Peter Matussek

Ambivalente Komplimente.

Zur Gretchentragödie in Goethes Faust

 


Erschienen in: Das Magazin – Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 3 (1993), S. 18–19.

 

     
 

Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Uebelthäter. Sollte dies wirklich der grösste deutsche 'tragische Gedanke' sein, wie man unter Deutschen sagen hört? (Nietzsche)

 

Das gelehrte Übermenschentum bekam schon immer einen steifen Nacken, wenn es galt, auf die Niederungen des Gretchenschicksals hinabzublicken. Noch heute wissen die Faustforscher nicht so recht, worin er eigentlich besteht, der „tragische Gedanke“. Sie ahnen nur, daß die alten Erklärungen überholungsbedürftig sind – Erklärungen, die noch aus der Zeit des kalten Geschlechterkrieges stammen. Auch in diesem Krieg war Deutschland geteilt

Die Lösung Ost sah vor, „daß in Gretchens Opfergang, den Faust nur mitempfindend verfolgen, aber nicht aufhalten kann, die tiefe historische Wahrheit zum Ausdruck kommt, nach der sich der Aufstieg der Menschheit in dieser Epoche der Geschichte unter der Führung des männlichen Teils vollzieht. Die Opferung der Frau ist aber die tragische Bedingung dafür, daß der Mann die führende Kraft der geschichtlichen Entwicklung sein kann." Es mußte sein – für das Plansoll der Weltgeschichte.

Im Westen sah man das relaxter. „Fausts ‚Liebesentwurf‘“ – so das wirtschaftsliberale Kalkül – ziehe eben die üblichen Folgekosten nach sich: „es sind die Stadien, die das erotische ‚Objekt‘, einmal verführt und sich überlassen, zu durchlaufen pflegt“. Mehr konnte man über dieses „Objekt“ leider nicht aussagen: „Da Gretchen nicht eigentlich Individuum ist, entzieht sie sich letztlich auch der psychologischen Analyse.“ Jedenfalls mußte es sein – für die Freiheit des „Liebesentwurfs“.

Mußte es sein? Verlangt der „Aufstieg der Menschheit“ wirklich die Verführung Minderjähriger? Und seit wann „pflegt“ enttäuschte Liebe in Verbrechen und Wahnsinn zu enden? Dies zu überdenken, bleibt einer gesamtdeutschen Faust- und Frauendeutung vorbehalten. Die gegenwärtige Revision gescheiterter Ost-Pläne und überteuerter West-Entwürfe schärft die Aufmerksamkeit für die Benachteiligten. Also vielleicht auch für das Individuum Gretchen, das Opfer einer sexuellen Belästigung, dem die Treuhand verweigert wurde. Hierzu bedürfte es freilich doch der Psychologie. Und die gilt Philologen als banausisch.

Aber es muß sein. Um zu begreifen, daß die Entindividualisierung Margarethes nicht das Werk Goethes ist, sondern dasjenige Fausts. Um zu erkennen, daß er die zum „unschuldig Ding“, zum „Geschöpfchen“, zur „Puppe“ Depersonalisierte in den Wahnsinn treibt. Um schließlich darüber zu staunen, daß Goethe vor 200 Jahren bereits ein Phänomen beschrieb, das die psychiatrische Forschung erst heute zu entdecken beginnt: die Bedeutung beschämender Ereignisse für die Auslösung einer Psychose.

„Beschämt nur steh' ich vor ihm da, / Und sag' zu allen Sachen ja. / Bin doch ein arm unwissend Kind, / Begreife nicht, was er an mir find't." So reagiert Margarethe auf Fausts erste Flirt-Übung. Was er an ihr „find't“, das kann sie nicht begreifen, denn Faust liebt nicht sie, sondern das Bild, das er sich von ihr macht. Der narzißtisch Kontaktgestörte (der z.B. in ihre Schilderung häuslicher Not völlig unpassend einwirft: „Du hast gewiß das reinste Glück empfunden“) bekräftigt mit seiner Anhimmelei lediglich die eigene Grandiosität. Seine Komplimente sind deshalb ambivalent – ihre expliziten Überhöhungen beruhen auf impliziten Demütigungen: Schon die Anrede als „Fräulein“, damals ein Adelsprädikat, zwingt die Bürgerliche zum Dementi. Angesichts des opulenten Goldgeschenks kann sie nur seufzen: „Ach wir Armen!“ Und konfrontiert mit seiner selbstgefälligen Galanterie bleibt ihr nur das Eingeständnis: „Ich fühl' es wohl, daß mich der Herr nur schont, / Herab sich läßt, mich zu beschämen […] Ich weiß zu gut, daß solch erfahrnen Mann / Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann.“ Der Charmeur bestätigt ihre Naivität mit der peinlichen Versicherung: „Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält / Als alle Weisheit dieser Welt.“ Indem er dabei ihre Hand küßt, die von der groben Arbeit „garstig“ und „rauh“ ist, nimmt er ihr mit dem intellektuellen zugleich das körperliche Selbstvertrauen.

Da kann frau sich nur noch verkriechen wollen. Aber wo? Ihr im spießigen Überwachungsmilieu ohnehin eingeschränkter Privatraum wird unter Fausts Zudringlichkeiten unerträglich „eng“. Und das Bißchen an öffentlicher Statussicherheit, das ihre „kleine Welt“ verlieh, macht seine Weltläufigkeit zunichte. An dieser Dilemmatik wird sie irre: „Mein armer Kopf / ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / ist mir zerstückt."

Der Riß vertieft sich, als er ihre „Gretchenfrage“ nach seiner Ehebereitschaft mit rhetorischer Brillanz unterläuft. Daß er sich Intimität nimmt, ohne Stabilität zu geben, ist in ihrem Milieu die äußerste aller Beschämungen. Sie zwingt zur Abspaltung des diskreditierten öffentlichen Selbst von einer Privatheit, die sich nicht mehr zeigen darf. „Verbirg dich! Sünd' und Schande / Bleibt nicht verborgen“, flüstert der „böse Geist“ – die halluzinierte Wahnstimme ihrer veräußerten Identität.

Stimmen verfolgen sie bis ins Dunkel ihrer Kerkerisolation: „Sie singen Lieder auf mich! Es ist bös von den Leuten!“ Doch dann verstummen sie. Zwar drängen die bösen Mächte in einer weiteren Wahnwahrnehmung zu ihrer Hinrichtung heran. Aber „man hört sie nicht“. Mit der Verschiebung von der (immer noch selbstbezüglichen) akustischen zur (unpersönlichen) optischen Halluzination ist sie die Qual der Scham endlich los – sie hat keine Verbindung mehr zu der beschämten Identität: „Stumm liegt die Welt wie das Grab!“

Während Magarethe im Kerker bleibt, weil sie dem Kerker ihrer Seele nur noch durch das „Gericht Gottes“ entrinnen kann, schert Faust sich zum Teufel und macht Karriere.