Peter Matussek

Naiver und kritischer Physiozentrismus bei Goethe

 


Erschienen in: Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung; Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 223–237.

 

     
 

I.

 

Clov: Es gibt keine Natur mehr.

Hamm: Keine Natur mehr! Du über­treibst.

Clov: Ringsherum.

Hamm: Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, un­sere Zähne! Unsere Frische! Unsere Ideale!

Clov: Dann hat sie uns nicht vergessen.

Hamm: Du sagst doch, daß es keine mehr gibt.

 

Die gegenwärtige Debatte zur Naturästhetik erinnert in manchen Zügen an den vorstehenden Dialog aus Becketts 'Endspiel'. Die Hamms dieser Debatte, sentimentalische Physiozentriker, werden von anthropozentrischen Clovs mit letzten erkenntnistheoretischen Wahrheiten konfrontiert: "Natur als solche existiert nicht."[1]Den Einwand, daß die Natur doch auch leiblich, und sei es transitorisch, wahrnehmbar sei, greift die andere Seite dennoch gerne auf, um zu zeigen, daß man auf ein solch irrationales und wankelmütiges Wesen nicht setzen könne: Bei der Gewinnung ethischer Maßstäbe sind wir allein. "Die Natur hilft uns dabei nicht"[2], konstatieren Ruth und Dieter Groh. Nun sind freilich auch derartige Pauschalverdikte über die Stiefmütterlichkeit der Natur Aussagen über die Natur als solche, und sie provozieren deshalb, ebenso wie in Becketts Drama, den Vorwurf der Inkonsequenz. Ein konsequenter geltungslogischer Anthropozentrismus müßte sich jedes Urteils darüber enthalten, welche Handlungsimpulse von der Natur ausgehen oder nicht ausgehen. Nun kommen aber weder die Clovs noch die Grohs bei ihrer Desillusionierungsmission ohne die Supposition einer an sich seienden Natur aus. Ein Anthropozentrismus, der die Notwendigkeit eines zumindest hypothetischen Physiozentrismus leugnet, wäre die "Kopfgeburt", die er der Gegenposition vorwirft.

Gewiß, "Natur als solche" existiert nicht. Aber ebensowenig existiert der Gegensatz von Physiozentrismus und Anthropozentrismus "als solcher". Beides sind Konstruktionen. Während die eine indessen sich als notwendige erkenntnistheoretische Voraussetzung erweist, ist die andere irreführend. Sie verdankt sich einer Vulgärantithese von Sein und Schein, die den Kern ästhetischer Naturwahrnehmung und deren fundamentale Bedeutung für eine Ethik der Natur verfehlt. "Es muß Natur sein oder von uns dafür gehalten werden", sagt Kant mit einer bemerkenswerten Gleichsetzung beider Optionen, "damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können; noch mehr aber, wenn wir gar anderen zumuten dürfen, daß sie es daran nehmen sollen, welches in der Tat geschieht, indem wir die Denkungsart derer für grob und unedel halten, die kein Gefühl für die schöne Natur haben"(KdU, A 171).

Auch die kritische Transzendentalphilosophie kommt ohne das Regulativ einer physiozentrischen Perspektive nicht aus. Sie hat ihren systematischen Ort in der Ästhetik, die notwendig zum Anwalt der Idee eines Naturzwecks wurde, nachdem die naturwissenschaftliche Vernunft zweckmäßig auf die Vollzüge der bestimmenden Urteilskraft eingeschränkt wurde. Die Faszination ästhetischer Natur erklärt sich seither aus dem Schein, mehr als bloßer Schein zu sein. Damit wird die Alternative Anthropozentrismus oder Physiozentrismus obsolet. Vielmehr geht es nun in der Naturästhetik nurmehr um die Frage, wie die erkenntnistheoretische Forderung, beim Subjekt anzusetzen, mit der regulativen Idee vom ontischen Vorrang des Objekts vereinbar ist. Eine rein anthropozentrische Naturästhetik indessen ist allemal ein Selbstwiderspruch. Und zwar ein banausischer. Denn ein Kunstwerk, das ausschließlich als Artefakt in Betracht kommt, wird nicht angemessen rezipiert. Die Herausforderung der nachkantischen Ästhetik besteht denn auch nicht darin, eine physiozentrische Orientierung durch eine anthropozentrische zu ersetzen, sondern einen naiven Physiozentrismus durch einen kritischen. Wie diese Herausforderung sich historisch auswirkte, will ich an einem prominenten Beispiel darzustellen versuchen.

Jena, Juli 1794. Goethe hatte gerade einen Vortrag in der naturforschenden Gesellschaft besucht und trifft beim Hinausgehen auf Schiller. Bisher war es ihm gelungen, dem mutmaßlichen Anthropozentriker aus dem Weg zu gehen. Da nun aber die Situation einen Austausch von Artigkeiten verlangt, kommt man ins Gespräch. Goethe nimmt erfreut zur Kenntnis, daß auch der Kollege der Ansicht ist, das soeben Gehörte sei einer Naturethik wenig förderlich gewesen. Und das ermutigt ihn, seine Grundüberzeugung zum Ausdruck zu bringen, "daß es doch wohl noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen", was ja "schon aus der Erfahrung hervorgehe." (X, 540)[3] Schiller, der das für eine Kopfgeburt hält, bleibt höflich, denn er will Goethe für die 'Horen' gewinnen. Er lockt ihn in sein Haus, wo dieser sogleich "mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen" läßt (X, 540). Die ist dem Kantianer freilich zu bunt. Trocken konstatiert er: "Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee" (X, 540).

Bekanntlich nannte Goethe diese Episode später "Glückliches Ereignis" (X, 538) – nicht etwa, weil Schiller ihn zum Anthropozentrismus bekehrt hätte, sondern weil er ihn veranlaßte, seinen Physiozentrismus zu raffinieren, indem er ihn mit der Transzendentalphilosophie in Übereinstimmung brachte: "Wenn er [Schiller] das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung ansprach, so mußte doch zwischen beiden irgendetwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten!" (X, 541). Eben dieses Vermittelnde findet Goethe in der 'Kritik der Urteilskraft'. "Die großen Hauptgedanken des Werks", sagt er, waren seinem "bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog" (XIII, 27). Und doch veranlaßten sie einen Wandel seines Naturbildes, den ich im folgenden an zwei 'Faust'-Passagen demonstrieren will: den Monologen der Szenen 'Wald und Höhle' und 'Vor dem Tor'.[4] Der eine ist vor, der andere nach dem "glücklichen Ereignis" entstanden.

Beide Monologe zeichnen bestimmte Physiognomien der Naturgeschichte.[5] Das heißt, sie setzen die Erscheinungsformen der Natur in ein Verhältnis zu solchen der Geschichte. Der Gestaltwandel, der sich an einem Vergleich beider Monologe ablesen läßt, partizipiert auf eine spezifische Weise an dem epochalen Transformationsprozeß, den der Begriff der Naturgeschichte im Zuge seiner Verzeitlichung seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durchmachte. Wissenschaftshistorisch ist dieser Transformationsprozeß unter dem Stichwort der Temporalisierung von Thienemann über Lovejoy bis zu Foucault und Lepenies ausführlich dokumentiert worden. Seine ästhetischen Implikationen indessen sind weniger gründlich erforscht. Gerade an ihnen aber sind die entscheidenden Veränderungen der Goetheschen Naturwahrnehmung abzulesen.

 

II.

 

Die frühere der beiden naturgeschichtlichen Physiognomien, der Monolog der Szene 'Wald und Höhle', erschien erst­mals im 'Faust'-Fragment von 1790.

Faust dankt einem "Geist" – offenbar handelt es sich um den Erdgeist –, daß er ihm das Gefühl der Teilhabe an den Naturvorgängen vermittelt:

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

 

Das Gefühl des sympathetischen Mitvollzugs der Naturprozesse ist eine neue Erfahrung für Faust. Denn die erste Begegnung mit dem Erdgeist war an seinem Anthropozentrismus gescheitert: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir!" (V. 511f.), sprach die personifizierte Naturkraft, seine Kopfgeburt, und verschwand. Bei der jetzigen Begegnung aber, die in physiozentrischer Einstellung zustande kommt, läßt ihn der Erdgeist die tiefsten Geheimnisse der Natur schauen. Wie ist diese Verwandlung möglich geworden?

Nun, zunächst einmal hat sich Faust inzwischen verwandelt. Durch Mephistos Hilfe wurde er verjüngt und verliebte sich prompt. Derart vitalisiert, zieht er sich zurück in die Natur und erfährt nun die vorher bloß angemaßte "Kraft, sie zu fühlen, zu genießen". War es in der Beschwörungsszene der Blick eines Allegorikers, der an der Äußerlichkeit seines Naturkonstrukts abprallte, ist es nun der Blick eines Symbolikers, der in den konkreten Erscheinungen der Natur die Verwandtschaft alles Lebendigen – unter Einbeziehung seiner selbst – erkennt. Die vormalige Rivalität mit der schrecklichen "Flammenbildung" (V. 499) ist der Rezeptivität gegenüber einem "Freund" gewichen, der ihn in seinen "Busen" schauen läßt. Daß beides indessen – die Glut des Lebens und die Wärme der Sympathie – Aspekte derselben Naturkraft sind, ist Faust durchaus bewußt: "Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet", sagt er im Rückblick auf die gescheiterte Erstbegegnung mit dem Geist. Das Feuerelement, das er als Verliebter in sich spürt, vermag er aber nun – zunächst jedenfalls – in eine zärtliche Gestimmtheit zu transformieren, die den Betrachtenden und das Betrachtete zu Kommunikationspartnern macht.

Der Monolog, den man auch einen inneren Dialog nennen könnte, markiert in seiner ausdrücklichen Abgrenzung von der Erdgeistbeschwörung ge­radezu dokumenta­risch den Übergang von der Geniepoetik zur Ästhetik des ersten Weimarer Jahrzehnts. Das Gefühl der Naturnähe wird hier nicht durchs identifikatorische Subjekt herbeigezwungen, sondern es stellt sich unwillkürlich ein. Rief Faust zuvor den Erdgeist als Akkusativ-Objekt an ("Enthülle dich!" – V. 476), so empfängt er nun die Naturerscheinungen im sympathetischen Dativ: "du gabst mir"; "hast mir … zugewendet"; "Vergönnest mir"; "führst … Vor mir vorbei"; "schweben mir…" usw. Der Wahrnehmungsvorgang wird dabei niemals auf einen vereindeutigenden "Punkt" gebracht, sondern gleitet assoziativ von einer Ähnlichkeit zur nächsten. Die innere Anteilnahme am Wechsel der Erscheinungen teilt sich der Sprache mit: Sie bildet Synonymketten, die in wechselnden Nuancierungen ihre Semantik entfalten. Fausts Sehen ist einmal ein "Schauen", dann ein "Kennenlernen", dann ein "Gezeigtbekommen", ist "Angesicht", "Blick", "Betrachtung". Die Offenbarungen des Erdgeistes sind ein "Geben", ein "Erlauben", ein "Vergönnen", und die begleitenden Affekte ein "Fühlen", ein "Genießen", ein "Empfinden". Diese kontinuierlichen Sprachverschiebungen qualifizieren die Symbolik des Monologs als metonymisch. Während eine synekdochische Symbolik die Einheit von Bild und Bedeutung dadurch herstellt, daß ein herausgegriffener exemplarischer Fall das Ganze vertritt (pars pro toto), läßt die metonymische Symbolik die Phänomene in ihren nachbarschaftlichen Verhältnissen aufeinander verweisen: Das Bezeichnete wird nicht re-präsentiert, sondern es präsentiert sich im steten Wandel des Bezeichnenden.

Die "Reihe der Lebendigen", die Faust so kennen­lernt, ist mithin vernehmbar als eine sprachliche Reihung. Sie hat keine bestimmbaren Grenzen, findet keinen Ab­schluß in einer festen Bedeutungszuweisung, sondern wird in semantischen Übergängen zuneh­mend erweitert, bis sie sich – im Gestus der schweifend ermüdenden Betrach­terlust – sozusagen ausblendet:

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.

 

Allerdings bleibt es nicht bei dieser ins Undeutliche und Ungewisse reichenden Horizontöffnung. Aus der zerflie­ßenden "Wonne", die Faust "den Göttern nah’ und näher bringt", wird er abrupt herausgerissen durch den Gedanken an Mephisto. Unter dessen "Worthauch" werden die Gaben des Erdgeistes wieder "zu Nichts". Zugleich aber erlebt Faust auch Mephisto als eine der vom Geist empfangenen Gaben, ja der "Gefährte" gehört ausdrücklich "zu dieser Wonne" hinzu. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Ein Blick in den diskursgeschichtlichen Kontext mag darüber näheren Aufschluß geben.

Goethe bekennt in einem Rückblick auf die Zeit seiner Ankunft in Weimar: "Von dem hingegen, was ei­gentlich äußere Natur heißt, hatte ich keinen Begriff, und von ihren sogenannten drei Reichen nicht die geringste Kenntnis" (HA XIII, 149). Das ändert sich in dem Moment, als der Übersiedler durch die beruflichen Aufgaben, die er nun am Fürstenhof übernimmt – unter anderem im Garten- und Bergbau –, mit der zeitgenössischen Naturkunde in Berührung kommt. Vor diesem biographischen Hinter­grund ist auch Fausts Dank an den Erdgeist, die "herrliche Natur zum Königreich" bekommen zu haben, keine bloß meta­pho­ri­sche Aussage. Aus der Perspek­tive des Dichters ist sie metonymisch, da für ihn die Teilhabe am politischen Reich tatsächlich in die Aneignung der Lehre von den Reichen der Natur übergeht. Metonymisch ist auch die Art und Weise, wie Goethe sich mit der naturwissenschaftlichen Terminologie seiner Zeit vertraut macht. So schildert er den anmutigen Eindruck, "wenn ein schmucker Land­knabe, im kurzen Westchen, daherlief, große Bündel von Kräutern und Blumen vor­weisend, sie alle mit Namen, griechischen, lateini­schen, bar­barischen Ursprungs bezeichnend; ein Phänomen, das bei Männern, auch wohl bei Frauen, vielen Anteil erregte" (154). Die rigiden Raster naturwissenschaftlicher Klassifikation werden hier durch Sprachvergleiche relativiert und die Phänomene durch den poetischen Kontext beseelt.

Fausts Monolog beschreibt einen ähnlich gearteten Lernvorgang. Nicht objektivie­rend wie die "kalt staunenden" Beobachtungen eines Taxonomen, sondern sich ihren Wirkungen überlassend, schaut er in die Natur. Seine Rede von der "Reihe der Lebendigen" spielt durchaus auf eine Systema­tik an, nämlich auf die "Kette der Wesen", die bis in die Naturgeschichten des 18. Jahrhunderts von maßgeblicher Bedeutung war. Goethe aber legt sie anders aus als die Standardwerke seiner Zeit. Der naturfor­schende Dichter bemüht sich, über die statischen Klassifikationen, ihr "scharfes … Absondern" (582)[6] dadurch hinauszu­gelangen, daß er alle Glieder dieser Kette als Übergangsformen in einer gemeinsamen Dynamik begreift. So kommen die drei Naturreiche zwar in Fausts Monolog separat zur Sprache; doch als seine "Brüder" erkennt er sowohl die Vegetabilia und Animalia "Im stillen Busch, in Luft und Wasser" wie auch die Mineralia, die "Felsenwände", die ihm von den Geistern der "Vorwelt" beseelt erscheinen. Damit setzt er sich über die klassifikatorischen Grenzen hinweg, die Linné festgelegt hatte. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Erdgeistes haben allemal Teil an derselben Lebensbewegung, die in Fausts Sprachverschiebungen zum Ausdruck kommt. Sie dienen nicht nur der objektivierenden Umschreibung, sondern in ihrer Modifikation drückt sich die erlebende Anteilnahme des Subjekts aus. Im subjektiven Mitvollzug des objektiven Geschehens wird eine Form der Zeitlichkeit erfahren, bei der sich Innen- und Außenaspekte zwanglos verbinden.

Dies ist nicht nur ein poetisches Modell für Goethe, sondern zugleich wissenschaftliches Programm, das er größten Exaktheitsansprüchen unterstellt. Ja, er verteidigt in seinem Namen die "mathematische Methode"; sie könne – wie er in dem Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt betont – "nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden". Denn die "Materialien", so fährt er fort, "müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein" (20). Doch "in Reihen" – das heißt für Goethe eben nicht: in einer fixierten Systematik. Anders als Linné sucht er nicht eine festgefügte Terminologie, sondern eine, die sich mit ihrem Gegenstand beständig weiterentwickelt. Goethe schreibt: "Da alles in der Natur, be­sonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe. … Die Vermannigfaltigung eines jeden Versuches ist also die eigentliche Pflicht des Naturforschers." Da nun Goethe zufolge davon auszugehen ist, "daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe in irgendeiner Sache abzuschlie­ßen" (17f.), müssen mit den Beobachtungen auch die Begriffe sich fortwährend modifizieren.

Die prinzipielle Unabschließbarkeit der metonymischen Symbolik hat also ihr theoretisches Pendant in einem modifizierten Konzept naturwissenschaftlicher Rei­henbildung. Die Naturphänomene werden nicht endgültig erklärt, son­dern in einem unendlichen hermeneutischen Prozeß immer wieder neu gedeutet. Die Erwartung freilich, daß damit das Verstehen der Naturvorgänge zunehmend vertieft werde, ist aus diesem Ansatz allein nicht zu rechtfertigen. Er setzt voraus, daß die sprachliche Reihenbildung des Naturforschers und die "Reihe der Le­bendigen" korrespondieren. Faust ver­traut darauf, daß seine Beobachtungen die Naturvorgänge adäquat wiedergeben.

Will man diese Position auf einen erkenntnistheo­retischen Begriff bringen, so bietet sich der des naiven Realismus an, der gemeinhin als eine "Einstellung" beschrieben wird, "in der die Inhalte der Wahrnehmung und das Ansichsein des Wahrgenommenen identifiziert … werden" (HistWbPhil, Bd. 8, Sp. 160). Goethe selbst bestätigte in diesem Sinne Schillers Etikettierung vom "naiven Dichter": er habe, sagt er, bis zu seiner Kantlektüre Subjekt und Ob­jekt "niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über die Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbe­wußter Naivetät und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen" (26f.). Im Kontext der neueren Debatte zur Naturästhetik ließe sich analog von einem naiven Physiozentrismus sprechen, der aus dem Vertrauen in die Existenz der von ihm geltend gemachten Naturbegriffe die normative Grundlage ableitet, an denen sich das Subjekt orientieren kann.

Goethes Vertrauen in die Möglichkeit einer Wesenserkenntnis der Natur drückt sich am deutlichsten in seiner Abhandlung Über den Granit aus, die mit Fausts Monolog in einer engen Verbindung steht. Wie dieser in intimer Zwiesprache dem "erhabnen Geist" für die Selbstoffenbarung dankt, die er ihm vergönnt, so schildert der Granit-Aufsatz "die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Na­tur gewährt". Was hier als Bedingung genannt wird: ein Mensch, "der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will" (255), ist dort eingelöst durch einen Faust, der erfährt, wie seiner "eignen Brust / Geheime tiefe Wunder (sich) öffnen". Das Subjekt wird – so wiederum der Aufsatz – in dem "Augenblicke, … da die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben, … zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufge­stimmt" und gelangt vom konkreten Naturphänomen zur Versen­kung in ge­schichtlichen Sinn; sie erscheinen ihm als "Denkmäler der Zeit" (255). Äquivok "schweben" auch Faust, der sich "den Göttern nah und näher" fühlt, von Felsenwänden "Der Vorwelt silberne Ge­stalten auf". Auch im Monolog also wird eine Solidität der Natur als Basis unterstellt, die dann deutend über­schrit­ten und neuen Ver­stehenshorizonten geöffnet werden kann. Indem er die Unbewegtheit des Gesteins zur Projektionsfläche geschichtlicher Betrachtungen macht, erscheint ihm dieses selbst als zeitlich: Geschichte steht im Zeichen der Natur.

Bemerkenswert ist nun, daß der Monolog eine Wendung nimmt, die das in betrachtender Versenkung gewonnene Erlebnis verzeitlichter Dauer wieder destruiert. Was den meisten Faust-Kommentatoren so über­ra­schend scheint, daß ihnen zur Begründung nur äußere Faktoren einfallen: der Umschlag des Mono­logs von kontemplativer Ruhe in hekti­sche Erregung, wird im Granit-Aufsatz als theoreti­sche Konsequenz aus­ge­führt: "Ich kehre von jeder schweifenden Betrachtung zurück und sehe die Felsen selbst an … und fast möchte ich bei dem ersten Anblicke ausru­fen: Hier ist nichts in seiner ersten, alten Lage, hier ist alles Trümmer, Unordnung und Zerstörung" (257). Galt der Granit Goethe zunächst als unerschütterlich und vor-geschichtlich, so zeigt er sich nun, da er in die geschichtliche Betrachtung einbezogen ist, als diskontinuierlich. Auch Faust bleibt nicht im Zustand der Ruhe. Seine Kon­templation ist in sich bewegt. Was ihn "den Göttern nah und näher bringt", erweist sich als eine zunehmende Loslösung von dem festen Grund, von dem die Betrachtung ihren Ausgang nahm. Die metonymische "Reihe der Lebendigen", die ob ihrer Unabgeschlossenheit und Fortdauer den Naturgenuß erst ermöglichte, wird nun aus demselben Grund als haltlos und bedrohlich erlebt:

So tauml’ ich von Begierde zu Genuß,
Und im Genuß verschmacht’ ich nach Be­gierde .

 

Was zuvor für ihn ein hermeneutischer Zirkel sukzessiv sich vertiefenden Naturverstehens war, ist ihm nun zum Teufelskreis geworden. Faust beschreibt diesen Umschlag denn auch als eine Wirkung Mephistos. Zugleich ist ihm jedoch bewußt, daß der "Gefährte" ebenso zu den Gaben des Erd­geistes gehört wie die Begierde zum Genuß. Daß Faust dem einen im anderen begegnet, ist der künstlerisch konsequente Aus­druck des erkenntnistheoretischen Problems, das Goethe zu jener Zeit beschäftigte. Der Versuch, das klassifikatori­sche Naturwissen seiner Zeit im Modell eines sich reziprok vertiefenden Dialogs zwischen Subjekt und Objekt zu dynamisieren, verfängt sich in einem Selbstwiderspruch: Das vorausgesetzte Fundament dieser wie jeder Hermeneutik relativiert sich selbst in deren Vollzug.

Das aber ist für Faust unerträglich. Sein "naiver Realismus" sieht sich nominalistischem Zweifel hilflos ausgeliefert, wie das sich anschließende Wechselgespräch mit Mephisto zeigt. Unter dessen "Worthauch" werden die "Gaben" des Erdgeistes "zu Nichts". Er entwertet die geistig "hohe", aber erkenntnistheoretisch haltlose "Intuition" (V. 3291) Fausts wegen ihrer Unbestimmtheit zum leeren "Kribskrabs der Imagination" (V. 3268) und moniert, daß Faust in "stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen" (V. 3288) wolle. Schon dieser Erklärungsdruck führt eine Vernichtung des zuvor erfahrenen Naturgenusses herbei. Dessen flüchtige Qualität verwandelt sich durch die Festlegung auf Ziele und Zwecke von einem erotischen Genießen in ein sexuelles Begehren, den Busen der Natur in einen bloßen Ersatz für den Busen Margarethes – was Mephisto durch "eine unanständige Gebärde" (nach V. 3291) der Masturbation andeutet.

Wenn Goethe seinen Faust derart in Argumentationsnot bringt, so spricht daraus auch ein Bewußtsein der Problematik, die seiner Naturtheorie im ersten Weimarer Jahrzehnt inhäriert: Der naiv-physiozentrische Naturbegriff hält analytischer Kritik nicht stand – er muß letztlich auf eine Emphase rekurrieren, die von der Verständnisbereitschaft des anderen abhängt.

 

III.

 

In diese Situation der Argumentationsnot fällt das erwähnte Gespräch Goethes mit Schiller. Die theoretischen und poetischen Konsequenzen dieses Gesprächs zeigen sich prägnant im ersten Monolog der Szene 'Vor dem Tor'. Er enstand um die Jahrhundertwende, also zeitlich nach dem Monolog in Wald und Höhle. geht ihm aber im dramatischen Ablauf voraus. Der Osterspaziergänger Faust ist hier noch der Gelehrte, der gerade zum ersten Mal im Verlauf des Dramas seine Stube verlassen hat. Er führt Wagner durch die frühlingshafte Landschaft auf einen Hügel und beschreibt ihm von dort oben die Szenerie des aufkeimenden Lebens in der Natur:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück.

 

Den Vorgängen in der Landschaft korrespondieren – aus der eingenommenen Vogelperspektive jedenfalls – die Feiertagsaktivitäten der Menschen. Wagners Blick wird entsprechend gelenkt:

Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstren Thor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feyern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden.

 

Das Leitmotiv von Aufbruch und Auferstehung, das die Sphären von Natur und Gesellschaft über die gemeinsame Formel "Bildung und Streben" miteinander verbindet, hat symbolischen Charakter: Es bezeichnet konkrete Phänomene und zugleich höhere Ideen. Diese Übereinstimmung von Bild und Bedeutung beruht nun aber – anders als im Monolog Wald und Höhle – nicht auf inneren Verwandtschaften, sondern auf äußeren Analogien, die ihrerseits durch die Parallelität kontrapunktischer Entgegensetzungen gestiftet werden: Der Bildungsvorgang der Natur ergibt sich aus dem Widerstreit zwischen winterlicher Erstarrung und frühlingshaftem Aufbruch, Kontraktion und Expansion, Schneedecke und Sonnenlicht. Dieser Vor­gang nun spiegelt sich – mit derselben kontrapunktischen Struktur – im Bereich der Gesell­schaft: Auch die Bürger der Stadt stehen in der Polarität zwischen "Gewerbesbanden" und Freizeit, strömen aus der bedrücken­den "Enge" der Stadt ins Weite der Landschaft, aus dem "finstren Thor" "ans Licht" des sonnigen Sonntags. Faust be­schreibt die Phänomene der Natur so, daß sie in ihrer äußeren Erscheinung Vorgängen des gesellschaftlichen Lebens entsprechen: Wie der Frühling alles "mit Farben beleben" will, so haben die Menschen an diesem Tag neue, "farbige Kleider" angelegt. So, wie die Sonne den dunk­len Winter vertreibt, so überwinden an diesem Tag die Bür­ger der Stadt die Düsternis ihrer Le­bensverhältnisse. Umgekehrt bildet das Strömen der "Menge", die sich "Durch die Gärten und Felder zer­schlägt", eine Analogie zum Flußlauf.

Die hier zugrundegelegte Symbolik ist als synekdochisch zu charakterisieren. Faust bildet keine metonymischen Assoziationsreihen, sondern er nimmt einzelne Erscheinungen nach dem Prinzip des "pars pro toto" als Repräsentanten allgemeiner Ideen. Die synekdochische Symbolik ist damit notwendig weit weniger nah an den Phänomenen. Fausts Blick kommt aus "Höhen", von denen er die Erscheinungen nicht sequentiell, in Reihen, sondern global, als einen umfassenden Gesamteindruck, wahrnimmt. Dadurch erst kann das Einzelne zum Repräsentanten des Ganzen werden. Da Faust die Szenerie souverän von oben überschaut und wie ein Maler die Per­spektiven arrangiert, kann er Partikulares, das für sich genommen zufällig, bedeutungslos wäre, in den kompositori­schen Gesamtkon­text einbetten. Er sieht die Natur nicht in einzelnen Individuen, sondern in Konturen, Linien und Koloriten: Sie sendet "Streifen über die grü­nende Flur", ergießt sich als Fluß in "Breit und Länge" und nimmt "geputzte Menschen"als blinkende Farbtupfer.

"Indem der Künstler", schreibt Goethe in seiner Einleitung in die Propyläen, "irgendeinen Gegen­stand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen: daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interes­sante abge­winnt oder viel­mehr erst den höheren Wert hineinlegt" (HA XII, 46). Nach dieser Maxime ist auch die Symbolik des 'Osterspaziergangs' gearbeitet. Es ist Fausts idealisierender Blick, der in die Naturerscheinungen "erst den höheren Wert hineinlegt"; er gibt die symbolischen Gehalte selbst vor, indem er sie ausspricht: "Bildung und Streben", "Auferstehung", "Mensch … sein" werden als solche benannt. Das Bezeichnete, mit dem das Bezeichnende übereinstimmen soll, wird apriorisch vorgegeben. Wie auch könnten sonst die geschilderten Gesellschaftsphänomene mit ihrem von Verstädterung, Zunftordnung und profanisierter Glaubenskonvention bedingten Feiertagsjubel natürlichen Rhythmen gleichgesetzt werden?

Diese, den Physiozentrismus unterminierende Frage beschäftigte Goethe, als er 1797 seine Vaterstadt Frankfurt besuchte. Die bürgerlichen Lebensverhältnisse erschienen ihm mittlerweile als so weitgehend von Abstraktionen bestimmt, daß sie eine symbolische Darstellung nach dem antiken Vorbild der Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Idee kaum noch zuließen. Ich kann hier auf die breite, von Heinz Schlaffer eröffnete Diskussion des  "Symbolbriefs" an Schiller vom 16. August nicht näher eingehen und beschränke mich auf Goethes Kernaussage: Auch in der bürgerlichen Gesellschaft gibt es symbolische Gegenstände, nämlich solche, die als "eminente Fälle" eine Totalität anschaulich zu repräsentieren vermögen.

Die Szenerie des 'Osterspaziergangs' ist entsprechend ausgewählt. Sie greift einen eminenten Fall des bürgerlichen Lebens heraus, den Ostersonntag, der sich durch das Auferstehungsfest und das anschließende Feiertagsvergnügen mit dem Bild der frühlingshaft aufbrechenden Natur organisch verbinden läßt.

Freilich erst durch das Blickfeld-Arrangement Fausts. Und auch das nur durch das Hineinlegen subjektiver Deutungsvorgaben. Während der nüchterne Wagner nur ein "Schreien" (V. 945) ver­nimmt, hört Faust zufriedenes "Jauchzen"; während der eine "des Dorfs Getümmel" zu "allem Rohen" (V. 944) rechnet, ist es für den anderen "des Volkes wahrer Himmel".

Auch hier haben wir nach dem diskursgeschichtlichen Hintergrund der Darstellungsform zu fragen. Goethes klassische Symbolkriterien – Totalität, Repräsentanz und Anschaulichkeit – benennen Grundzüge seiner wissen­schafts­theoretischen Entwicklung in den 90er Jahren: Erstens die Anerkennung des Kantschen Arguments, daß eine Totalität nur im Sinne der kritischen Transzendentalphilosophie "angeschaut" werden kann; zweitens die Erweiterung dieses Arguments im Sinne Schellings, dessen objektiver Idealismus den Vollzügen des transzendentalen Ich eine Repräsentation der Wirklichkeit zuschreibt; drittens schließlich die Rückführung der bei Schelling spekulativ konzipierten intellektuellen Anschauung auf die konkret-sinnliche Wahrnehmung der Urphänomene. Diese drei Entwicklungsschritte seien im folgenden nur an einigen ausgewählten Beobachtungen demonstriert.

 

1. Fausts Blick verhält sich zu den Ge­gen­ständen so konstitutiv wie Kants transzendentales Subjekt. Er gibt die Begriffe vor, nach denen die Wahrneh­mung strukturiert ist: "Frühling" und "Winter", "Revier", "Handwerks- und Gewerbesbanden", "die Menge", "das Volk" sind als solche nicht sichtbar; Fausts Bezeichnungen bestätigen somit Kants Grundsatz, demzufolge Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Das transzendentale Subjekt erhält dadurch eine Vorrangstellung gegenüber den von ihm konstituierten Objekten.

Fausts Position auf dem Hügel ist sinnbildlicher Ausdruck jenes anthropozentrischen Standpunktes, "der dem Menschen am meisten Ehre macht" (HA XII, 27) – wie Goethe die von ihm geteilte Auffassung der Kantianer umschrieb: Fausts Sehen beruht auf einem Wissen. Insofern ist auch der Jubelsatz "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein", den er dem Volk zur Krönung seines Monologs in den Mund legt, ein synthetisches Urteil a priori: Faust hat es sich gebildet, bevor er nahe genug herangekommen ist, um mehr als nur ein Stimmengewirr vernehmen zu können. Der Jubel ist sein eigener – nicht als der eines Menschen, der mitfeiert, sondern eines, der als Erkennender souverän darüber steht.

Darin äußert sich Goethes Wechsel vom naiven zu einem kritischen Realismus, freilich in dem erweiterten, über Kant schon hinausweisenden Sinne einer Position, bei der "im Durchgang durch erkenntniskritische Erwägungen und in Rücksicht auf die Phänomenalität des Gegebenen ein wie auch immer eingeengter Zugang zum Ansichseienden gesucht wird, wo sozusagen eine Synthese von Erkenntnistheorie und Ontologie angestrebt wird" (HistWbPhil, Bd. 8, Sp. 159). Eben dieses Bestreben ist auch Fausts Monolog anzumerken: Zwar ist es seine Regie, die Wagners Blick auf die Szene steuert und das Geschehen arrangiert. Aber er ist zugleich bemüht, seine konstitutiven Akte ins Objekt zu verlegen und so die physiozentrische Perspektive zu bewahren. So geschieht etwa die Eisschmelze nicht  durch seinen, sondern "Durch des Frühlings holden belebenden Blick". Philosophischen Rückhalt hierfür findet er bei Schel­ling.

 

2. Schelling suchte den reflexionsphilosophischen Dualismus zu überwinden, mit dem Kant die Erkenntnis auf die Kategorien transzendentaler Subjektivi­tät re­duziert und das Ding an sich außerhalb ihres Fokus gerückt hatte. Seine Naturphilosophie kulminiert in einem Identitätskonzept: "Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absolu­ten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen"[7]. Durch seinen Umgang mit Schelling gelangt Goethe zur objektiv-idealistischen "Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur", wie er es nennt, nämlich "Polarität" und "Steigerung"; die Polarität sei "der Materie, inso­fern wir sie materiell, (die Steigerung) ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in im­mer­wäh­rendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht neh­men läßt, anzuziehen und abzustoßen" (HA XIII, 48).

Nach diesem Modell einer Steigerung aus Polaritäten ist auch der 'Osterspaziergang' konzipiert. Auch hier wird die Natur zunächst "materiell" – in den Polaritäten von Winter und Frühling, Kontraktion und Expansion, Finsternis und Licht – wahrgenommen, um daraus "geistig gesteigert" hervorzugehen: als Manifestation neuen Lebens im Modus von "Bildung und Streben". Dieser Modus verbindet organisch die Sphäre der Natur mit der der Menschen, die das­selbe Gesetz wiederum auf höherer Ebene realisieren: auch sie ste­hen in polari­sier­ten Lebensverhältnis­sen – Stadt und Land, Arbeit und Freizeit –, aus denen sie am Ostertag "auferstanden" sind.

Dies jedoch nur unter einer philosophischen Perspektive, die die entsprechenden Synthesen vollzieht. Fausts Monolog aber erhebt gleichzeitig den Anspruch einer nicht nur intellektuellen, sondern unmittelbaren Anschauung der Identität von Geist und Materie. Der belebende "Blick" des Frühlings ist für ihn nicht nur ein Anthropomorphismus, sondern zugleich eine objektive Eigenschaft der Natur.

 

3. Goethe benutzt die Identitätsphilosophie gleichsam nur als Leiter, um zur reinen Anschauung der Urphänomene auf­zusteigen. Sie sind für den  Natur­forscher die "Grenze seiner Wissenschaft" (483), da sie sich nicht weiter ableiten lassen. Sie können nur im aktualen Vollzug des Schauens wahrgenommen werden. Die dadurch gestiftete Verbindung von ästhetischer Wahrnehmung und naturwissenschaftlicher Erkenntnis bringt Goethe paradigmatisch zum Ausdruck im Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen, das den Naturvorgang einer mitvollziehenden Anschauung erläutert: "Werdend betrachte sie nun …, Immer staunst du aufs neue, … Wende nun, o Geliebte, den Blick …" (HA I, 199 ff.). Der 'Osterspaziergang' beruht auf derselben Struktur. Auch Faust will zum eigenen, aktiven Anschauen anregen. Mit Formulierungen wie: "Kehre dich um, von diesen Höhen / Nach der Stadt zurück zu se­hen" oder "Sieh nur sieh!" lenkt er Wagners Blick auf die Analogien in Natur und Gesellschaft, um sie als Urphänomene kenntlich zu machen, d. h. als konkrete Erscheinungen, die nur im "Hier" des erlebten Augenblicks wahrnehmbar sind.

Insofern löst der 'Osterspaziergang' das Problem, das in Wald und Höhle offen bleibt: Die Temporalität der Natur, die dem naiven Realisten durch beständige metonymische Verschiebungen sozusagen außer Kontrolle gerät, wird hier durch das konstitutive Subjekt gebändigt und überschaubar gemacht. Steht dort die Geschichte im Zeichen der Natur, so steht hier die Natur im Zeichen der Geschichte: Für den Faust des 'Osterspaziergangs' ist eine geschichtliche Sinnsetzung die Grundlage seiner Naturwahrnehmung, die er aber gleichwohl in eine physiozentrische Perspektive rückt, so daß sie selbst aus einer naturimma­nenten Gesetzlichkeit hervorzugehen scheint.

Auch hier indessen finden wir eine bemerkenswerte innere Widersprüchlichkeit, die die gefundene Lösung ästhetisch diskreditiert. Der 'Osterspaziergang' kehrt die selektiven kompositorischen Arrangements derart aufdringlich hervor, daß sie sich als Hilfskonstruktionen zu erkennen geben und somit Zweifel an der beschriebenen Versöhnung von Natur und Geschichte wecken. Die Willkür der Harmonisierungsleistungen zeigt sich schon in der autoritär dozierenden Geste, mit der Faust von seinem Hügel Wagners Blicke und Bewegungen lenkt. Sie zeigt sich aber auch in der Konventionalität der Bilder, die Goethes eigenen Symbolkriterien widerspricht, was insbesondere an dem Vers "Im Tale grünet Hoffnungsglück" deutlich wird – einer psychophysischen Kombination, die von Goethes Farbsymbolik ausdrücklich als allegorischer Gebrauch der Farbe gerügt wird: "Bei diesem", schreibt Goethe, "ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen Konventio­nelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es bedeuten soll; wie es sich z. B. mit der grünen Farbe verhält, die man der Hoffnung zugeteilt hat" (520).

Die allegorischen "Schönheitsfehler" in der Symbolik des 'Osterspaziergangs' dekonstruieren das Modell einer prästabilierten Harmonie von naturhaften und geschichtlichen Prozessen, denn sie legen die Hilfskonstruktionen frei, mit denen das hier bereits anachronistisch gewordene Bild der Versöhnung von Natur und Geschichte künstlich zusammengehalten werden muß.

Indem Goethe diese Problematik zur Darstellung bringt, erweist er sich als ein kritischer Physiozentriker. Er entlarvt die anthropozentrische Naturethik als eine Selbstgefälligkeit, die nicht wahrhaben will, daß sie den Phänomenen Gewalt antut. Gleichzeitig verzichtet er darauf, seine physiozentrische Alternative mit positivem Inhalt zu füllen. Die Idee einer von menschlichen Zwecken unversehrten Natur artikuliert er einzig dadurch, daß er die Willkür kenntlich macht, die ihr im Namen der Geschichte eingeschrieben wird.

Eine Naturästhetik, die hinter dieses historisch erreichte Niveau eines kritischen Physiozentrismus zurückfällt, kann ihrem Begriff nicht gerecht werden.

 



[1] Ruth und Dieter Groh: Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt. In: Merkur 11 (1993), S. 965–979, S. 967.

[2] A.a.O., S. 979.

[3] Goethe wird zitiert nach der Hamburger Ausgabe (HA): Werke in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz; München 1948–60. Briefe werden nur mit Datum belegt.

[4] HA, III, V. 3217–3250 bzw. V. 903–940. Da es sich um kurze Textstücke handelt, die leicht zu überblicken sind, verzichte ich im folgenden bei Zitaten aus den beiden Monologen auf einzelne Versangaben.

[5] Vgl. hierzu ausführlich: Peter Matussek: Naturbild und Diskursgeschichte; Stuttgart 1992.

[6] Aus dem später überklebten Passus von Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit; zit. nach HA XIII, S. 582.

[7] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft. In: ders.: Ausgewählte Schriften; 6 Bde. Frankfurt am Main 1985, B.1, S. 245–294. Hier: S. 294.