Peter Matussek/ Klaus Michael Meyer-Abich

Skepsis und Utopie.

Goethe und das Fortschrittsdenken

 


Erschienen in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 185–207.

 

     
 

Hinweis: Im folgenden wird nur der von mir verfaßte Textteil wiedergegeben. (PM)

 


3. Das Fortschrittsthema als künstlerisches Problem

 

Unter den Werken Goethes sind insbesondere die "Wanderjahre" und der "Faust II" immer wieder als Ratgeber für das rechte Fortschrittsbewußtsein herangezogen worden. So etwa vom ersten deutschen Reichspräsidenten in seinem Plädoyer für einen demokrati­schen Neubeginn: Nach dem Ersten Weltkrieg beschwor Friedrich Ebert den "Geist von Weimar", der "die großen Gesell­schaftsprobleme" so behandeln müsse, wie "Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren er­faßt" habe; d.h. nach der Devise: "mit klarem Blick und fester Hand ins praktische Leben hineingreifen!"[1]

Der gutgemeinte Appell verfehlte sein Ziel. Aber war nicht schon seine Berufung auf Goethes Werke verfehlt?

Der "Faust"-Schluß - das hat die Rezeption erst spät, dann aber um so nachdrücklicher hervorgehoben - ist höchst ambivalent. Zwar wird hier eine Sozialutopie verkündet, dies jedoch von einem störrischen Greis, dem jede Repressalie recht ist, um sein Pro­jekt voranzutreiben, und der in seiner Verblendung nicht merkt, daß man ihm nur das eigene Grab schaufelt. Fausts Vision vom freien Volk auf freiem Grund ist eine abso­lutistische Vision; sie legitimiert durch die stete Präsenz der äußeren Gefahr das Gewaltmonopol des einzelnen, der alle unter sein Kommando bringt. Das idyl­lische Mo­tiv des Miteinanders von Mensch und Herde (V. 11 565)nimmt in diesem Kontext Reklamecharakter an; mit dem Versprechen neuer Natürlichkeit wirbt es für ein Indu­strieprodukt - vergleichbar dem notorischen Präfix "Bio-" auf vielen heutigen Kon­sumgütern. Die Proklamation des Fortschritts[2] steht hier im Zeichen der "tragischen Ironie"[3], daß sie ihr eigener Nekrolog ist.

Und wie verhält es sich mit den "Wanderjahren"?[4]Auch hier werden keine Lösungen angeboten, sondern Widersprüche vertieft. Als Reaktionsmöglichkeit auf das "überhandnehmende Maschinenwesen" bietet der Roman explizit nur die schlechte Alternative von Mitmachen oder Auswandern.[5]Der Leser, der nach einer praktikablen dritten Möglichkeit sucht, wird in ein geradezu peinigendes Spiel angekündigter und dann doch ausbleibender Aufklärungen gezogen - durch einen Erzähler, der sich ständig relativiert, ja zurücknimmt, und der just in dem Moment, als sich mit dem Öffnen des Kästchens das Rätsel erschließen soll, innehalten läßt mit der Verfügung, an solche Geheimnisse sei nicht gut rühren (S. 458). Die Kunst hat auch hier nicht die Funk­tion, das veloziferische (S. 289) Auseinanderdriften von Denken und Tun in einer neuen Synthese aufzuheben, sondern auf die Stolpersteine (S. 460) aufmerksam zu machen, die einer solchen Synthese im Wege stehen.

Goethes Werke geben keine Handlungsanweisungen. Sie bieten keine Lösungen, sondern insistieren auf dem Rätsel. Sie illustrieren keine Wahrheiten, sondern sie irri­tieren die Selbstgewißheit ihrer Apologeten. Parteilichkeit, heißt es in der "Campagne in Frankreich", sei zwar für den politisch Handelnden von Vorteil, nicht aber für den Dichter; dieser - schreibt Goethe 1822- sucht sich von den Zuständen beider kämpfender Theile zu durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muß, tragisch zu endigen.[6]

Nun meinte Goethe zwar in einem anderen Zusammenhang, er sei nicht zum tragi­schen Dichter geboren, da seine Natur zu konziliant sei.[7]Und wir werden darauf zu achten haben, worin diese Konzilianz besteht. Jedenfalls verträgt sie sich erstaunlich gut mit der Maxime, die Goethe in seiner klassischen Faust-Konzeption notierte: Die Wider­sprü­che statt sie zu vereinigen disparater zu machen.[8]

Was bedeutet dieses Verfahren nun für die Fortschrittsthematik? Wir wollen das an zwei Verarbeitungen des Prometheus-Motivs aus verschiedenen Schaffensphasen untersuchen: der Erdgeistbeschwörung aus dem "Faust" und dem Verhältnis der beiden Protagonisten in der"Pandora".

 

 

3.1 Autonomie und Automatismus. Die Erdgeistbeschwörung

 

 

Die Wider­sprü­che statt sie zu vereinigen disparater zu machen - das "Faust"-Paralipo­menon bezieht diese Maxime auf die Erdgeistszene und konkretisiert sie hier als Streit zwischen der Form und dem Formlosen. Faust gibt den Vorzug dem form­losen Gehalt vor der leeren Form. Denn das formelhafte Wissen ist ihm suspekt, bloßes Schauspiel (V. 454), das er im Interesse unmittelbar existentieller Natur­erfahrung hintertreiben möchte.

Stichwortgeber zu diesem Typ der Fortschrittskritik ist Goethes Straßburger Mentor Herder. Er hält dem aufklärerischen Perfektibilismus, der stets "mit der Lieblingsidee auf der Fahrt" sei, entgegen, daß der wirkliche "Plan des Fortstrebens"[9] nur dem erkennbar sei, der im Einklang mit den schöpferischen Naturkräften stehe. Vorausset­zung hierfür sei der kreative Selbstausdruck, der dem Individuum die Autonomie zurückgebe, die in den Regularitäten der aufklärerischen Schulphilosophie gleichsam un­ter die "Räder" gekommen sei.[10]

Autonomie statt Automatismus - diese Kontradiktion, in der sich Herders Position zusammenfassen läßt, geht als ein Zentralmotiv in das Werk des jungen Goethe ein. Mit der künstlerischen Autonomieerklärung, die er in der Prometheus-Hymne voll­zieht, opponiert er gegen die mechanistischen Natursysteme der Zeit, bei deren Lektüre ihm nach eigenem Bekunden zu Mute war, als wenn man zwischen den unzähligen beweg­ten Spulen und Weber­stühlen einer großen Fabrik hingeht.[11]

Wie der Prometheus des berühmten Gedichts, der stolz auf sein Heilig glühend Herz verweist, das alles selbst vollendet[12] habe, so ist auch der Erdgeistbeschwörer ein Selbsthelfer, der nicht mit Rad und Kämmen, Walz' und Bügel (V. 669) der Natur zu Leibe rückt, sondern sie in ihrer Totalität kraft autogener Emphase hervorbringt.[13]

Doch wie sieht das Gebilde aus, das dieser prometheische Faust im alchemistischen Ritual herbeiruft und dem er als Naturwesen zu gleichen beansprucht? Erstaunlicher­weise hat es gerade die Attribute, an denen der junge Goethe auch die Mechanisie­rungstendenz seiner Zeit festmachte: In einer merkwürdig abstrakt gehaltenen, geradezu maschinenartig rhythmisierten Sprache beschreibt der Erdgeist sein Leben als unspezi­fisches auf und ab und hin und her. So, resümiert er, schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid (V. 502-509).

Auch wenn die "Faust"-Philologen an dieser Stelle gewöhnlich ins Schwärmen geraten über das Natursymbol des Webens bei Goethe, darf doch der offenbar ganz bewußt inszenierte allegorische Bildbruch nicht schöngeredet werden, der den Erdgeist, den Inbe­griff schöpferischer Naturkräfte, mit einer mechanischen Apparatur vergleicht. Bedeu­tet dies nun, daß wir dem Erzpositivisten Hermann von Helmholtz folgen müssen, der fast der einzige ist, der in Goethes Erdgeist eine "allegorische Figur" erkennt, und zwar die Allegorie eines Grundprinzips der Mechanik, des Gesetzes von der Erhaltung der Energie?[14]Und ist es mehr als eine aufgesetzte Aktualisierung, wenn Dieter Dorns Faust-Inszenierung den Erdgeist - unter Verwendung einer stark vergrößerten Teufelsmaske - als gigantischen Androiden auf die Bühne bringt?

Die Webstuhl-Metapher ist hier weder als ein organizistisches Symbol noch als eine mechanistische Allegorie ganz zu fassen, sondern sie oszilliert zwischen beiden Bild­typen und bringt so die vermeintliche Opposition von Autonomie und Automatismus ins Schwanken. Schon der Prometheus der antiken Überlieferung ist ja beides zugleich: autonomer Künstler und Automatiseur. Er formt Menschen nach seinem Bilde und gibt ihnen Leben. In dieser mimetisch-kreativen Doppelrolle ist er der Protagonist einer Entwicklung, die über die antiken Flugautomaten und die Uhrwerke des Mittelalters bis zu den Androiden der Renaissance stets künstlerische und technische Kreativität vereinte.[15]Im 18. Jahrhundert erreicht diese Entwicklung, die allemal auf Belebung ausgerichtet war, ihren Kulminationspunkt. Sie spaltet sich auf in "Antiken­sehnsucht und Maschinenglauben"[16], zwei nur scheinbar kontradiktorische Einstel­lungen gegenüber dem Fortschritt: Während Winckelmann die Lebendigkeit der Werke des klassischen Altertums wieder in Erinnerung ruft, bewundert Voltaire mit derselben Faszination, wie ein Automatenbauer, "der kühne Vaucanson, Rivale des Prometheus, die Triebkräfte der Natur nachahmend, das Feuer der Himmel zur Belebung der Körper zu nehmen schien".[17]

Goethe erhielt selbst einmal Gelegenheit, Vaucansons prometheische Geschöpfe, wie zum Beispiel den provençalischen Pfeifer und Trommelschläger, zu bewundern.[18]Und es dürfte ihm bereits in der Straßburger Zeit zu Ohren gekommen sein, daß der legendäre Vaucanson auch den ersten automatischen Webstuhl erfunden hatte. Wenn er also seinen Erdgeist gleichsam an einen Webstuhl setzt, so geht darin offenbar jene Tendenz der Zeit ein, in der das Streben nach Autonomie mit dem Prozeß der Automa­tisierung korreliert.

Wie diese coincidentia oppositorum sich im Drama realisiert, zeigt sich an den prosodischen Details. Wir greifen nur eines heraus, das allerdings höchst merkwürdig ist: Die Zurückweisung Fausts durch den Erdgeist beruht nicht auf dem Ausdrucks­mittel der Dissonanz, sondern dem der Übereinstimmung, dem Gleichklang:

Faust:
Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!

Geist:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!"
(V. 157ff.)

 

Die Replik - inhaltlich eine schroffe Ab­fuhr - wird hier paradoxerweise im Ton mimetischer Einsfühlung vorgebracht. Der Satz des Erdgeistes korrespondiert in allen klanglichen Komponenten - Assonanz und Alliteration, Reim und Wiederholung - Fausts Identitätsbegehren. Auch das Metrum beider Sätze ist identisch - allerdings mit einer erheblichen Verkürzung der Silbenzahl in der Replik, die sich als bedeutsam erweist: Der Zeile Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir! korrespondiert nur ein Überbleibsel der Vokalsequenz auf i: Nicht mir! Was hier vom Erdgeist zurück­kommt, ist nicht mehr die vollständige Lautfolge, son­dern deren Nachklang. Eben diese Verknappung aber qualifiziert seinen Satz zum Echo. Im Echo wandelt sich die pho­netische Korrespon­denz zur semantischen Diffe­renz; just der nachhallende Gleich­laut markiert die Ungleichheit.

So verkehrt sich die bestätigte Mimesis in ihr Gegenteil. In der phonetischen Wiedergabe des individuellen Selbstaus­drucks, der Verdoppelung seiner prosodischen Ele­mente, festigt sich die äußerliche Regularität des Konstruktionsprinzips. Genau dadurch, daß die Klangkopie den Anspruch auf Unmittelbarkeit und Originalität affir­miert, falsifiziert sie ihn zugleich; sie läßt ihn im Echo verpuffen. Als Schall und Rauch (V. 3457), bloßer Name also, gegen den die Universalienkritik der Genie­bewegung rebellierte, erweist sie sich nun selbst; denn in der Klangfixierung ist sie ih­rerseits namhaft geworden, zur Wortmaschine geronnen. Die Kritik am mechanisierten Fortschritt hat sich hinterrücks diesem anverwandelt.

Indem sie die Idee absoluter Selbstbestimmung tautologisch leerlaufen läßt, Auto­nomie in Automatismus transformiert, nimmt dieSzene, die selbst noch ein Produkt des Geniegedankens ist, die Kritik an dessen Konzept spontaner Identitätsbildung vor­weg - eine Kritik, die erst später philosophisch formuliert wird.[19]

Eine Generation später, als die Geschichte Europas sich in den Entscheidungen eines einzelnen Individuums konzentrierte, das schließlich selbst zum Opfer seiner Kriegs­maschinerie werden sollte, greift Goethe das Prometheus-Motiv wieder auf. Für eine Wiener Zeitschrift, die den Namen des Titanen trägt, macht er sich im Moment der Peripetie Napoleonischer Machtentfaltung an die Ausarbei­tung eines Festspiels.

 

 

3.2 Kunst und Technik. "Pandora"

 

 Was sich in der Erdgeistbeschwörung nur unterschwellig ankündigte: die Herrschaft der Mechanisierung, kommt in der "Pandora" mit geradezu schematischer Deutlichkeit zum Ausdruck. Auch hier ist Zurückhaltung gegenüber einer rein symbolischen Lesart geboten, denn der allegorische Abgrund zwischen Bild und Bedeutung, zwischen antiker Vorlage und moderner Versifizierung mit ihren Reimen und Formenwechseln ist allzu eklatant. Die beiden Hauptfiguren des Stücks, Prometheus und Epimetheus, repräsen­tieren einen historischen Zustand, der eine auf den technischen Fortschritt reduzierte vita activa von einer aufs besorgte Zuschauen reduzierte vita contemplativa vollständig abgespalten hat. Obwohl sie Brüder, also gleicher Herkunft sind, scheinen die Gegen­sätze zwischen ihnen unüberbrückbar.

Das Gespräch der beiden über die abwesende Pandora ist geradezu ein Schulbeispiel systematisch verzerrter Kommunikation. Für Epimetheus bleibt Pandora in der Kon­templation präsent - Treu blieb ihr Bild (V. 581) - , was Prometheus als unnütze Sentimentalität abtut. Während jener sich auf ein Kleinod beruft, das er just im Nachschein, in der Aura der Verflossenen, melancholisch genießt (V. 583),[20] reagiert dieser wie ein typischer Kunstbanause, der nur das Handwerkliche anerkennt: Kleinode schafft dem Manne täglich seine Faust (V. 584). Dem Betrachtenden genü­gen Bild nur und Schein (V. 811); er sieht in Pandoras Schönheit die Epiphanie des Göttlichen und insofern das höchste Gut (V. 585), worauf der Handelnde, der nur das Herstellen als solches zu schätzen weiß, nachfragt: Das höchste Gut? Mich dünken alle Güter gleich (V. 586). Das ästhetische Kriterium steht hier gegen das praktische, rezep­tives Schauen gegen reines Schaffen, Kunstliebe gegen Technikinteresse.

Die Ablösung der Technik von der Kunst, mit der sie von der Antike bis zur Renaissance verbunden war, ist in dieser Figuration überdeutlich. Prometheus ist die In­karnation eines Fortschritts, der das aufklärerische Pathos längst hinter sich hat. Seine Klugheit ist die Cleverness des modernen Menschen, er ist ein Ingenieur ohne Inge­nium.[21]Die Schmiede treibt er nicht um kultureller Ziele willen an, sondern einzig mit dem Telos kriegerischer Zerstörung: Nur Waffen schafft! Geschaffen habt ihr al­les dann (V. 308). Der Hämmerchortanz (V. 166) seiner Knechte innerviert den takt­gleichen Rhythmus technisierter Produktion[22] und besingt das destruktive Element, auf dem sie beruht: Zündet das Feuer an!/Feuer ist oben an [...]" (V. 168f.).

Dem Feuer haben die übrigen Elemente sich unterzuordnen - als Ressourcen ohne Eigen­wert: Die Luft, meinen die Schmiede, sei nichts wert wenn sie das Feuer nicht schürt (V. 201f.), die Erde muß sich von den Furchen und Striemen (V. 1949) des Berg­baus quälen (V. 190) lassen, und selbst das Wasserelement, Lebensspender für Mensch und Tier (V. 176-182), provoziert den Geist technischer Naturbeherrschung durch ihr ungezügeltes Wesen: die Flut./Die unbeständige/Stürmisch leben­dige,/Daß der Verständige/Manchmal sie bändige,/Finden wir gut (V. 183ff.). Das lapidare Finden wir gut, das uns als Slogan eines um Saloppheit be­müh­ten Versandhauses im Ohr ist, dürfte schon zur Goethezeit wie eine mechanische Alltags­floskel geklungen haben, die nur noch entfernt an die Idee des guten Lebens er­in­nert. Die utilitaristische Verkürzung markiert den Abstieg des Prometheus vom my­thi­schen Rebell zum Modellpaten der Stahlindustrie.[23]

In der "Pandora" ist dieser Abstieg weit fortgeschritten. Während noch Johannes Kepler naive Bewunderung hegen mochte für einen automatischen "Heerpaucker, der alle schläg so gewiß führet, als khein lebendiger",[24] klingen die - im Gegensatz zu den Versen der Hirten - erbarmungslos durchmetrisierten Zweitakter und monotonen Hau­fenreime der Krieger in Goethes Drama schon so, als sei Keplers "Heerpaucker", der Maschinenmensch, Realität geworden:

 

Wir ziehn, wir ziehn
Und sagen's nicht;
Wohin? wohin?
Wir fragen's nicht;
Und Schwert und Spieß,
Wir tragen's fern,
Und jens und dies
Wir wagen's gern.
(V. 908ff.)

 

Das Wohin des Voranmarschierens, das Telos des Fortschritts, ist gleichgültig geworden. Das Wagnis geschieht um seiner selbst willen. So ist aber die Welt des Pro­metheus bei allem Aktionismus doch im Grunde beharrend, was ihrem fortschrittli­chen Impetus eigentümlich widerspricht. Der Technizist gesteht selbst: Neues freut mich nicht; er gibt gar nicht mehr vor, an die Progression der Menschheit qua in­strumenteller Vernunft zu glauben, sondern verkündet: [...] ausgestattet/Ist genugsam dies Geschlecht zur Erde (V. 1062).

Unwandelbarkeit der menschlichen Natur, Leben als Selbstzweck - sind das nicht aber eigentlich klassische Kriterien der ästhetischen Weltsicht? Gleitet Prometheus damit nicht unversehens in die beharrende, selbstgenügsame Sphäre des Epimetheus hinüber?

Gewiß bleibt er Technokrat. Und wenn er sagt, der Zufall sei ihm verhaßt (V. 828), so liegt das daran, daß dieser nicht berechenbar und deshalb der instrumen­tellen Vernunft anstößig ist. Aber auch der klassischen Ästhetik ist der Zufall verhaßt. So läßt Goethe etwa im "Helena"-Fragment die Häßlichkeit der Phorkyas als Ausgeburt des Zufalls (V. 213) verhöhnen.

Es gibt offensichtlich einen Indifferenzpunkt zwischen Technizismus und Ästheti­zismus. Ironisch benennt ihn Goethe in seiner Ergänzung zu einem Loblied auf die Dampfmaschine: er sehe entzückt, wie in der Wesen Ringe/Sich Theil und Ganzes stets im schönsten Bunde dreht.[25]Das Maschinenwesen erscheint hier zugleich als ein harmonischer Organismus.

Und so gibt es auch in der "Pandora"Übergänge zwischen technischer und ästhetischer Lebenswelt. Während die Zweckmäßigkeit der prometheischen sich unversehens als zweckfrei erweist und damit Kants Kriterium für Organismen und Kunstwerke erfüllt, kehrt die des Epimetheus ihrerseits mechanische Aspekte hervor. Daß sie schließlich als hohle leid'ge Qual! (V. 788) erscheint, kommt nicht erst durch einen Sinneswandel zustande. Epimetheus fühlt von vornherein, daß er sich an eine Hoffnung klammert, die nicht fruchtet (V. 335), verkörpert durch Elpores trügerische Affirmation: Ja doch! ja!/(Sie verhüllt sich und verschwindet; als Echo wiederholend:)/Ja doch! ja! (V. 402).

Die mechanische Selbstwiederholung, die an das ebenso hohle Echo der Erdgeist­beschwörung erinnert, ist das Prinzip der Maschine. Die Einsicht in ihren Leerlauf aber resultiert hier aus der Abgespaltenheit der ästhetischen Weltsicht. Als Haltlose läßt sie Epimetheus seiner eigenen Haltlosigkeit innewerden. Und eben das verführt ihn zur Tat. Die Worte Was hab' ich zu verlieren, da Pandora floh! (V. 825) markieren das Umschlagsmoment von Resignation in Aktionismus.

Wie im "Faust", so ist auch in der "Pandora" das Verhängnis an die Verheißung gekop­pelt. Die tragische Ironie besteht hier darin, daß es die ästhetizistische Weltabgewandt­heit ist, die Epimetheus dazu führt, sich in den Strudel von Gewalt und Gegengewalt zu stürzen, aus dem er sich eigentlich in kontemplativer Schöngeistigkeit heraushalten wollte. Der Hilferuf seiner Tochter ist nur äußerer Anlaß hierfür. Denn nach ihrer Rettung vor den Hirten soll es erst richtig losgehen:

 

Diese rett' ich,
Sie die einz'ge!
Jenen wehr ich!
Mit der Hauskraft,
Bis Prometheus
Mir das Heer schickt.
Dann erneun wir
Zorn'gen Wettkampf.
Wir befrein uns;
Jene fliehn dann
Und die Flamm' lischt.
(V. 875-885)

 

Dies sind Epimetheus' letzte Verse im Stück, und sie frappieren durch ihre parolen­artige Verknappung, die den sonst bedächtig Sprechenden schlagartig in einen Schlach­tenrufer verwandelt hat. Ihre Atemlosigkeit entspricht dem Eifer des Gefechts. Sie entspricht zugleich den Restriktionen, die die Beschleunigung der modernen Lebens­formen der Sprache auferlegt. Der Telegrammstil, die verschluckten Laute und das durch­schlagende Metrum sind die Wundmale einer auf Information reduzierten Kommunika­tionstechnik.[26]

Indem Goethe die Assimilation der ästhetizistischen Sprache des Epimetheus an die technizistische des Prometheus als zwei Seiten derselben Verdinglichung zum Ausdruck bringt,[27] konstatiert er nicht nur die verheerende Sogwirkung der letzteren, sondern eine historische Dialektik im Verhältnis beider Äußerungsformen: Die Emanzipation der Technik von der Kunst, der sie entsprang, treibt das Technische an der Kunst hervor, die so an die gemeinsamen Ursprünge erinnert. Goethes Drama macht durch die künstlerische Technik transparent, was der Technizismus entgegen seinem Nützlich­keits­anspruch tatsächlich ist: reiner Selbstzweck. Epimetheus ist es nun, der die instru­men­telle Vernunft auf seine Fahnen geschrieben hat, während Prometheus in seiner Ableh­nung des Neuen die naturhafte Wiederkehr des Gleichen propagiert. Die Mentalitäten der Regression und des Fortschritts haben sich jeweils in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Bedeutung der "Pandora" besteht darin, daß sie die ästhetische Weltsicht nicht in steriler Kompensation aufgehen läßt, sondern ihr die Spuren einzeichnet, die sie unter der Herrschaft der Technisierung erleidet. Hier schließen sich geschichtliche und ästhe­tische Faktoren zusammen. Goethes Drama - darauf hat Arthur Henkel hingewiesen[28] - entstand nicht nur ein Jahr nach Jena und Auerstedt, sondern auch ein Jahr nach Schillers Tod. Das Kunstwerk gibt sich nicht länger den Anschein, natürlich zu sein, sondern offenbart sich selbst als Artefakt, während das Technische darin den Ausdruck von Natur annimmt, insofern es als Zweckmäßigkeit ohne Zweck erscheint. Dadurch, daß das Werk die Aufspaltung von Kunst und Technik nicht versöhnt, sondern ihre Unversöhntheit auf den Punkt treibt, wo beide ineinander umschlagen, hält es unser Unbehagen wach an dem, was diese Spaltung historisch verursachte. De­ren Unum­kehrbarkeit indessen scheint für Goethe ausgemacht zu sein. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, notiert er schon zu Beginn seiner Italienreise, nur die Noth und das strenge Bedürfniß erfordern unsre Tage.[29]

Freilich: So wie die These vom Ende der Kunst, die hier vorweggenommen wird, stets neue Kunst hervorbrachte, so bleibt die Schönheit für Goethe Orientierungsgröße seines Schaffens. Doch sie trägt fortan den Ausdruck ihrer Defizienz. Statt daß Epi­metheus, der Betrachtende, ein Äquivalent zu Prometheus, dem Macher, darstellt, so daß sich aus ihrer Verbindung eine höhere Synthese von Denken und Tun ergäbe,[30] wird der Ästhet zum Mitmacher. Mit dieser verhängnisvollen Konsequenz, mit der auch hier wieder Goethe seiner Maxime folgt, die Widersprüche disparater zu machen, anstatt sie zu vereinigen, verwahrt er sich gegen den Scheinfrieden von Kunst und Technik. Den Scheinfrieden: denn es ist ein falscher Friede, der unter dem Stichwort Ästhetisierung des Alltags gerade heute wieder Konjunktur hat. Er beruht auf der Suggestion, man müsse sich nur für die ästhetische Weltsicht entscheiden, um die bessere Welt zu haben. Dieses Designer-Denken unterstützt den technischen Fortschritt durch Kompensation seiner Defizite. Es nivelliert die subversive Kraft des Ästhetischen,[31]den heilsamen Schrecken über die Instrumentalisierung des schönen Scheins. Zu Zeiten des von Kep­ler bewunderten Heerpaukers mochte die Lebensfeindlichkeit der Technik noch ins Auge fallen; heutige Schlagzeugcomputer simulieren den gewünschten human touch problemlos durch programmgesteuerte Unregelmäßigkeiten. "Humanizing" nennt sich das Verfahren. Und je mehr wir uns auf das "Humanizing" verstehen, um so mehr gewinnen die Sprachverstümmelungen in Goethes "Pandora"an Aktualität, indem sie of­fenbar machen, daß die Humanisierung der Technik nur ein Beruhigungsmittel der technisierten Humanität ist.


3.3. Utopie und Konkretion. Oder: "Ist fortzusetzen"

Wenn wir aber Goethes Dichtungen daraufhin befragen, welche Auswege aus der Fort­schrittsproblematik sie uns zeigen können, so müssen wir feststellen, daß sie diese Erwartung hintertreiben. Die Ambivalenzen des Fortschritts werden nicht aufgelöst, sondern ad absurdum geführt: In der Erdgeistbeschwörung steigert sich das Auto­nomiestreben zum Automatismus, der es liquidiert; und in der "Pandora" schlagen die Posi­tionen des Ästhetizismus und des Technizismus ineinander um, statt sich zu ergänzen. Diese Verarbeitungen des Prometheus-Motivs sperren sich ebenso gegen das Bedürfnis nach Handlungsanweisungen wie die schlechte Alternative von Auswandern oder Mit­machen in den "Wanderjahren" oder die auf Gewalt gegründete Sozialutopie des "Faust"-Schlusses. Allemal wird uns vor Augen geführt, daß just im Gelingen des Fortschritts sein eigenes Mißlingen angelegt ist.

Und dennoch ist Fortschrittsverzicht nicht die Konsequenz aus Goethes Dichtungen. Sie kennen ihn, den anderen Fortschritt, wenn sie ihn auch nur in geheimnisvoller Vagheit ansprechen: Die Erdgeistbeschwörung findet ihre Fortsetzung in "Wald und Höhle", bei der ein hingebungsvoller Faust nun doch von der Naturkraft beschenkt wird. Er genießt eine Wonne, die ihn den Göttern nah und näher bringt (V. 3241f.). Und das Kriegstreiben in der "Pandora" wird überglänzt von Eos' Schlußworten, die Lei­tung Zu dem ewig Guten, ewig Schönen versprechen, sofern man nur die Götter gewähren lasse (V. 1083ff.). Gute-Schöne (S. 447) ist in den "Wanderjahren" der Name einer Frauengestalt, die zu Makarie führt, einer Heiligen (S. 441), die sich in einem obskuren Prozeß der Ver­geistigung in immer höhere Sphären begibt. Am Ende von "Faust II" schließlich verkün­det ein mystischer Chor, das Ewig-Weibliche ziehe uns hinan (V. 12 110f.).

In diesen geheimnisvollen Andeutungen einer aufwärts gerichteten Progression überwintert das Eschaton des Fortschritts - nicht als theologische Transzendenz, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, aber auch nicht als prometheische Immanenz, auf die Blochs konkrete Utopik gläubig baute,[i] sondern als Allegorie einer Inten­tion, die in jeder Realisierung unzulänglich bleiben muß. Sie richtet den Blick auf Be­reiche jenseits der Alternative sakraler oder säkularisierter Heilsversprechen. Ihr Vor­bildcharakter besteht weder in Erbauungssprüchen noch in praktischen Richtlinien, sondern in einer Gestik, die mit den Begriffen der Hingabe, des Gewährenlassens, der Betrachtung, der Liebe konnotiert ist.

Gerade in ihrer fehlenden Propositionalität aber erfüllt Goethes Sprachgestik eben doch auf eine subtilere Weise den Begriff einer konkreten Utopik. Ihre Konkretion besteht in der Suspension vom pragmatistischen Dogma, das die rechte Wahrnehmung des Augenblicks verzerrt.

Goethes Dichtungen geben keine Handlungsanweisungen, aber sie sensibilisieren für Handlungsweisen. "Handle besonnen", schrieb Goethe am 23. November 1829 an Rochlitz, ist die praktische Seite von "Erkenne dich selbst". Und er fügte hinzu: Beides darf weder als Gesetz noch als Forderung betrachtet werden; es ist aufgestellt wie das Schwarz der Scheibe, das man immer auf dem Korn haben muß, wenn man es auch nicht immer trifft. Das Gleichnis ist prekär - nicht so sehr wegen des Bildes vom Schießen, bei dem Goethe wohl nur an die Pfeil- und Bogen-Spiele mit seinem Enkel gedacht haben dürfte. Es ist prekär, weil es im Bild des richtigen Lebens zugleich die Möglichkeit seines Mißlingens anspricht. Das aber gilt von allen poeti­schen Gestalten Goethes: In ihrer offenen Form drückt sich das unbequeme Zugeständnis an die Wirklichkeit aus, dem Ideal nicht zu genügen. Dieser realistische Tic[ii] ist es - und nicht etwa Harmonismus - der Goethe sagen läßt, für das Tragische sei seine Natur zu konziliant.



[i]          Vgl. Bloch (1956), S. 44.

[ii]          An Schiller, 9.7.1796. Mit diesem koketten Hinweis wehrt er sich gegen Schillers Drängen, seinen Meister-Roman einer Entwicklungsidee gefügig zu machen, und fügt schließlich den Seitenhieb hinzu: "Gerade seine Unvollkommenheit hat mir am meisten Mühe gemacht." [30.10.1797]



[1]  Ebert (1926), S. 155f.

[2]  Zur Fortschrittsthematik in Faust II vgl. Schmidt (1987) und Schulz (1988).

[3]  Mann (1949), S. 429.

[4]  Zur Fortschrittsthematik in den Wanderjahren vgl. Blessin (1979), S. 110268.

[5]  "Hier", sagt Susanne, "bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen _ und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen" (S. 429f.)

[6]  HA X, S. 361; 1822.

[7]  Brief an Zelter, 31.10.1831.

[8]  WA I 14, S.287  Erstes Paralipomenon ca. 1800.

[9]  Herder (1774), S. 87.

[10]"Ist's nun besser, ist's für die Menschheit gesunder und tüchtiger, lauter leblose Räder einer großen, hölzernen Maschine hervorzubringen oder Kräfte zu weckenund zu regen?" [a.a.O., S. 90]

[11]HA IX, S. 487  Dichtung und Wahrheit 1811.

[12]HA I, 45; geschr. 1774.

[13]Zur Identifikation des Genies mit Prometheus vgl. Shaftesbury (1749), S.135f.

[14]Helmholtz (1892), S. 132.

[15]Vgl. Heckmann (1982).

[16]Bredekamp (1993).

[17]Voltaire (1738) nach Bredekamp (1993), S. 12.

[18]Anläßlich seines Besuchs bei Gottfried Christoph Beireis. Vgl. Krätz (1992), S. 133 ff.

[19]Und zwar von Herder selbst in Liebe und Selbstheit. (1788) Vgl. Zabka (1993), S. 22.

[20]Hier ließe sich eine Parallele zu der Beobachtung des depressiven Dichters Grillparzer ziehen: "Ich glaube bemerkt zu haben, daß ich selbst in der Geliebten nur das Bild liebe, das sich meine Phantasie von ihr gemacht hat, so daß mir das wirkliche zu einem Kunstgebilde wird". [Zit. nach Matussek/Matussek (1992), S. 168]

[21]Dem widerspricht nicht, daß er Züge Napoleons trägt [Vgl. Borchmeyer (1983), S. 22.], dessen Dämonie Goethe durchaus bewunderte, die er aber im Drama einer schonungslosen Entauratisierung unterzieht.

[22]Der 3/4-Takt entspricht der in Schmieden üblichen Arbeitsweise, bei der einer das Eisen hält und drei andere nacheinander daraufschlagen. Vgl. Trunz (1949), S. 696 f.

[23]So als Akronym für ein Projekt zur automatischen Steuerung von Kraftfahrzeugen.

[24]Kepler (1945), S. 222; Brief an Michael Mästlin v. 1./11.6.1598.

[25]Stumpff/Goethe (1831).

[26]Daß wir es hier mit einem antiken Versfuß, dem Ionicus a minore, zu tun haben, wiederlegt diesen Eindruck nicht. Er findet noch im Rap heutiger Schlager Verwendung: "Das'n Rhythmus, / Wo man mitmuß". Auch Epimetheus  "muß" in diesem Sinne "mit".

[27]Daß beide Protagonisten "letztlich einem Prozeß der Verdinglichung verfallen" konstatiert auch Emrich (1962), S. 126, begründet dies jedoch nicht aus der Sprachform, sondern abstrakt aus ihrer Gebundenheit ans irdische Dasein.

[28]In der Diskussion zu dem Weimarer Vortrag von Gerhart von Graevenitz am 3. Juni 1993.

[29]Dem geht die Absichtserklärung voraus: "Auf dieser Reise _ will ich mein Gemüth über die schönen Künste beruhigen, ihr heilig Bild mir recht in die Seele prägen und zum stillen Genuß bewahren. Dann aber mich zu den Handwerckern wenden, und wenn ich zurückkomme, Chymie und Mechanik studiren" [Tagebuch v. 5.10.1786]

[30]Daß Goethe diese Figurenkonstellation nicht als Ergänzungsverhältnis, sondern als Aporie auffaßte, wird durch den Brief an Zelter v. 26.6.1811 bestätigt: "Leider komme ich mir _ wie eine Doppelherme vor, von welcher die eine Maske dem Prometheus, die andere dem Epimetheus ähnlicht, und von welchen keiner, wegen des ewigen Vor und Nach, im Augenblick zum Lächeln kommen kann."

[31] Vgl. Bohrer (1992).