Peter Matussek

Der lettische Goethe.

Bericht über eine Faust-Tagung und ihre Hintergründe

 


Erschienen in: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 323–325.

 

     
 

Eine lettische Sage, Die Rose von Turaida, erzählt von dem Mädchen Maija, das sich einem Gärtner versprochen hat und tapfer allen anderen Werbern widersteht. Als sie aber, von einem zudringlichen Ritter mit Hinterlist in eine Waldgrotte gelockt, diesem wehrlos ausgesetzt ist, wahrt sie ihre Integrität durch eine heroische Opferbereitschaft: Im Moment der Überwältigung gibt sie ein rotes Tuch, das sie um den Hals trägt, als Zaubermittel aus, das die Fähigkeit habe, unverwundbar zu machen, und sie fordert den Ritter auf, sich davon zu überzeugen, indem er nur einmal versuchen solle, ihr den Kopf abzuschlagen. Von seiner Machtlüsternheit verführt, tut der Ritter, wie ihm geheißen – und erhält eine traurige Lektion über die Macht der Treue.

Die Jungfrau von Treyden – so der baltendeutsche Titel – ist eine sehr lettische Sage. Die Geschichte des Volkes, das seit siebenhundert Jahren unter deutscher, polnischer, schwedischer und russischer Herrschaft lebte, durchzieht bis in die Gegenwart das opferbereite Bemühen um Wahrung der eigenen Identität. Diese hat auch der jüngste kulturelle Überwältigungsversuch, die von Stalin (mit direkter und indirekter Unterstützung Hitlers) initiierte Sowjetisierung des Landes durch Zwangsansiedlung von Russen, nicht zu brechen vermocht – trotz einschneidender Wirkungen: in Daugavpils z.B., der zweitgrößten Stadt, leben heute nur noch 13% Letten. Doch auch nach den bitteren Jahrzehnten, in denen das Lettische von den Machthabern als "Hundesprache" diskreditiert und in allen öffentlichen Zusammenhängen russisch dominiert worden war, setzen heute selbst radikale Gruppen auf positive Wechselwirkungen, wie man sie auch in der Vergangenheit gegenüber den oktroyierten Sprachen geübt hatte. So fordern sie z.B. nicht, daß die mehrheitlich rein russischen Schulen in lettische umgewandelt werden, sondern in multikulturelle, in denen auch lettisch gesprochen wird. Lettlands Treue zur eigenen Kultur ist gleichbedeutend mit der Treue zum Prinzip der sprachlichen Toleranz.

Man muß sich diesen kultur- und sprachgeschichtlichen Hintergrund des Landes vor Augen führen, um die Bedeutung zu ermessen, die einer Konferenz über den 100. Jahrestag der Faust-Übersetzung durch den lettischen Nationaldichter Janis Rainis zukam. Wie Goethe war Rainis Dichter, Wissenschaftler und Politiker in Personalunion; er hat mindestens ebenso nachhaltig wie dieser auf die Entwicklung der eigenen Sprache und Literatur gewirkt und dabei dieselbe Maxime zugrundegelegt: daß eine Kultur sich nicht in Abgrenzung von anderen entwickeln kann, sondern nur im interkulturellen Wechselbezug. So ist die Affinität zu Goethe ebenso naheliegend wie die Tatsache, daß gerade die Übersetzung der scheinbar so tief im Deutschen verwurzelten Dichtung die lettische Sprache bedeutend erweitern konnte. Mit der 1897 vollendeten Faust-Übertragung "erwies Rainis sich", wie die Veranstalter der Tagung, die Mitarbeiter des Rainis-Museums für Literatur- und Kunstgeschichte, schreiben, "als mutiger Reformer der Sprache und der Poetik, es begann eine neue Epoche in der Entwicklung der Literatur und des philosophischen Denkens in Lettland". Das hatten schon Rainis' Zeitgenossen erkannt – nicht nur die wohlmeinenden: Im Jahr der Fertigstellung der Faust-Übersetzung wurde Rainis von den zaristischen Behörden wegen Zugehörigkeit zu einer "staatsgefährdenden Bewegung" verhaftet, längere Zeit in Gefangenschaft gehalten und zur Verbannung nach Mittelrußland verurteilt. Nach der Revolution 1905 folgten Jahre des Exils in der Schweiz bis zur triumphalen Rückkehr 1920 in die seit kurzem, aber auch nur für kurze Zeit unabhängige Republik Lettland, wo Rainis unter anderem als Parlamentsabgeodneter, Erziehungsminister und Direktor des Nationaltheaters fungierte. Das Andenken an Janis Rainis ist in der lettischen Seele so gegenwärtig wie das an die Rose von Turaida.

Daß auf der Tagung eine Unzahl von Rosen verteilt wurden, mag damit mehr oder weniger direkt zusammenhängen. Auf jeden Fall ist es – wie Hans-Dietrich Dahnke, Bernd Mahl und ich, die schon am Flughafen als "Abgesandte" der Goethe-Gesellschaft mit roten Rosen empfangen wurden, nach und nach feststellen konnten – Ausdruck einer noch nicht der westlichen Tagungsbetriebsblindheit verfallenen Wissenschaftskultur, die sich ein Gespür für den Zusammenhang von Sachgehalt und Atmosphäre bewahrt hat. Die feierliche Eröffnung durch die – den Präsidenten vertretende – Kultusministerin der Republik, den deutschen Botschafter und die Direktoren des Rainis-Museums und des Goethe-Instituts machte sinnfällig, welche Bedeutung dem Tagungsthema beigemessen wurde. Der Einleitungsvortrag von Hans-Dietrich Dahnke über den Widerhall des Goetheschen Faust in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts sowie zwei Ausstellungseröffnungen – eine von Bernd Mahl konzipierte und kommentierte zur deutschen Bühnengeschichte des Faust und eine zu Rainis' Faust-Übersetzung mit Installationen von lettischen Studenten – stellten darüber hinaus gleich zum Auftakt klar, daß die Tagung ihr interkulturelles Profil aufgrund nationenübergreifender Verständigungsprozesse wie auch durch Zusammenführung verschiedener Expertenkulturen und Ausdrucksformen zu realisieren suchte.

Und das gelang ihr, weil ihre Dynamik aus einem tief empfundenen Engagement für die Sache hervorging. So wurde Rainis keineswegs monumentalisiert, sondern, seinem Wesen entsprechend, in der Komplexität der historischen und kulturellen Kontexte thematisiert und relativiert. Auch seine Übersetzungsleistung, die im Mittelpunkt des zweiten Tages stand, wurde nicht als sakrosankt betrachtet, sondern subtil analysiert und kritisiert. Besonders instruktiv vermochte das Valdis Bisenieks, der von der Materie freilich durchdrungen war: Er hatte soeben eine eigene Faust-Übersetzung abgeschlossen, deren Prinzipien er als "realistische" von den "romantischen" seines Vorgängers abhob – mit Argumenten, die implizit an Goethes Absetzung der "poetischen" gegenüber der "parodistischen" Übersetzung in den Noten und Abhandlungen zum Divan erinnerten.

Der dritte Tag war Einzelaspekten von Goethes Drama gewidmet. Zwar fehlen der lettischen Goetheforschung wichtige Primär- und Sekundärquellen, doch war das keinem der Beiträge anzumerken (sondern allenfalls der verschwörerisch-diskreten Nachfrage bei den deutschen Kollegen, was sich denn nun genau hinter gewissen Gedankenstrichen in der Walpurgisnacht verbirgt). Von dem anhaltend hohen wissenschaftlichen Niveau der lokalen Beiträger zeigten sich auch ihre international erfahrenen Landsleute angetan – wie etwa Vaira Vike-Freiberga, Psychologieprofessorin an der Universität Montreal, Mitglied der Kanadischen Akademie der Wissenschaften, ehemalige Vizepräsidentin des Wissenschaftsrates und Vorsitzende der Psychologenvereinigung Kanadas, sowie Valters Nollendorfs, der lange Zeit in den USA lehrte und in der Faustforschung seit langem einen Namen hat. Sein Vortrag über die alte Frage nach Fausts Erlösung hob vor allem die ironische Inkongruenz zwischen Fausts Proklamationen von Freiheit und Gleichheit und deren diktatorischen Methoden hervor – eine nicht mehr ganz neue, aber vor dem Hintergrund der jüngsten lettischen Geschichte virulente Fragestellung. Vielleicht ist es auch diese spezifische Verortung, die zu einer interessanten Koinzidenz zwischen Nollendorfs eher von einem traditionellen Geschlechterbild ausgehenden Deutung der Gretchentragödie und der seiner feministischen Kollegin Ella Buceniece führte, die aus unterschiedlichen Argumentationsrichtungen zu der These gelangten, daß Faust von Gretchen verführt worden sei statt umgekehrt.

Auch am vierten Tag, der einzelnen literatur- und ideengeschichtlichen Motiven gewidmet war, blieb das Tagungsprogramm so dicht gedrängt wie das Auditorium, das den Saal des Goethe-Instituts meist überfüllte, obwohl in Riga gleichzeitig die populären Lyriktage stattfanden.

So wurde der unmittelbar lokale Anlaß des Symposiums, die ins Stocken geratene Rainis-Forschung zu aktivieren, indem man sich interdisziplinären Fragestellungen unter Einbeziehung von Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Sprachwissenschaftlern und Theaterfachleuten öffnete, aus immanent sachlichen Gründen zur publikumswirksamen Gelegenheit, die Wechselwirkungen zwischen der lettischen und der europäischen Kultur zu thematisieren. Dabei gab es neben der eigenen Selbstverständigung der Beteiligten zwei Zielgruppen, die man für die eigenen Belange zu erwärmen suchte: die lettische Jugend und die ausländischen Gäste.

Beides gelang vorzüglich. In den bewegten Abschlußbemerkungen vieler Tagungsteilnehmer wurde noch einmal deutlich, daß ein freier Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Meinungen ein viel zu lange ungewöhnliches Ereignis gewesen ist. Daß es Unterstützung durch das Goethe-Institut, die DFG und die Goethe-Gesellschaft fand, wurde denn auch von den Organisatoren vom Rainis-Museum für Literatur- und Kunstgeschichte gewürdigt. Ein sehr herzlicher Dank ging an Werner Keller als Präsidenten der Goethe-Gesellschaft für unbürokratischen moralischen wie materiellen Beistand. Im übrigen wurde mehrmals der Vorschlag aufgebracht, eine Goethe-Gesellschaft zu gründen, ja mit der Zeit als ganz reale Perspektive betrachtet.

Gewiß ist ein solcher Vorschlag immer erfreulich. In dem gegebenen Kontext kommt ihm aber eine besondere Bedeutung zu. Daß die Kulturverbindung zwischen Letten und Deutschen in Rainis' Beziehung zu Goethe eine tragende Achse hat, ist bereits dargelegt worden. Daß sie dringend der Reaktualisierung bedarf, zeigt ein Blick auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen der lettischen Wissenschaftler. Während der Sowjetzeit mental wie finanziell kurzgehalten, haben die Akademiker der Baltenrepublik heute zwar mehr Freiheiten, aber noch weniger Chancen, diese zu nutzen. Und Besserung ist nicht in Sicht. Die Regierungspolitik bewegt sich in einem Teufelskreis, der auf die zunehmende ökonomische Schwächung mit einer Reduzierung des Bildungsetats reagiert, was die ökonomische Potenz weiter herabsetzt: Seit 1990 hat sich das Bruttoinlandsprodukt halbiert; im gleichen Zeitraum wurde der Anteil der Bildungsausgaben auf ein Viertel zusammengekürzt – das heißt: für die Förderung der Wissenschaften stehen nur noch etwas mehr als zehn Prozent der vor sieben Jahren angesetzten Summe zur Verfügung. Bei den lettischen Intellektuellen geht der Verdacht um, daß dieser Rückgang, der den europäischen Anschluß weiter erschwert, politisch gewollt ist. So heißt es in einem offenen Brief des nationalen Wissenschaftsrates, der kürzlich in der größten Tageszeitung des Landes abgedruckt wurde: "Wir sehen es als unsere Pflicht an, die Öffentlichkeit zu warnen, daß in Lettland stufenweise Umstände geschaffen werden, die ein Land mit hohem intellektuellem Potential zu einer Zone ungebildeter Arbeitskräfte verändern, das nicht mehr fähig sein wird, die Bestimmungen der eigenen Souveränität zu kontrollieren. … Die Krise der Wissenschaften in Lettland wird zielbewußt vertieft. … Wegen der ungenügenden Finanzierung ist es nicht möglich, die lettische Sprache, Geschichts- und Kulturwerte zu erhalten und weiterzuentwickeln."

Janína Kursíte und Vilnis Zarins, die zu den Mitunterzeichnern des Briefes gehören, dokumentierten auf der Tagung mit zwei exzellenten Vorträgen über mythische und philosophische Motive in Goethes Faust, was sie unter einem solchen Erhalt der lettischen Sprach- und Kulturwerte verstehen: keinen Provinzialismus, sondern Reflexion auf den eigenen Anteil an der europäischen Kulturgeschichte. Und der bemißt sich ebensowenig an der territorialen Größe wie die Bedeutung der Weimarer Klassik.

In diesem Sinne kann die Tagung als Auftakt für eine Reaktivierung und Intensivierung der kulturellen Beziehungen zwischen Lettland und Deutschland gesehen werden. Ein kräftiger Auftakt: Schon während seines Verlaufs in den Zeitungen, in Rundfunk und Fernsehen präsent, wurde das Symposium auch noch Monate danach in den Medien besprochen. Ein Bericht des amtlichen "Latvijas Vestnesis" nennt das Symposium "ein echtes intellektuelles Fest" und schließt mit der Bemerkung: "Indem wir die ausländischen Gäste loben, muß gesagt werden, daß lettische Wissenschaftler 19 Referate hielten und darunter keine blassen."

So war es in der Tat, und das bedarf keines Epilogs. Wohl aber das Wirken jener Person, die lediglich als Regisseurin dieses intellektuellen Festes anzusprechen eine unmäßige Untertreibung wäre: die Leiterin der Rainis- und Aspazija-Forschungsabteilung Gundega Grinuma.

Sie inszenierte auch den Abschied von den deutschen Gästen mit perfekter Prägnanz. Da noch ein halber Tag bis zum Abflug blieb, fuhr sie uns hinaus nach Turaida. Bewaffnet mit einem Picknick-Korb zogen wir durch die im nordischen Morgenlicht überwirklich hell erscheinenden Pfade, auf denen einst das Mädchen Maija wandelte, zu der legendären Grotte. Obschon sehr groß und hoch, ist sie vollständig von Namensgravuren überzogen, die Liebespaare in Jahrhunderten dort anbrachten. Der zunehmende Mangel an freien Schreibmöglichkeiten veranlaßte die Sgraffiteure zu immer kühneren Kletterakt