierarchie des absolutistischen Staates durch die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst. Viel ist darüber geschrieben worden. Doch der herausragende Part Goethes im Kontext dieser Beschleunigungsvorgänge hat bislang nicht die Beachtung gefunden, die er – besonders in der gegenwärtigen Überlastungskrise – verdient hätte.

Goethe ist einer der wichtigsten Zeugen und zugleich konstruktiver Kritiker der Verzeitlichung der Natur, die mit seiner Lebensgeschichte gleichsam verwoben ist. In Goethes Geburtsjahr erscheint der erste Teil von Buffons Histoire Naturelle. "Die Bände folgten jahrweise", schreibt er, "und so begleitete das Interesse einer gebildeten Gesellschaft mein Wachstum" (1830, HA XIII, 229). Begünstigt durch seine besonderen biographischen Umstände bildet er sich selbst zum Naturforscher aus, greift in die Diskussionen der Zeit ein und entwirft Gegenmodelle. Dieses Wirken wäre – ebenso wie das damit zusammenhängende auf diversen Feldern der Politik – heute weitgehend vergessen, wenn er es nicht als Künstler in bemerkenswerter Weise ästhetisch gespiegelt hätte. Was ihn aber zum einzigartigen Reflexionsmedium der Temporalisierung macht, sind nicht allein seine schöpferischen Leistungen auf einzelnen Gebieten, sondern es ist insbesondere deren wechselseitige Durchdringung. In seiner Simultanexistenz als Naturforscher, Politiker und Künstler praktizierte Goethe einen Perspektivenreichtum, den wir heute zumeist verloren haben und unter den Stichworten "Interdisziplinarität" und "Interkulturalität" erst wieder zurückzugewinnen suchen. "Panoramic ability" (MuR 1.175) bescheinigte ihm ein englischer Kritiker, und er selbst charakterisierte sein Werk gegenüber dem Franzosen Soret als das eines "Kollektivwesens", das "von unzähligen verschiedenen Individuen genährt worden" sei (17.2.1832).

Solche Fremd- und Selbsteinschätzungen dürfen freilich nicht dahingehend interpretiert werden, daß Goethe sich als ein über den Diskursgrenzen schwebender Verkünder von Einheitskonzepten verstand. Sein Anliegen, die Transformationen der Naturgeschichte nicht nur zu beobachten, sondern auch transformierend in sie einzugreifen, bedeutete Teilhabe an den Aporien der Moderne. Als Konsequenz einer durchaus eingestandenen Involviertheit lautete seine Devise, die "Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen" (ca. 1800, WA I 14, 287). Die Arbeitsteilung der kulturellen Wertsphären überwand er nicht durch den Rückzug auf vormoderne Einheitskonzepte, sondern durch das Austragen ihrer Gegensätze – auch an sich selbst: So sieht sich der Politiker Goethe aus Staatsräson genötigt, ein Todesurteil für Kindsmord zu unterschreiben, während der Dramatiker Goethe für dasselbe Delikt in aller Eindringlichkeit die gesellschaftlichen Umstände verantwortlich macht. Der Dramatiker Goethe wiederum schildert die Kanalisations- und Eindeichungsprojekte des beginnenden 19. Jahrhunderts als Beispiele einer (selbst)mörderischen Technik, während der Naturwissenschaftler Goethe zu eben diesen Projekten mit Begeisterung eigene Vorschläge beisteuert. Die Hoffnung auf eine "höhere Kultur" (1829, HA VIII, 120), die solche Aporien überwunden hätte, äußert sich bei Goethe weniger in illustrativen Gegenbildern als vielmehr in illuminierenden Kontrasteffekten. Durch Ausgestaltung der Diskrepanzen, die aus dem Mißverhältnis zwischen Funktionalität und Lebensverträglichkeit, äußerer Beschleunigung und innerer Auffassungsfähigkeit resultieren, erinnert er an die uneingelösten Versprechen des modernen Emanzipationsprozesses.

Dies Buch will solchem Erinnern Raum geben. Seine um das Thema der Verzeitlichung zentrierte Konzeption geht von den Aneignungsinteressen der Gegenwart aus, wahrt aber dabei das Bewußtsein historischer Distanz. Denn das Denken und die Wahrnehmung vergangener Epochen reagieren – auch wenn das zugrundeliegende Problem dasselbe geblieben ist – auf andere Kontexte als die unseren; beide lassen sich nicht unmittelbar aufeinander beziehen. Eine dritte Perspektive ist daher nötig, um sie zu vermitteln: die wirkungsgeschichtliche. Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß jede neuere Goethedeutung an ältere – sei es kritisch oder affirmativ – anknüpft; dadurch bringt sie die wechselnden Erfahrungs- und Erwartungshorizonte ins Spiel, die jeweils bestimmte Aspekte der Wirkungspotentialität eines Werkes aktivierten, und öffnet damit den Blick für die Voraussetzungsgebundenheit auch der aktuellen Aneignungsinteressen. Somit sind drei unterschiedliche Rezeptionshaltungen zu unterscheiden: Goethes Werke erscheinen in historischer Perspektive als Verarbeitungen zeitgenössischer Denk- und Erfahrungsweisen, in wirkungsgeschichtlicher Perspektive als durch veränderte Kontexte bedingte Aneignungen und in aktualisierender Perspektive als produktive Irritationen etablierter Vorstellungsweisen, die im Vergleich von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart offenbaren, daß sie nicht so selbstverständlich und alternativlos sind, wie es scheint. Daraus ergibt sich der dreigliedrige Aufbau des Bandes mit den Abteilungen: Historisierung, Wirkungsgeschichte und Aktualisierung.

Die Beiträge zur Historisierung behandeln das Phänomen der Ablösung räumlicher durch temporale Anschauungsformen und Begriffe im Kontext der Goethezeit. Den Auftakt bildet Hugh Barr Nisbets Positionsbestimmung Goethes zwischen den Philosophien Herders und Kants. Der Vergleich der drei Denkansätze, die als die bedeutendsten Versuche der Epoche angesehen werden, den aufbrechenden Konflikt von Human- und Naturgeschichte theoretisch neu zu vermitteln, mündet in die Feststellung, daß Goethes geschichtsskeptische Naturanschauung den Problemen unserer Gegenwart am nächsten kommt und insofern die anschlußfähigste ist. Geschichtsskepsis indessen heißt bei Goethe nicht – auch wenn ein hartnäckiges Klischee ihm dies unterstellt – Geschichtsfeindschaft. Dorothea Kuhn zeigt in ihrem Beitrag, daß Goethe, insbesondere im Gedankenaustausch mit Alexander und Wilhelm von Humboldt, einen durchaus differenzierten Begriff von Geschichte entwickelte, der neben den im engeren Sinne historischen auch deskriptive und biographische Aspekte mit umfaßt, künftige Tendenzen ebenso vorwegnehmend wie konterkarierend. Entsprechendes gilt für Goethes Verhältnis zur Naturphilosophie. Auch hier nimmt er eine Zwischenstellung ein, die einerseits an der Entstehung der idealistischen und romantischen Naturkonzepte partizipiert, sich andererseits deutlich von ihnen abgrenzt. Dietrich von Engelhardt geht auf breiter Ebene den Affinitäten und Differenzen zwischen Goethe und den verschiedenen naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Strömungen der Zeit nach. Daraus ergibt sich ein facettenreiches Bild wechselseitiger Polemiken, deren Schärfe erkennen läßt, daß der Siegeszug der empirischen Wissenschaften noch keineswegs entschieden war. Die Heftigkeit, mit der sich Goethe insbesondere von den romantischen Naturphilosophen distanziert, mag erstaunen, da er bei ihnen doch Unterstützung in seinem Kampf gegen das newtonische Paradigma erwarten konnte; um so deutlicher signalisiert er damit, wie tief trotz aller Berührungspunkte die sachlichen Differenzen in der Auffassung vom Verhältnis zwischen Physik und Metaphysik waren. Die Gegensätze und Widersprüche freilich, die sich aus dem theoretischen Diskurs ergeben, erscheinen auf dem Gebiet der Ästhetik in einem veränderten Licht. So kann Jürgen Barkhoff zeigen, daß die von Goethe explizit abgelehnte Lehre vom animalischen Magnetismus durch ihre dichterische Verarbeitung die unter den gewandelten wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Moderne einzig angemessene Form der Rehabilitierung erfährt: Die vormodernen naturphilosophischen Gehalte werden dem kulturellen Gedächtnis der Moderne zugeführt, ohne daß ihr Rätselcharakter dem Diskurszwang der Temporalisierungskonzepte zum Opfer fällt. Das spezifische Vermögen der Kunst, vorstellbar zu machen, was dem Verstand unbegreiflich bleiben muß, erkennt Uwe Pörksen in Goethes Veranschaulichungen seiner geologischen Ideen. Der für die modernen Verzeitlichungstheorien unlösbare Konflikt von Simultaneität und Sukzession erscheint hier als versöhnt: In seinen zeichnerischen und sprachlichen Bildern macht Goethe Zeit sichtbar. Daß hierbei indessen eine wesentliche Differenz der beiden Medien zu beachten ist, verdeutlicht Frank Fehrenbachs kunsthistorische Untersuchung des zeichnerischen Werks. Was auch in der poetischen Sprache noch Andeutung und Ausblick bleiben muß: die Integration von Teil und Ganzem, die Verschränkung temporaler und räumlicher Ordnungen, die (erotische) Assimilation von Subjekt und Objekt, hat ihren Ort in der bildenden Kunst. Es ist zwar durchaus allgemeingültig gesprochen, wenn Goethe sagt: "Die wahre Vermittlerin ist die Kunst" (MuR 1.82). Im Feld der Dichtung hat sie es aber mit dem Problem des ästhetisch-diskursiven Doppelcharakters der Sprache zu tun: Die Poesie kann ihre ästhetische Funktion nur dadurch erfüllen, daß sie sich von der diskursiven Funktion der Sprache abgrenzt. Die Vermittlerin läßt sich nicht vermitteln, wie Goethe in der genannten Maxime weiter ausführt. Gleichwohl kann sie kraft ästhetischer Mehrdeutigkeit die Einsicht in die Struktur theoretischer Probleme vertiefen und den Zusammenhang unterschiedlicher Theorien erfahrbar machen. Ein prägnantes Beispiel hierfür erschließt der nächste Beitrag. Unter Aufweis des Goetheschen Spätwerks als Reflexionsmedium für den Widerstreit der unterschiedlichen Vorstellungsarten über natürliche und geschichtliche Bewegungsformen, hebt Thomas Zabka die wechselseitigen Verkürzungen zweier Deutungsklischees in einer neuen Synthese auf: Goethes Naturanschauung – so Zabkas These – ist weder als Flucht vor den Wirrnissen der Realgeschichte, noch als Versuch zu werten, dieser eine überzeitliche Gesetzmäßigkeit zu unterlegen, sondern als Spiegelung historischer Erfahrungen, die nicht nur auf dem Gebiet der Literatur zu erstaunlich modernen Einsichten führt. Mit den historischen Kontexten wandeln sich also Goethes Darstellungen und Problematisierungen von Verzeitlichungsprozessen. In welchen ästhetischen Formen sich diese Problemdarstellungen äußern, untersuchen die beiden folgenden Beiträge. Hartmut Böhme charakterisiert Idol  und Fetisch, Sammlung und Erinnerung als symbolische Praktiken von je eigenem Temporalitätstyp. Durch deren literarische Verarbeitung – dies wird insbesondere an Faust II und Wilhelm Meister verdeutlicht – erweist sich die Poesie als zeitentrücktes Erweckungspotential, als "anachrone Animationsmacht". Mein eigener Beitrag schließlich ergänzt diese Untersuchungen zur Formtypologie der Temporalisierung durch eine werkgenetische Studie. Sie liest Goethes Faust als "Drama der Verzeitlichung", indem sie anhand ausgewählter Monologe aus den vier Entstehungsphasen zeigt, wie diese mit jeweils unterschiedlichen Varianten symbolischer und allegorischer Darstellungsweisen auf Wandlungen der Diskursgeschichte reagieren.

Der zweite Teil dieses Bandes befaßt sich mit der Wirkungsgeschichte der Goetheschen Verzeitlichungsansätze. Ein kulturhistorischer Überblick von Karl Robert Mandelkow macht deutlich, daß in diesem Aneignungsprozeß wechselnde Akzentuierungen der in Goethes Werk problematisierten Polarität von Natur und Geschichte eine grundlegende Rolle spielen. Betonung des einen oder anderen Pols erweist sich dabei als bemerkenswert verläßlicher Indikator für ideologische Strömungen und kulturelle Stimmungen. Welche Vereinnahmungen und Ausgrenzungen, aber auch produktiven Umformungen Goethes Metamorphosenkonzept der Temporalisierung in der Geschichte der Naturwissenschaften erfahren hat, verfolgt Hans Werner Ingensiep am Beispiel von fünf bedeutenden Vertretern der Biologie. Er macht deutlich, daß Goethes Metamorphosenlehre nach einer Blüte in der idealistischen Morphologie (Braun) bis ins 20. Jahrhundert hinein innovativ rezipiert wird und schließlich noch in einer systemischen Evolutionsbiologie (Riedl) gegenwärtig ist. Impulse gingen und gehen von Goethes Werk aber nicht nur für die Natur- und Geisteswissenschaften aus. Die Korrekturbedürftigkeit des schon mit der Goethekritik des Jungen Deutschland etablierten Klischees vom Olympier, der die Entwicklung der modernen Kunst eher aufgehalten als befördert habe, mag für Literaturwissenschaftler eine Binsenweisheit sein. In Bezug auf andere Kunstgattungen wie Malerei und Musik hingegen gibt es durchaus noch Neues zu entdecken, wie die anderen drei Beiträge dieses Teils zeigen: Richard Hoppe-Sailer weist in Bildern von Carl Gustav Carus, Paul Klee und Joseph Beuys dynamische Strukturen auf, die als – freilich eigenständige – ästhetische Verarbeitungen Goethescher Anregungen zu deuten sind. Hermann Danuser erschließt in Gustav Mahlers symphonischer Inszenierung des Faust-Schlusses Möglichkeiten einer Naturästhetik, die den in der Moderne autonom gesetzten Zeitfaktor derart vermittelt an kunstreligiöse Motive zurückbindet, daß der Regressionsvorwurf, den die neuere Kunsttheorie ihnen gegenüber erhebt, als unberechtigt erscheint. Angelika Abel schließlich entdeckt Analogien zwischen Goethes Ableitung der prismatischen Farben und der Intervallbildung in Anton Weberns Zwölftontechnik, die dem Versuch entspringen, im Rekurs auf Goethetemporale Strukturen zu entwickeln, die nach der Auflösung der Dur-Moll-Tonalität musikalischen Zusammenhang begründen konnten.

Daß die Grenzen zwischen Interpretation und Invention fließend sind, war bereits Goethes Befund. Ausdrücklich ermunterte er seine Ausleger zur Supplierung dessen, was im Werk nur rätselhaft angedeutet werde. Die gegenwartsbezogene Goethedeutung indessen hat dies allzugern als Freibrief für Vereinnahmungsstrategien genommen. Nicht so die Beiträge im dritten Teil des Bandes, der nach Möglichkeiten der aktualisierung Goethes fragt: Gerade darin, daß sie das Überlieferte zum Anlaß nehmen, es im Lichte gegenwärtiger Problemstellungen neu zu deuten, erweisen sie ihre Werktreue. Eine bereits etablierte und sich kontinuierlich weiterentwickelnde Form so verstandener aktualisierung ist die 'Goetheanistische Naturwissenschaft'. In ihrem Rahmen konnten, wie Wolfgang Schad zeigt, neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie gewonnen werden. Sie rekurrieren auf Goethes elementaristischen Zeitbegriff, um ein Kernproblem der Disziplin, den Gegensatz von Subjektivismus und Objektivismus, zu überwinden – ein Lösungsansatz, dem sich auch die Grundlagenforschung zum Problem der Zeit in den letzten zwanzig Jahren wieder annähert. Zudem gelingt der Nachweis, daß Goethe nicht bloß Typologe, sondern ebenfalls Evolutionist gewesen ist, ohne selbst dabei zwischen beiden Paradigmen leichthin zu harmonisieren. Mit diesem Lösungsansatz notwendig verbunden ist die Einbeziehung des subjektiven Erlebens in die wissenschaftliche Untersuchung. Frank Schweitzer verfolgt den aktuellen Trend zu dialogischen Verfahren der Naturerkenntnis, der mit der (Wieder-)Entdeckung des Beobachters durch die Physik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts anhob, im Feld der Systemtheorie. Vor dem Hintergrund eines kritischen Vergleichs mit der Goetheschen Konzeption einer ganzheitlichen Naturanschauung kommt er zu dem Ergebnis, daß die systemtheoretische Infragestellung des Subjekts weniger radikal ist: Sie hat das Staunen verlernt, das heißt, sie arbeitet mit einem verkürzten Erfahrungsbegriff. Das Goethesche Experiment rechnet nicht nur mit dem human factor, sondern aktiviert ihn in allen Facetten als Erkenntnisvermögen. Gleichwohl gibt es zwischen Goethes Naturforschung und den modernen Naturwissenschaften Überschneidungen, wie Wolfgang Krohn anhand einer Analyse von Goethes Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt mit Querverweisen auf aktuelle Positionen der Wissenschaftstheorie deutlich macht. Der phänomenologische Gehalt des Goetheschen Erfahrungsbegriffs indessen kann von epistemologischen Modellen nicht hinreichend erfaßt werden. Worin er letztlich besteht, beschreibt Hermann Schmitz: in den Affekten des Schauderns und der leiblichen Ergriffenheit angesichts eines Numinosen, die für das Andere naturwissenschaftlicher Rationalität zu sensibilisieren vermögen. Was für diese anstößig bleibt und deshalb meist ausgeblendet wird, sucht Gernot Böhme, Schmitzsche Kategorien ergänzend, in das Projekt einer Phänomenologie der Natur einzubinden. Es handelt sich dabei um den Versuch, aus Goethes Verfahren der Naturforschung theoretische Konsequenzen für ein alternatives Wissenschaftskonzept abzuleiten. Praktische Konsequenzen zieht schließlich Klaus Michael Meyer-Abich aus Goethes Idee des lebendigen Mitvollzugs der Naturproduktivität, indem er Chancen einer daran orientierten Erneuerung der industriellen Wirtschaft sieht.

Daß die Vielfalt der hier vertretenen Perspektiven nicht in ein Nebeneinander heterogener Ansätze zerfällt, verdankt sich günstigen Bedingungen der interdisziplinären Kooperation. Das Leitmotiv der Verzeitlichung konnte in einem mehrjährigen Diskussionsprozeß in seinen unterschiedlichen Variationen so weit durchgespielt werden, daß hier nunmehr ein Werk vorgelegt werden kann, das bei aller Divergenz der Positionen ein gemeinsames Anliegen erkennen läßt.