Peter Matussek

www.heavensgate.com – Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase

 


Erschienen in: Paragrana 6 (1997), H. 1: Selbstfremdheit, S.129–147.

 

     
 

San Diego, kurz nach Ostern 1997. Sektenführer Applewhite und 38 seiner Anhänger entledigen sich ihrer "container", wie sie es nannten, um mit dem vorbeziehenden Kometen Hale-Bopp auf Himmelfahrt zu gehen. Das Internet hatte sie – über ihre Web-Agentur "Higher Source" – am Leben erhalten, dabei aber anscheinend auch ihre Sehnsucht nach Entkörperlichung genährt. Auf ihrer Homepage kündigten sie ihre Einswerdung mit der höheren Quelle enthusiastisch an: "If you study the material on the website you will hopefully understand our joy and what our purpose here on earth has been. You may even find your 'boarding pass' to leave with us…"[1]Ein Fall für die Psychiatrie, gewiß. Aber vermutlich auch einer für die historische Anthropologie der Siliziumzeit.[2]

Seit es Computernetze gibt, mehren sich die Anzeichen, daß die Geschichte der Ichbildung in ein neues (Spiegel-)Stadium getreten ist. Unter dem Motto "Design the persona of your dreams", wie es etwa die Homepage der Firma Double Exposure formuliert,[3] lockt das Internet mit zahlreichen Angeboten der Selbstfindung durch Selbsterfindung. Das alte Maskenspiel des Personseins findet im Cyberspace seine technisch innovative Fortsetzung, die dem alltäglichen Bedarf an Identitätsprätentionen völlig neue Präsentationsräume eröffnet. Fiktive Identitäten, sogenannte Avatars, führen darin ihr virtuelles Leben und verkehren mit ihresgleichen – bevorzugt sexuell, was ihren Trägern den Ruf eingebracht hat, enorme Fähigkeiten der Tastaturbedienung mit einer Hand zu entwickeln. Derlei Nebeneffekte bestätigen jedoch nur das allgemeinere Phänomen, daß beim Netzverkehr bislang schlummernde Potenzen geweckt werden. Wenn schüchterne Knaben sich hier in Wüstlinge verwandeln können oder devote Hausfrauen in Dominas, so spricht das für eine grundsätzliche Fähigkeit des Mediums. Es erlaubt seinen Nutzern, dem Standardisierungsdruck der Normalität zu entfliehen und bei ihren "blind dates" in digitalen Darkrooms die Erfahrung der Andersheit zu machen, die ihnen das Real Life verwehrt. Die Lust am virtuellen Leben wird höchstens einmal von politisch korrekten Moralwächtern getrübt, wie im Falle des Avatars Headhunter Chieftain, das unlängst wegen pädophiler Neigungen per Löschbefehl entsorgt wurde. Daß es ihm "nur um Sex mit Kinder-Avataren" ging, hatte es vergeblich  gegenüber seinen Zensoren beteuert.[4]In der Tat scheint der mildernde Umstand "bloßer Imagination" angesichts des Authentizitätserlebens im Online-Verkehr weniger denn je zu gelten. Das auf Bildschirmtexte und bestenfalls karge Grafiken reduzierte Netzdasein wird von seinen Trägern keineswegs als irreal empfunden. Im Gegenteil: "I would say I feel more like myself" berichtet eine Innenarchitektin über ihr Cyber-Selbst. Und in Antizipation eines Rendezvous mit dem Träger eines Avatars, das sie beim Online-Flirt kennengelernt hatte, fügt sie hinzu: "I'm just hoping that face-to-face I can find a way to spend some time being the online me."[5]

An den Gedanken, daß wir mehr oder weniger multiple Persönlichkeiten sind, haben wir uns ja schon seit längerem gewöhnt. Daß wir aber auch und insbesondere ein multimediales Sein haben, mußte erst noch entdeckt werden. Wieder einmal war es das Militär, dem wir die dazu nötigen Erfindungen verdanken. Anfang der achtziger Jahre übernahmen die Programmierer des Pentagon mit sicherem Gespür für Mythologisches den Begriff Avatar zur Bezeichnung der fiktiven Figuren in ihren Simulationsspielen. Mit dem Aufkommen der PCs fand diese Technik Eingang in die Wohnstuben, wo das virtuelle Killen sich in Gestalt von Drachentötern und Monstermördern fortsetzte. Im Zuge des Mauerfalls legten die Avatars die Uniformen von Fabelkriegern ab und assimilierten sich an das zivile Leben. Der Student James Aspnes entwarf für das Internet ein "Szenario, in dem sterbliche Menschen mit realen Problemen ihre Rollen spielten".[6]Mittlerweile gibt es hunderte dieser digitalen Kontakthöfe[7], die von rein textbasierten mehr und mehr zu grafikunterstützten Systemen mutieren und mit verstärkter Angleichung an analoge Wirklichkeiten nicht mehr Multiuser-"Dungeons", sondern seriöser "Domains" genannt werden, was dem Akronym MUD freilich ebensowenig anzumerken ist wie seinen Inhalten der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit – Kategorien, die bekanntlich in einem dialektischen Verhältnis stehen: Gewiß sind alle Avatars fiktive Figuren, die das private Selbst ihrer Träger verhüllen. Auch hier aber ist, wie im richtigen Leben, gerade die Verhüllung das Enthüllende. Bigdick und Bitcholyte geben mehr von sich preis als sie sich unter ihren bürgerlichen Namen gestatten würden, und wenn der forsche Günter2000 mit der virtuell stets willigen Sandy flirtet, dann stellt ihr rührend echtes Falschspiel Bourdieus Thesen über Die biographische Illusion[8] auf den Kopf: Der Reiz des Mediums besteht offenbar darin, unter Vortäuschung einer Täuschung die Wahrheit über sich sagen zu können – treffend eingefangen in der berühmten Karikatur eines Hundes, der am Online-Terminal die Worte tippt: "In the internet, nobody knows you're a dog."

Steckt in dem Phänomen vielleicht doch mehr als bloßer Eskapismus, wie ihn despektierliche Randglossen und süffisante Feuilletons unterstellen, die derzeit den Medienmarkt bereichern? Haben wir es hier vielleicht gar mit einem radikal neuen Gegenstand der Kulturtheorie zu tun, der mit den alten Paradigmen nicht mehr zu fassen ist? Die einschlägigen Abhandlungen legen das nahe. Scott Bukatman beschreibt mit dem von William Burroughs geprägten Begriff Terminal Identity einen Phänotyp, "in which we find both the end of the subject and a new subjectivity constructed at the computer station or television screen", "becoming more 'real' (more familiar, more authoritative, more satisfying) than physical reality itself".[9]"Ungefilterte und ungehemmte Selbstäußerung" sieht Gundolf S. Freyermuth als "generelle Qualität" der Kommunikation zwischen den "anonyme(n) Identitäten" im Cyberland, die den evolutionären Sprung in ein von körperlichen Grenzen und Gebrechen befreites Digitalsein vorbereiten.[10]Und Sherry Turkle erkennt als Lacan-geschulte Computerpsychologin im Life on the Screen  eine völlig neue Dimension der Selbsterfahrung in der Fremderfahrung, mit revolutionären Aussichten für die therapeutische Praxis: "A MUD can become a context for discovering who one is and wishes to be. In this way, the games are laboratories for the construction of identity […] (with) ample room for individuals to express unexplored parts of themselves."[11]Je est un autre – das Rimbaudsche Paradox kann offenbar reformuliert werden: "Ich ist ein Avatar."

Der Begriff freilich ist weit weniger neu als die mit ihm assoziierten Techniken der Identitätskonstruktion. Avatara ist die Sanskrit-Vokabel für "Herabstieg" und bezeichnet die periodisch wechselnde Inkarnation einer hinduistischen Gottheit, vornehmlich Vishnus. Daß nun die postbiologischen Maskenspiele im Cyberspace mit diesem archaischen Namen belegt werden, provoziert die Frage nach dem Sachgehalt der nominellen Gleichsetzung. Zu ihrer Beantwortung bedarf es einer Erweiterung des medientheoretischen Fokus um die Dimension der historischen Anthropologie. Denn eine Medientheorie, die sich ausschließlich an der Grammatik der neuen Techniken, dem "Klartext der Programme" orientiert,[12] macht sich blind für Koinzidenzen, wie sie sich im Avatar-Begriff ankündigen. Zu deren Beurteilung bedarf es der Einbettung der neuen Medien in den geschichtlichen Kontext medialer Praktiken. In diesem Sinne soll daher nun den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen beiden Phänomenbereichen nachgegangen werden. Inwiefern also ist das algorithmische Avatar etwas Neues? Und inwiefern ist es nur die postmoderne Gestalt eines mythischen Gehalts?

 

 

Das Erinnerungsvermögen der Selbstvergessenheit

 

 

Manche Internet-Inkarnierer stellen ihre Erlebnisse ganz explizit in den archaischen Kontext. Ein Teilnehmer der von der Netzkommune WELL organisierten "conference on virtual reality" etwa konstatiert: "Hindu culture is rooted in the 'many' as the root of spiritual experience. A person's momentary behavior reflects some influence from one of hundreds of gods and/or goddesses." Diese "assumption of the 'many'" sei es, die er bei seinen virtuellen Rollenexperimenten an sich selbst erfahre.[13]Den meisten aber dürfte der terminologische Bezug ihrer Avatars zur indischen Mythologie gar nicht bewußt sein. Um so emphatischer tritt er implizit zutage – als Sehnsucht nach Selbstverwandlung. "You can be whoever you want. You can completely redefine yourself if you want", erklärt ein MUD-Süchtiger." Und ein Student namens Gordon, der einen besonderen Reinkarnationsbedarf aufweist, preist im Interview mit Sherry Turkle die "advantages of a fresh start … When he changed his character he felt born again."[14]

Vishnus Avataras sind ein früher Ausdruck dieses menschlichen Urbedürfnisses nach Wiedergeburt. Die indischen Epen berichten von unzähligen Inkarnationen, aus denen sich in den Puranas ein klassisches System von zehn Erscheinungsformen herausgebildet hat: Matsya (Fisch), Kurma (Schildkröte), Varaha (Rieseneber), Narasimha (Mannlöwe), Vamana (Zwerg), Parasurama (Rama mit dem Beil), Rama (der Held der Ramayana), Krischna, Buddha und Kalkin. Das Hauptmotiv dieser in kosmischen Perioden aufeinander folgenden und sich dabei perfektionierenden Manifestationen, von denen die letzte noch aussteht, ist es, Ordnung in die Welt zu bringen; es gibt aber auch "kleinere Herabstiege", deren Beweggrund durchaus persönlicher Art sein kann.[15]"Der Übertritt in den Körper eines anderen ist", wie Mircea Eliade feststellt, "ein bekanntes Jogi-Wunder, und die Heiligen bedienen sich hin und wieder eines solchen Wunders, um die Sinnenlust kennenzulernen, ohne sich selbst dabei zu beflecken."[16]Religionspsychologisch gesehen, befriedigen diese unterschiedlichen Avataras nach der Einschätzung des Indologen Jan Gonda "das Bedürfnis nach mehreren verehrungswürdigen Wesen, die die Fassungskraft der Masse nicht zu sehr übersteigen. […] sie werden zu Idealen für den nach Erlösung strebenden Menschen; sie geben ihm Rückhalt und stellen eine Daseinsform vor ihn hin, in die er sich selbst zu verwandeln hofft; denn auch Krsna und Rama sind einst Menschen auf Erden gewesen."[17]Und zwar sind sie es mit allen menschlichen Neigungen gewesen: Berüchtigt ist insbesondere Krischnas Vorliebe für junge Hirtenmädchen, die er mit derselben Leidenschaft verfolgte wie seine spirituellen Ziele.

Vor diesem Hintergrund erscheint ein Vergleich mit den jüngsten Reinkarnationsbemühungen nicht abwegig. So wie der Gott der Hindus vorbildlich für die Gläubigen aus einem virtuell unbegrenzten Arsenal von Manifestationen die ihm jeweils wünschenswerte auswählte, so legt sich Gordon im Internet die Qualitäten zu, die er in sich zu entwickeln hofft. Turkle referiert: "On MUDs, Gordon has experimented with many different characters, but they all have something in common. Each has qualities that Gordon is trying to develop in himself. He describes one current character as 'an avatar of me. He is like me, but more effusive, more apt to be flowery and romantic with a sort of tongue-in-cheek attitude toward the whole thing.' A second character is 'quiet, older, less involved in what other people are doing,' in sum, more self-confident and self-contained than the real-life Gordon. A third character is female. Gordon compares her to himself: 'She is more flirtatious, more experimental, more open sexually definitely.'"[18]Und so weiter.

Was Sherry Turkle in ihrer einseitig individualpsychologischen Deutung solcher und ähnlicher Versuche der Selbsttranszendenz unberücksichtigt läßt, ist ihre ekstatische Dimension. Der Genuß am Außersichsein wird durch die elektronischen Avatars auf eine Weise befriedigt, die sich vom gewöhnlichen, lediglich postmodern gesteigerten Hang zu Rollenspiel und Maskerade dezidiert unterscheidet. Die Perfektionierung der Simulation wird – entgegen dem Trend der Interface-Technologie – nicht durch den Schein physischer Präsenz angestrebt, sondern durch deren Suspension. Gerade die Sinnesarmut der allenfalls durch karge Grafiken unterstützten Tipperei am Terminal ist es, die den Reiz der Tastatur-Travestien ausmacht – auch in erotischer Hinsicht: Nichts ist für Cyberlover unerwünschter als die leibhaftige Begegnung.[19]Das Geheimnis der kybernetischen Selbsterfahrung besteht in der Ausblendung körperlicher Konkretion. Sie erst erlaubt es nach den Worten eines Mudders, zu sein "whoever you want to be". Ein anderer resümiert: "After all, why grant such superior status to the self that has the body when the selves that don't have bodies are able to have different kinds of experiences?" Was für die Hindu-Mythologie gilt, gilt auch für die Internet-Metamorphosen: Voraussetzung und letztes Ziel aller Reinkarnationen ist die De-Inkarnation. Sie ermöglicht den von allem Fleische nur gehemmten Prozeß der Selbstverwandlungen und führt zum Erlebnis der Teilhabe an einer höheren Wirklichkeit. Nachdem sie im Netz erfolgreich erprobt hat "to be a man playing a woman who is pretending to be a man", stellt eine Mudderin begeistert fest: "This is more real than my real life."[20]

Die Verzückung der Ekstase beruht dem Wortsinn nach auf dem Außersichgeraten, dem Verlassen des empirisch-physischen Daseins. Eben diese außersinnliche Dimension ist es, die als Erlösungsutopie von den medialen Praktiken archaischer Zeiten her in die neuen Medien hinein ausstrahlt und von ihnen reaktualisiert wird. Seit jeher haben Trance-Techniken darauf abgezielt, den Zustand der Loslösung vom eigenen Körper zu erreichen. Keineswegs wird diese Parallele durch den spielerischen Charakter der elektronischen Maskeraden diskreditiert. Auch in den schamanistischen Ritualen sind, wie etwa Roger Caillois hervorhebt, "Gläubigkeit und Simulation […] seltsam verbunden"[21] – die Vortäuschung anderer Zustände gehört zu den Methoden, sich in sie hineinzuversetzen. Die Simulationsspiele im Cyberspace haben einen ähnlichen Effekt: Je weiter sich die prätendierten Identitäten von der gewohnheitsmäßigen physiologischen Sinneswahrnehmung entfernen, um so stärker ist ihre Suggestionskraft. Hier wie dort gilt, daß sich gerade im Spiel mit seinen Masken das Individuum als das andere seiner selbst erlebt und so über sich hinauswachsen kann. Manche MUDs stellen diesen Effekt explizit in den Kontext religiöser Übungen, wie etwa "Ultima", bei dem das Avatar den "eight virtues" – "honesty, compassion, valor, justice, sacrifice, honor" und "spirituality" – nacheifert, um sich zum "ultimate example" in allen acht zu machen.[22]Die meisten sind freilich in ihrem Angebot weniger festgelegt. Das eingangs erwähnte "Avatar System" von Double Exposure etwa bietet "seven Genres": "Fantasy, Space, Technology, Terrain, Gothic, Superpowers and Cartoon". Auch hier aber bleibt das erklärte Ziel, "to exceed the limits of the body".

Die Vielfalt der MUD-Welten – heißen sie nun "Holy Mission", "Heaven's Door" oder "Quest for the Eternals"[23] – reproduziert das Kaleidoskop historischer Ekstase-Techniken. Um das Faszinosum der elektronischen Avatars zu erklären, ist es also nicht nötig, sich allein auf den Asketismus der Inder zu kaprizieren. Das ekstatische Motiv des Gestaltwechsels findet sich in allen Kulturen.[24]Auch das Abendland kennt entsprechende Vorstellungen. Die olympischen Götter waren extrem verwandlungsfreudig, sprichwörtlich "proteische" Naturen. Was bei den Hindus Avatara heißt, heißt bei den alten Griechen metensomatosis. Auch hier wird aus der Vorstellung, daß die Seele unterschiedliche Einkörperungen erfahren kann, ein Erlösungsprinzip abgeleitet. Mit jedem Identitätswechsel bietet sich die Möglichkeit zur Befreiung von den Fesseln niederer, grobstofflicher Inkarnationen und die Erneuerung der Existenz auf höherer Ebene qua Metempsychose. Solch ein kathartisches Läuterungskonzept, das dem Karmagedanken der Inder ähnelt und schamanistische Vorstellungen aufgreift, lehrte etwa Pythagoras, der nach dem Bericht von Herakleides Pontikos genaue Angaben darüber machen konnte, in welchen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Verkörperungen seine Seele umherwanderte.[25]Platon griff die pythagoreischen Ideen auf und wandelte sie in seinem Sinne um, indem er den Lohn einer höheren Wiedergeburt von einer philosophischen Lebensweise abhängig machte. Ausführlich beschreibt er am Ende des 10. Buches der Politeia, wie die Seelen verstorbener Menschen in neue sterbliche Verkörperungen eingehen. Wer diese Passagen vor dem Hintergrund einschlägiger Internet-Erfahrungen liest, dem muß sich der Vergleich mit dem Foyer einer MUD aufdrängen. Hier wie dort werden den Ankömmlingen verschiedene Identitäten zur Auswahl angeboten. Nach Platons Bericht suchte sich Orpheus einen Schwan aus, Agamemnon einen Adler und Odysseus "eines von Staatsgeschäften entfernten Mannes Leben". Die Wahl wird von früheren Gewohnheiten – entweder im Sinne des Wiederholungszwangs oder der Kompensation – beeinflußt. Auch das ist bei Muddern nicht anders. Handelt es sich also bei den Metempsychosen im Cyberspace tatsächlich nur um eine moderne Kontrafaktur alter Psychotechniken, die im Rahmen gewandelter Medien das unverminderte Bedürfnis nach Selbsttranszendenz befriedigen?

Der entscheidende Vergleichspunkt, an dem sich diese Hypothese zu verifizieren hätte, betrifft das Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Im Zentrum aller Wiedergeburtsmythen steht das Ablegen der äußerlichen Hülle biographischer Identität als Voraussetzung für die er-innernde Einkörperung Ich-transzendenter Manifestationen höherer Mächte. Die hierzu erforderlichen Techniken der Selbstvergessenheit zielen bei allen kulturellen Unterschieden im Prinzip doch auf denselben Effekt.[26]Die Erinnerung der wahren Natur erschließt sich dem indischen Yogi nur über das Erlöschen der irdischen Existenz, im Nirvana. Auch die Mnemosyne der griechischen Mythologie ist an ihren Widerpart, an Lesmosyne gebunden; die Göttin der Erinnerung bringt, wie es bei Hesiod heißt, "Vergessen […] der Leiden und Ende der Sorgen" (Theogonie 54f.). So führt auch im Abendland seit je der Weg zum wahren Selbst durch den Lethe-Fluß. Beim Inkubationszeremoniell von Lebadeia etwa muß der Knabe nach Pausanias "das sogenannte Wasser des Vergessens trinken, damit er alles vergißt, was er bisher gedacht hatte, und danach trinkt er ein anderes Wasser des Erinnerns, und davon erinnert er sich an das, was er gesehen hat, wenn er hinabgestiegen ist" (9, 39, 8). Und das 10. Buch von Platons Staat  schickt die reinkarnierten Seelen zunächst "auf das Feld der Vergessenheit" und läßt sie am "Flusse Sorglos" lagern. "Ein gewisses Maß nun von diesem Wasser sei jedem notwendig zu trinken", um von der Befangenheit in früheren Gewohnheiten frei zu werden (621a). Platons Anamnesis-Lehre ist nur die philosophische Fassung dieser mythologischen Vorstellung. Auch sie verknüpft die Wiedererinnerung der unsterblichen Seele an die einst geschaute Wahrheit mit dem Vergessen des bloß äußerlichen, auswendig gelernten Wissens.[27]Das Abstreifen der im Alltagsleben erworbenen Meinungen und Vorurteile eröffnet dem Weisheitsliebenden Möglichkeiten des Andersseins, die der Forderung des delphischen Orakels nach Selbsterkenntnis gerecht werden (Phaidros 229e). Plotin schließlich, der von zwei Seelen ausgeht, einer niederen, leidenschaftlichen, und einer höheren, die von Leidenschaft frei ist, folgert: "Die obere Seele […] muß bestrebt sein, gern zu vergessen, was von der niederen kommt […]. Je mehr sie denn nun in die Höhe strebt, umso mehr Dinge vergißt sie. Es sei denn, auch hienieden ist ihr ganzes Leben von der Art, daß es nur Erinnerungen an das Höhere birgt; ist es doch schon hier wohlbestellt um das Wesen, welches menschliches Trachten hinter sich läßt, notwendigerweise also auch menschliches Erinnern. Daher, wollte man sagen, die gute Seele sei vergeßlich, so wäre das in diesem Sinne recht gesprochen" (IV 3, 32). Selbstvergessenheit ist, wie Ioan Couliano resümiert, "das höchste Ziel der Plotinschen Mystik, und sie wird in einer Weise beschrieben, die an das 'ozeanische Gefühl' der indischen Mystik erinnert."[28]

Das beiden Traditionslinien gemeinsame Motiv hat seine Wirkung bis in unsere Gegenwart kontinuieren können – im Abendland als philosophischer Unterstrom, der sich von Giordano Brunos ekstatischer Erkenntnislehre[29] über die romantische Identitätsphilosophie, in der das Ich sich im Absoluten auflöst, bis zur existentialistischen und postmodernen Subjektkritik erstreckt, die die Möglichkeit der Seinserfahrung von der Dekonstruktion der humanistischen Identitätskonzepte abhängig macht. Sie setzen die gängige Opposition von Erinnern und Vergessen außer Kraft.[30]Was der philosophische Diskurs in die Abstraktion zu verflüchtigen droht, findet seine plastische Ausgestaltung in der Kunst – sei es in Anknüpfung an die indische Mythologie, wie in Théophile Gautiers Avatar[31], oder an die griechische, wie in Hofmannsthals Ariadne auf Naxos, die der Dichter mit den Worten kommentiert: "Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen."[32]Die künstlerischen Verarbeitungen diese Motivs sind Legion, ja es gehört zu den grundlegenden Funktionsbestimmungen ästhetischer Fiktionalisierung. Dennoch können sie das Bedürfnis, sich im Imaginären zu verlieren, nicht völlig abdecken. Die gegenwärtige Konjunktur von Rebirthing-Therapien[33] und Techno-Trancen zeugt von einem Verlangen nach ekstatischem Vergessenstaumel, das nur im Praktischwerden des esoterischen Erbes zu stillen ist. Der "kleine Tod" der alchemistischen Selbstverwandlung will nicht nur erlesen, er will experimentell erfahren werden.

Das Internet bedient dieses Interesse auf allen Ebenen. Traditionell orientierte Reinkarnationsanbieter wie der Avatar Meher Baba Perpetual Public Charitable Trust[34] haben hier ebenso ihre Homepage wie ihre westlich modernisierten Pendants: "Do you want to wait or have it now?" fragen die Avatar Mastery Services.[35]Und Star's Edge Incorporated bringt das zentrale Element der erneuerten Heilslehre, das Vergessen des niederen Selbst im Interesse einer Erinnerung des höheren, zeitgemäß knapp auf den Punkt: "Avatar is an awakening of your own ability to create beliefs you choose to have and to discreate beliefs you do not wish to have." Die Wirkung des willkürlichen Selbst-Designs scheint – so man den beigefügten Referenzen glauben mag – umwälzend zu sein. Ein Fotograf aus Colorado berichtet: "There is very little about my life that resembles my pre-Avatar days. My wildest dreams are now my normal reality and I continue to find ways of stretching the limits." "I feel boundless peace", schreibt nach absolviertem Avatar-Kurs ein koreanischer Bankangestellter, "as though I had finally returned to my home after a long wandering".[36]

Die Computernetze sind aber nicht nur Forum, sondern anscheinend auch das ultimative Medium des Nirvana-Prinzips. Roy Ascott sieht in ihnen "die Antwortauf unser tiefes psychologisches Verlangen nach Transzendenz – das Immaterielle, das Spirituelle zu erreichen –, den Wunsch, außerhalb des Körpers zu sein, des Geistes, die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden, eine Art bio-technologischer Theologie".[37]In der Tat kommt das Terminaldasein in besonderer Weise dem Bedürfnis nach Selbstvergessenheit nach, indem es dazu verhilft, die eigene Lebenswelt auszublenden. Beim Abtauchen in den Cyberspace befreien sich die Träger elektronischer Avatare vom Eingedenken des Real Life – und eben dies macht die Faszination aus, die sie dazu befähigt, stundenlang am Bildschirm auszuharren. Und es erklärt auch, warum das virtuelle Ausleben erotischer Phantasien von vielen als anregender empfunden wird als im wirklichen Leben. Um es mit Giordano Bruno zu sagen: "Die Herrschaft Cupidos stützt sich darauf, daß die Seele des Liebenden, nachdem sie ihren Körper verlassen hat, in einem fremden lebt und handelt. Die Transformation Cupidos findet dort statt, wo ein für sich Toter in einem fremden Leben lebt, weshalb er ja eigentlich nicht so sehr in einem fremden Domizil lebt, sondern wieder gleichsam in seinem eigenen."[38]Sind Online-Existenzen nicht ebenfalls für sich Tote, die ihr reales Dasein vergessen und in einem fremden Leben leben, das zu ihrem eigenen wird?

Idiosynkrasie mag sich regen bei der Parallelisierung von etwas so Altehrwürdigem wie der neuplatonischen Metaphysik mit der Trivialität des computerisierten Alltags. Um aber das Unbehagen auf seine Triftigkeit zu überprüfen, muß es zunächst von möglichen Vorurteilen befreit werden. Sowenig die Essenz traditioneller Trancerituale mit ihrer oft an banale Taschenspielertricks erinnernden Praxis gleichgesetzt werden kann, sowenig darf das faktische Erscheinungsbild der kybernetischen Reinkarnationsexperimente mit den ihnen bewußt oder unbewußt zugrundeliegenden Erlösungsmotiven verwechselt werden. Der Vergleich zwischen den traditionellen und aktuellen Praktiken hat sich auf ihre jeweiligen Idealtypen zu beziehen. Die des neuen Mediums treten am deutlichsten in den Cybermythen der Science-Fiction-Literatur zutage. Was verraten sie über die Essenz elektronisch vermittelter Ekstasen?

 

Das unerbittliche Gedächtnis
kybernetischer Entkörperlichung

 

 

Avatars der computergestützen Art sind das bevorzugte Thema des Genres. Zu seinen überzeugendsten Vertretern gehört Neal Stephensons Snowcrash, ein Roman, der die gegenwärtigen Technologietendenzen und die ihnen inhärente Bedürfnisstruktur konsequent fortschreibt. Das "Metaversum" ist bei Stephenson zu einem gigantischen virtuellen Datenraum gediehen, der größer ist als die Erde und deren Habitate an architektonischer Eleganz und Erlebnisintensität bei weitem übertrifft. Sein Held, Hiro Protagonist, der in einem heruntergekommenen Vorstadtsilo auf engstem Raum leben muß, versäumt keine Gelegenheit, sich einzuloggen und als lebensecht gestaltetes Avatar auf Abenteuerreise zu gehen. In einem virtuellen Szenelokal namens "The Black Sun", an dessen Design er selbst beteiligt war, trifft er auf Gleichgesinnte: "Unglaublich schöne Frauen, mit dem Computer-airbrush geschaffen und mit zweiundsiebzig Bildern pro Sekunde retuschiert, wie dreidimensionale Playboy-Playmates – das sind Möchtegernschauspielerinnen, die hoffen, daß sie entdeckt werden. Abstrakte mit verwegenem Aussehen, Tornados kreisenden Lichts – Hacker, die hoffen, daß Da5id [sic! seines Zeichens Chef-Programmierer, P.M.] ihr Talent erkennt, sie hereinbittet, ihnen einen Job gibt. Dazwischen immer wieder Leute in Schwarzweiß – Personen, die über billige öffentliche Terminals ins Metaversum gekommen sind und grobkörnig monochrom dargestellt werden. Viele davon sind durchschnittliche Psycho-Fans, die mit der Zwangsvorstellung leben, eine bestimmte Schauspielerin zu erstechen; in der Wirklichkeit kommen sie noch nicht einmal in ihre Nähe, daher besuchen sie das Metaversum, um ihre Beute zu jagen. Da sind in Laserlicht gehüllte Möchtegernrockstars, die aussehen, als wären sie gerade von der Konzertbühne getreten, und die Avatars japanischer Geschäftsleute, die von ihren teuren Maschinen exquisit dargestellt werden, in ihren Anzügen aber durch und durch reserviert und langweilig aussehen."[39]Die Pointe der Geschichte ist, daß das Geschehen im virtuellen Raum zunehmend das – nur mehr nominalistisch davon abzugrenzende – "reale Leben" in seinen Bann zieht und beherrscht: Das Metaversum wird durch eine "Infokalypse" bedroht, die das Agieren jenseits des Computerterminals zur Bedingung des diesseitigen Überlebens macht. Die selbstvergessene Entäußerung an das Avatar-Dasein erhält unversehens eine physische Wucht, die seinen Träger in einen verbissenen Kampf um die kybernetische Existenz verwickelt, als sich plötzlich herausstellt, daß von seinem Erfolg die irdische Existenz abhängt. Die Intention der Erlebnissteigerung durch Entkörperlichung schlägt auf ihrem Höhepunkt um in schieren Biologismus.

Radikaler noch als bei Stephenson wird dieselbe Konstellation in William Gibsons Neuromancer ausphantasiert. Dessen Protagonist Case empfindet sich als "Gefangener seines Fleisches", seit durch einen neurochirurgischen Unfall die Chips in seinem Gehirn zerstört wurden; fortan ist sein ganzes Bestreben darauf gerichtet, sich wie früher mit einem Cyberspace-Deck zusammenschließen zu können, "that projected his disembodied consciousness into the consensual hallucination that was the matrix". Das Ersehnte wird ihm schließlich zuteil – in gesteigerter Form einer holographischen Realität, die ihn zum Gefangenen seiner eigenen Erinnerungen und Wunschprojektionen macht. Auch hier schlägt das Bedürfnis nach Befreiung vom eigenen Körper in die pure Sorge um das physische Dasein um: "Every hour or so, he rose and crossed to the makeshift stove, adding fresh driftwood from the pile beside it. None of this was real, but cold was cold." Was Case schließlich aus den Fesseln der Cyberspace-Existenz befreit, ist der stärkste somatische Impuls, zu dem das Dasein außerhalb fähig ist: Selbsthaß. "'Hate'll get you through,' the voice said. 'So many little triggers in the brain, and you just go yankin' 'em all. Now you gotta hate.' […]He whipped the program through a turn and dived for the blue towers. […] He came in steep, fueled by self-loathing. When the Kuang program met the first of the defenders, scattering the leaves of light, he felt the shark thing lose a degree of substantiality, the fabric of information loosening. And then – old alchemy of the brain and its vast pharmacy – his hate flowed into his hands." Es ist just der Moment des Empfindens der eigenen Hände an der Computerkonsole, in dem sich sein Agieren im Cyberspace zur Ekstase steigert: "In the instant […] he attained a level of proficiency exceeding anything he'd known or imagined. Beyond ego, beyond personality, beyond awareness, he moved, […] evading his attackers with an ancient dance, Hideo's dance, grace of the mind-body interface granted him, in that second, by the clarity and singleness of his wish to die."[40]

Episierungen des Sujets wie bei Neal Stephenson und William Gibson – der sich übrigens außerhalb seiner Cyberspace-Phantasmen wenig aus Computern macht und seinen Roman auf der Schreibmaschine schrieb – lassen den faktischen Unterschied zwischen alten und neuen Ekstasetechniken prägnant hervortreten: Die Verhältnisse von Körper und Geist sowie von Erinnern und Vergessen kehren sich in den neuen medialen Praktiken um. Das Eintauchen in die außersinnliche Realität wird traditionell durch eine Manipulation des körperlichen Empfindens ermöglicht – selbst bei Platon, der eindringlich das Erschaudern im Zustand der Aporie und das affektive Ergriffensein vom Erlebnis der Wiedererinnerung hervorhebt.[41]Gerade die "körperlichen Dinge", schreibt Eliade im Hinblick auf Platons Anamnesis-Lehre, "verhelfen der Seele zur Besinnung auf sich selbst".[42]Bei den Digitalschamanen hingegen wird das Außersichsein auf direktem Wege angestrebt, durch die Suspendierung der physischen Existenz. Deshalb aber müssen sie ihr Ziel verfehlen; die kybernetischen Reinkarnationen haben keinen Rezeptor, der sie als das ihm andere spüren läßt. Auch reizübermittelnde Data-Gloves oder Cybersex-Anzüge, ja selbst Gibsons "Simstim", die Fiktion einer unmittelbar sensorischen Schnittstelle,[43] vermögen daran nichts zu ändern, da bei ihnen das Verhältnis von physiologischen und psychologischen Prozessen nicht reflexiv, sondern nur reflexartig erfahren wird. Für die Konditionierung von Verhaltensweisen sind solche Interfaces freilich hervorragend geeignet. Es ist jedoch kurzschlüssig, sie mit einer Steigerung an "Lebendigkeit" gleichzusetzen, wie es etwa Wulf Halbach in einer Mißdeutung Gibsons tut.[44]Von einem ekstatischen Effekt kann schon gar nicht die Rede sein, denn mit der Enteignung der affektiven Differenzerfahrung fällt die Wahrnehmungsqualität der Loslösung vom eigenen Körper flach. Im Neuromancer wird das Elend der reinkybernetischen Reinkarnation am Extremfall einer sogenannten "Flatline" durchgespielt, der Aufzeichnung einer Persönlichkeitsmatrix. "What bothers me", sagt sie, "is, nothin' does."[45]Die perfekt simulierte Realität leidet unter ihrer algorithmischen Determination; mit ihrem somatischen Widerpart fehlt ihr die Abstoßungskraft zur Imagination. Der Körper gewordene Geist strahlt vom Bildschirm zurück als geistloser Körper.

Nun war freilich auch in den alten Ekstasetechniken Selbstvergessenheit die Voraussetzung eines überindividuellen Erinnerns anderer Seinsmöglichkeiten. Wer aber in diesem Sinne für eine computergestützte Fortführung des Reinkarnationsgedankens plädiert, läuft in dieselbe dialektische Falle des elektronischen Disembodiments. Die Erprobung neuer Identitäten im Cyberspace erweitert nicht die Grenzen der biographischen Identität, sondern zieht sie enger. Die algorithmischen Avatars verlieren sich im Interesse der Selbstvergessenheit ihrer Trägers an ein Medium, das nichts vergessen kann – es sei denn um den Preis der totalen Disfunktionalität. Jeder Spielzug ist ein Registereintrag im elektronischen Speicher, der nur räumliche, keine temporären Strukturen kennt und insofern gänzlich ungeeignet ist zur Repräsentation von Identitätswechseln. Erbarmungslos wird jede Veränderung als zusätzlicher Input dem Archiv zugeschlagen. So führt die Erprobung neuer Rollen im Netz schließlich dorthin, wovon sie wegführen sollte: zur Ich-Fixierung als Datenbank, die durch alle äußeren Figurenwechsel doch nur mit Selbstauskünften gefüttert wird. Es ist eine bezeichnende Paradoxie, daß Cybergurus wie Timothy Leary, die – von der Computermetapher inspiriert – die Symbiose mit dem Kosmos als eines bio-elektrischen Netzwerks propagieren, alle Daten ihres Lebens auf ihrer Homepage zu speichern bemüht sind, um im Todesfall ihre kybernetische Fortexistenz zu sichern. Was als reiner Geist außerhalb des Körpers seinen freien Flug beginnen könnte, wird vorweg auf das Niveau rein physikalischer Qualitäten heruntertransformiert – Bits, positive und negative Ladezustände, auf Festplatte gebannt. Die widerspruchsvolle Konsequenz resultiert aus der Aufspaltung der leibseelischen Einheit in res cogitans und res extensa, zwei Komponenten derselben Verdinglichung, die ein gemeinsames Schicksal antreten. Die neuen Konservierungsmethoden der einen Sache – als Asche in den Weltraum geschickt[46] oder in Tiefkühltruhen kryonisch mumifiziert – entsprechen denen der anderen: Das unerbittliche Speichergedächtnis versucht den Tod zu überwinden, indem es ihn verewigt. So begründet etwa die Kryonikerin Tanya Jones die Backup-Strategie ihrer Firma mit den Worten: "Je mehr Erinnerungen [beim Kühlvorgang, P.M.] verlorengehen, desto weniger bleibt von der jeweiligen Persönlichkeit übrig […]. Wir versuchen deshalb, denkbar viele persönliche Informationen außerhalb des Gehirns zu speichern."[47]Sätze von ergreifender Schlichtheit –  naiv nicht so sehr in ihrem beharrlichen Festhalten an der Utopie der Wiedergeburt, der wesentlichen Triebkraft aller Kulturleistungen, sondern in ihrer Inkonsequenz. Reinkarnationsvorbereitungen dieser Art bringen sich selbst um das Resultat, um dessentwillen sie sich erst lohnen würden: Die Chance zur Selbsterneuerung. In seiner speichertechnischen Realisierung verliert das virtuelle Leben seine Virtualität.

Einleuchtender ist da der Wunsch von Dix, der Flatline aus Gibsons Neuromancer: "'Do me a favor, boy.' 'What's that, Dix?' 'This scam of yours [gemeint ist die Nutzung der Flatline als Informationsquelle, P.M.], when it's over, you erase this goddam thing.'"[48]

 



[1]Quellen: www.heavensgate.com und www.highersource.com.

[2]Das Ereignis fand kurz vor Drucklegung des ansonsten schon fertiggestellten Artikels statt, so daß ich mich auf eine noch relativ ungesicherte Informationsbasis stützen mußte (insbesondere www.weissbach.com). Was ihr zu entnehmen war, schien mir aber die These meines Beitrags durchaus zu bestätigen, so daß ich diese Aktualisierung gewagt habe, von deren Stimmigkeit meine Argumentation im übrigen nicht abhängig ist.

[3]www.io.com/~doubler/avatar.html.

[4]Vgl. Borchers, Detlef: Eine Welt wie jede andere. In: Pl@net 5+6 (1996), S. 22-28, hier S. 24.

[5]Nach Turkle, Sherry: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet; New York 1995, S. 179.

[6]Borchers, a.a.O, S. 27.

[7]Eine Übersicht bietet z.B. der "MUD Connector" auf www.mudconnect.com.

[8]In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und oral history 1 (1990), S. 75–81.

[9]Bukatman, Scott: Terminal Identity: The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction; Durham 1993, S. 9. Vgl. Burroughs, William S.: Nova Express; New York 1964, S. 9 u. 26.

[10]Freyermuth, Gundolf S.: Cyberland. Eine Führung durch den High-Tech-Underground; Berlin 1996, S. 110 u. 131.

[11]Turkle, a.a.O., S. 184f.

[12]Bolz, Norbert: Vorwort zu Computer als Medium, hg. v. dems. / Kittler, Friedrich / Tholen, Christoph; München 1994, S. 9–16, hier S. 9.

[13]The WELL, vr.85148, 17 August 1993.

[14]Nach Turkle, a.a.O., S. 184 u. 190.

[15]Vgl. Hacker, P.: Zur Entwicklung der Avataralehre. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens 4 (1960), S. 47–70.

[16]Eliade, Mircea: Die Mythologie der Erinnerung und des Vergessens. In: Antaios 5 (1964), S. 28–48, hier S. 28.

[17]Gonda, Jan: Die Religionen Indiens. I Veda und älterer Hinduismus; Stuttgart 1960, S. 250.

[18]Turkle, a.a.O., S. 190.

[19]Vgl. die "Sex-Tips für Cyberschlampen" von Sophia Losch. In: Prinz 8 (1996), S. 32.

[20]Nach Turkle, a.a.O., S. 184, 14 u. 10.

[21]Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch; Frankfurt am Main 1982, S. 103.

[22]www.hula.net/~avatar/what.htm.

[23]Adressen: telnet 140.78.40.25; peacedove.org:2212; www.illusia.com.

[24]Vgl. Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik; Frankfurt am Main 1975.

[25]Vgl. Die Vorsokratiker. Auswahl der Fragmente. Übersetzung und Erläuterungen von J. Mansfeld. Bd. 1; Stuttgart 1983, S. 173. Auch Empedokles, heißt es, "wurde bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel, und flutentauchender, stummer Fisch" (Lehre von der Reinigung Fr. 117).

[26]Hubert Fichte gibt zahlreiche Belege aus den afroamerikanischen Mischreligionen für die zentrale Bedeutung von Gedächtnisverlust, Black out, Amnesie etc. bei Trance-Ritualen [besonders eindringlich in seinem Rundfunkfeature: Die Trance in den afroamerikanischen Mischreligionen; Ts. der Sendung des Südwestfunk vom 11. Mai 1974, 20:20h–23:00h, 2. Programm]. In Clifford Geertz' Untersuchung über den balinesischen Hahnenkampf erscheint die Selbstvergessenheit als Identifikation mit dem ganz anderen: "Wenn sich der balinesische Mann mit seinem Hahn identifiziert, dann nicht einfach mit seinem idealen Selbst oder gar mit seinem Penis, sondern gleichzeitig mit dem, was er am meisten fürchtet und haßt und wovon er – wie es nun einmal bei jeder Ambivalenz der Fall ist – am meisten fasziniert ist, mit den 'dunklen Mächten'" [Geertz, Clifford: "Deep Play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders.: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme; Frankfurtam Main 1983, S. 202–260, hier S. 213]. Theodor Reik schildert das Beispiel eines australischen Initiationsritus, bei dem die in den Kakianbund aufgenommenen Jungen ihr ganzes früheres Leben vergessen sollen, um für die Aufnahme höherer Mächte empfänglich zu werden. [Reik, Theodor: Die Pubertätsriten der Wilden. in: ders.: Probleme der Religionspsychologie. Das Ritual; Leipzig Wien 1915.]

[27]Vgl. hierzu meinen Artikel Erinnerungserfahrung und Mnemotechnik. In: Lynkeus. Studien zur Neuen Phänomenologie. "Lebenserfahrung und Denkform"; Berlin 1997 (in Vorbereitung).

[28]Couliano, Ion P.: Jenseits dieser Welt. Außerweltliche Reisen von Gilgamesch bis Albert Einstein; München 1995, S. 190.

[29]Vgl. Samsonow, Elisabeth von: Das Konzept eines ontologischen Modells auf der Basis einer neuen Grammatik: Die Welt als göttlicher Körper in Giordano Bruno.In: MOMUS V-VI (1996), S. 145–152.

[30]Vgl. Kierkegaard: "Unter Entgegensetzung wider das im Gedächtnis Behalten begehre ich mit Themistokles, vergessen zu können; sich erinnern aber und vergessen sind keine Gegensätze" [Stadien auf des Lebens Weg. Band 1; Gütersloh 1982, S. 13]. Und Derrida: "[…] so müßte man sich vielleicht noch an ein bereits 'älteres' Gedächtnis, eines bereits 'älteren' Gedächtnisses als Gedächtnis und Erinnerung erinnern" [Mémoires. Für Paul de Man; Böhlau 1988, S. 100]. Freilich ist das nicht der philosophische Mainstream. Kant definiert den Zustand der "Ecstasis" als eine bloße Täuschung, die entsteht, "wenn man sich in einer Anschauung, die nicht die der Sinne ist, begriffen zu sein glaubt" [Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Werkausgabe, Bd. XII, hg. v. W. Weischedel; Frankfurt am Main 1977, S. 464]. Und selbst Heidegger sieht in der "Ekstase (Entrückung) des Vergessens" nur "den Charakter des sich selbst verschlossenen Ausrückens vor dem eigensten Gewesen" [Sein und Zeit; 10.Aufl. Tübingen 1963, S. 339].

[31]In: ders.: L'œuvre fantastique. II-Romans, S. 1–96.

[32]Hofmannsthal, Hugo von: Ariadne. Aus einem Brief an Richard Strauß. In: ders.: Gesammelte Werke. Dramen V – Operndichtungen; Frankfurt am Main 1979, S. 279–300, hier S. 297.

[33]Vgl. etwa Woolger, Roger J.: Die vielen Leben der Seele. Wiedererinnerung in der therapeutischen Arbeit; München 1992.

[34]storo.sn.no/~erica/jgstest.html.

[35]www.masteryservices.com/Bios.html.

[36]www.isp.net/~kayvan/Avatar.html.

[37]Ascott, Roy: Gesamtdatenwerk. Konnektivität. Transformation und Transzendenz. In: Kunstforum 103 (1989), S. 100–109. Vgl. zur  Kritik dieser These, die meist an christlichen und neuplatonischen Vorstellungen verifiziert wird: Böhme, Hartmut: Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikation von Cyberspace. In: Praktische Theologie, H. 4 (1996), S. 257–261. – Bredekamp, Horst: Cyberspace, ein Geisterreich. In: FAZ, 03.02.96, Nr. 29. – Capurro, Rafael: Leben im Informationszeitalter; Berlin 1995.

[38]Bruno, Giordano: De vinculis in genere. In: Giordano Bruno. Ausgewählt und vorgestellt von Elisabeth von Samsonow, hg. v. Peter Sloterdijk; München 1995, S. 227.

[39]Stephenson, Neal: Snowcrash; München 1994, S. 53.

[40]Gibson, William: Neuromancer; New York 1986, S. 5, 235 u. 261f.

[41]Vgl. z.B. Menon 84b und insbesondere Phaidros 251a. Zweifellos lassen sich bei Platon auch Züge einer philosophischen Entpathetisierung der antiken Mysterienkulte ausmachen [vgl. Schlesier, Renate: Pathos und Wahrheit. Zur Rivalität zwischen Tragödie und Philosophie. In: Kultur und Gemeinsinn, hg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 127–148]. Dabei handelt es sich jedoch nicht – wie die gängige Platonrezeption unterstellt – um eine rationalistische Eliminierung des schamanistischen Erbes, mit dem Platon über die Pythagoreer in Berührung gekommen war, sondern lediglich um dessen metaphysische Umgestaltung. Vgl. Dodds, Erec Robertson: Die Griechen und das Irrationale; Darmstadt 1970, S. 109.

[42]Die Mythologie des Erinnerns und des Vergessens, a.a.O., S. 36. Die zentrale Funktion des Somatischen für den "göttlichen Wahnsinn" bei Platon und dessen fundamentale Bedeutung als Paradigma einer interkulturellen Theorie der Ekstase hat unlängst Klaus-Peter Köpping herausgearbeitet: Ekstase. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie; Weinheim und Basel 1997, S. 548–568.

[43]Vgl. Kap. 4.

[44]Vgl. Halbach, Wulf R.: Interfaces. Medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie; München 1994, S. 173.

[45]Gibson, a.a.O., S. 105.

[46]Zu dieser Überdauerungsform entschied sich Leary schließlich, nachdem er zunächst die kryonische Methode favorisierte.

[47]Vgl. Freyermuth, a.a.O., S. 191.

[48]Gibson, a.a.O., S. 106.