Peter Matussek

Franz Grillparzer

 


Erschienen in: Analytische Psychosentherapie. Band 1: Grundlagen; Berlin, Heidelberg, New York 1992, S. 166–170 [Nachdrucke 1997 u. 2001].

 

     
 

Bei Depressiven ist es, wie oben gezeigt, das private Selbst, das narzißtisch besetzt ist. Dies bedeutet aber nicht, daß sie sich darin geborgen fühlen. Vielmehr ist ihr Rückzug von der Welt mit Schuldgefühlen verbunden, die durch eine extreme Außenanpassung kompensiert werden. Grillparzer ist hierfür ein prägnantes Beispiel, wobei wir uns insbesondere auf das biogra­phische Material von Scheit (1989) stützen, sowie auf Kürnberger (1872), Nadler (1948), Klein­schmidt (1967) und Frederiksen (1977).

Das Verhältnis zum Vater, aber auch zu allen anderen Personen und Dingen in seiner Umgebung, ist von Anfang an durch Fremdheit geprägt. Selbst die Räumlichkeiten, in denen Grillparzer aufwächst, vermitteln ihm den Eindruck der Düsternis und Lebensferne: „Um das Formlose und Trübe meiner ersten Jahre begreiflich zu machen, muß ich sogar unsere Wohnung beschreiben… Finster und trüb waren die riesigen Gemächer. Nur in den längsten Sommertagen fielen um die Mittagszeit einzelne Sonnenstrahlen in das Arbeitszimmer unsres Vaters und wir Kinder standen und freuten uns an den einzelnen Lichtstreifen am Fuß­boden.“

Melancholie – als Ausdruck dieser Distanz vom äußeren Leben – ist eine Grundstimmung in der Familie: Der Bruder ertränkt sich im Alter von siebzehn Jahren, und zwar aus Furcht, ein schlechter Mensch zu werden, wie er in sei­nem Abschiedsbrief schreibt. Zwei Jahre später erhängt sich die Mutter.

Der Spiegel, den ihm der Vater vorhält, ist alles andere als aufbauend. Zu den ersten literarischen Versuchen des Sohnes bemerkt er trocken, dieser „würde noch auf dem Miste krepieren“. Franz faßt daraufhin den Entschluß, „der Poesie, vor allem der dramatischen, für immer den Abschied zu geben“. Erst sieben Jahre später wagt er es wieder, diese Fremdanpassung zu durchbrechen und ein Stück öffentlich anzubieten.

Den akuten Anlaß für seine Depression führt Grillparzer selbst auf seine Goethe-Lektüre zurück. Gegenüber seinen eigenen poetischen Versuchen erlebt er das große Vorbild, in dem er sich wiederum mit negativem Resultat spiegelt, als erdrückend übermächtig; hier sieht er den „Anfang mei­nes Trübsinns, meiner Melancholie… Alles was ich bisher geschrieben hatte, kam mir unerträglich, plump, ungebildet vor.“ Grillparzer reagiert hier, wie es für den Narzißmus Depressiver typisch ist: Er erträgt nicht die Konfrontation mit dem Spiegel. Als der junge Dichter sich darin sieht, das heißt sein privates Selbst mit all seinen Unvollkommenheiten, zuckt er zurück. Er stellt sich nicht der Herausforderung, an sich zu arbeiten, sondern ergeht sich in Resignation: „ich fühlte meine Hand zu schwach!“

Das Befangensein im Privaten ist denn auch das zentrale Thema bei Grillpar­zer. Der dramatische Grundkonflikt zwischen Ich und Welt wird bei ihm stets im Sinne des Rückzugs auf die Innerlichkeit ausgetragen. Geradezu program­matisch zeigt sich dies in dem Drama ‚Der Traum, ein Leben‘, dessen Quintessenz in den folgenden Versen zum Ausdruck kommt: „Eines nur ist Glück hienieden, / Eins: des Innern stiller Frieden / Und die schuldbefreite Brust! / Und die Größe ist gefährlich. / Und der Ruhm ein leeres Spiel; / Was er gibt, sind nicht’ge Schatten, / Was er nimmt, es ist so viel!“ „Die ‚Tragödie‘“, erläutert Scheit (1989), „wird nur mehr geträumt, um dem ‚Helden‘ die mögli­chen Kollisionen zu ersparen.“ Allerdings – und auch das ist typisch – wird dies nicht unbedingt als Verzicht gesehen. Der Depressive erlebt es anders: Das äußere Leben langweilt ihn, während sein – narzißtisches – Interesse auf die eigene Privatheit gerichtet ist. So auch in Grillparzers Dramen: Durch Privatisie­rung lösen sich die Handlungsimperative zur Durchsetzung äußerer Freiheiten in Reflexionsgestalten auf. Wirkliche Freiheit wird im inneren Erleben gesucht.

In Grillparzers Skizzen zu einer Fortsetzung von Goethes ‚Faust I‘ geht der Held nicht, wie der Goethesche, hinaus in die „große Welt“, sondern er findet seinen Seelenfrieden in der kleinen Welt des privaten Glücks: „Ich erinnere mich von meinem damaligen Ideengange nur so viel, daß ich nach Gretchens entsetz­licher Katastrophe Fausten in sich zurückkehren und nun finden lassen wollte…, worin eigentlich Glück besteht: in Selbstbegrenzung und Seelenfrie­den. Wie er nun den Teufel aller Verbindlichkeiten entläßt, ihn verabschiedet und nur Ruhe will für die noch übrigen Tage seines Lebens. Er senkt sich nun mit Liebe ein in all die kleinen Verhältnisse des menschlichen Lebens, fängt an zu schmecken, was sie Süßes enthalten für den, der sich ihnen ganz hinzugeben vermag.“

Auch im wirklichen Leben reagiert Grillparzer nicht anders als seine (Anti‑)Helden. Auf seinen Besuchen in Dresden und Preußen fühlt er sich unwohl: „Wenn ich meiner innersten Neigung folgte, so würde ich auf der Stelle umkehren und wieder nach Hause reisen… Diese Leute haben eine Rührigkeit des Geistes, die meine wienerische Trägheit zuschanden macht und einschüch­tert. Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe, und schweige still, wenn ich nichts weiß, diese Leute aber wissen immer etwas.“

Als er in Weimar seinem Vor- bzw. Gegenbild Goethe tatsächlich begegnet, überfällt ihn „solche Rührung, daß ich beinahe meiner nicht Herr war, und alle Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen.“ Doch bezeichnenderweise beschreibt er seine Empfindungen nicht in Kategorien der Nähe zum anderen, sondern der furchtsamen Distanz: „Die Wirkung, die er auf mich hervorbrachte, war halb wie ein Vater“ – was bei Grillparzer eigentlich nichts gutes heißen kann – „und halb wie ein König.“ Und wiederum erdrückt ihn das Spiegelerlebnis. Als Goethe den Dichterkollegen zu einem Gespräch unter vier Augen einlädt, sagt er ab: „Ich fürchtete mich, mit Goethe einen ganzen Abend allein zu sein… Einmal schien mir in dem ganzen Bereich meines Wissens nichts, was würdig gewesen wäre, Goethen gegenüber vorgebracht zu werden. Dann habe ich meine eigenen Arbeiten erst später im Vergleich mit den Zeitgenossen schätzen gelernt, im Abstande von dem Frühergewesenen, namentlich hier in der Vater­stadt der deutschen Poesie, kamen sie mir höchst roh und unbedeutend vor. Endlich habe ich schon gesagt, daß ich Wien mit dem Gefühle eines gänzlichen Versiegens meines poetischen Talentes verlassen hatte, welches Gefühl sich in Weimar bis zur eigentlichen Niedergedrücktheit vermehrte.“ Die Anforderungen der äußeren Welt, repräsentiert durch bedrohliche Vaterfiguren, werfen ihn auf das private Selbst zurück, in dem er freilich keine Ruhe finden kann bzw. nur die tote Ruhe versiegter Quellen.

Selbst das Einlassen auf einen Partner erscheint Grillparzer als ein unerträgli­ches Herausgerissenwerden aus dieser Friedhofsruhe. Er selbst begründet seine Abwehr der Eheschließung mit seiner Unfähigkeit zum Außenbezug: „Ich glaube bemerkt zu haben, daß ich selbst in der Geliebten nur das Bild liebe, das sich meine Phantasie von ihr gemacht hat, so daß mir das wirkliche zu einem Kunstgebilde wird, das mich durch seine Übereinstimmung mit meinen Gedan­ken entzückt, bei der kleinsten Abweichung aber nur um so heftiger zurück­stößt.“ Erstaunlich klar erkennt Grillparzer hier seine narzißtische Fixierung auf die Wunschgestalten des privaten Selbst. Auch die Konsequenz der Gleichgül­tigkeit gegenüber dem Partner ist ihm bewußt: Über sein Verhältnis zur Lebens­gefährtin Katharina Fröhlich, die er niemals heiraten wird, schreibt er in einem fiktiven (!) Brief an einen Freund, „daß nach einem Heute der glühendsten Zärt­lichkeit leicht – ohne Zwischenraum, ohne besondere Ursache – ein Morgen denkbar ist, der fremdesten Kälte, des Vergessens, der Feindseligkeit möchte ich sagen… Kann man das Liebe nennen? Bedaure mich und sie, die es wahr­lich verdiente, wahrhaft und um ihrer selbst willen geliebt zu werden.“ Seiner Selbstbeobachtung zufolge fühlt er sich „zu solchen am meisten, oder vielmehr ausschließlich hingezogen… die eigentlich am wenigsten für mich passen: zu denen nämlich von entschiedenen Charakterzügen, die meinem Hang zu psycho­logischer Forschung… die meiste Nahrung geben; auf der anderen Seite aber durch ihr Sprödes und Abgeschlossenes im Wirklichen jedes Zusammenschmel­zen nur noch unmöglicher machen.“

Grillparzer fügt sich interesse- und willenlos in die Rollen, die man ihm mit zunehmender öffentlicher Anerkennung oktroyiert. Um seine Privatheit vor dem Zugriff der anderen zu schützen, paßt er sich an. Das damit einhergehende Schuldgefühl kommt deutlich in einer Tagebuchnotiz zum Vorschein, in der er seine Ernennung zum Direktor des Hofkammerarchivs kommentiert: „Habe die Archivdirektorstelle erhalten und so des Menschen Sohn um dreißig Silberlinge verkauft… Ich werde ein volles Jahr verwenden müssen, das Geschäft kennen­zulernen; ein volles Jahr, ohne auf Poesie anders als in verlornen Augenblicken denken zu können… Ein bestimmtes Gefühl, daß es mit mir aus ist, hat mich diesen Platz suchen und annehmen lassen.“– „Ist es nicht zum Lachen“, wun­dert sich Rosa Luxemburg über den von ihr geliebten Dichter, „daß Grillparzer ein lederner Staatsbeamter und langweiliger Patron war?“ Daß dieser Eindruck entstehen konnte, beruht auf der für Depressive typischen Preisgabe ihres Inne­ren zugunsten einer freudlos, aber – aus Gründen der Konfliktvermeidung – penibel ausgefüllten Rollenidentität. „Es war mir durchaus unmöglich“, schreibt er, „die seit zehn Jahren zum ersten mal wieder ernstlich betriebenen Amtsge­schäfte mit meinen sonstigen inneren Beschäftigungen einigermaßen auszuglei­chen, und die letzteren zogen sich darüber so ganz zurück, daß ich mir selbst zum Grauen ward und der Gedanke eines gewaltsamen Abschlusses einigemale ganz nahe trat. – Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und fühle mich als Greis.“

Sein Lebensstil bleibt von der äußeren Anerkennung völlig unberührt. Die Wohnung des schließlich zum Hofrat Avancierten besteht aus zwei kleinen, düsteren und unkomfortablen Zimmern. Diese erinnern zwar, schreibt Scheit (1989), „in ihrer Kargheit etwas an Goethes Arbeitszimmer im Weimarer Haus am Frauenplan. Allerdings – und dies mag für Grillparzers gesellschaftliche Situation typisch sein – fehlte ihm gänzlich jene ‚öffentliche‘, ästhetisch gestaltete und mit reichen Kunstschätzen ausgefüllte Wohnsphäre von Goethes Haus, in dem das gesellschaftliche und kulturelle Leben Weimars sich abspielen konnte.“

Nach seiner Pensionierung schließt Grillparzer sich vollends von der Welt ab. Ein Zeitgenosse berichtet: „Als das Alter unseren Dichter noch schonender beugte, da konnte man ihn täglich in den Mittagsstunden gegen den Prater oder die Glacien entlang wandeln sehen, beständig in sich hineinmurmelnd, als ob er sich zu einer Sache beschwatzen wollte, die ihm nicht unbedenklich scheine. Jetzt aber wagt er sich kaum mehr über den nächsten Umkreis seines Hauses in der Spiegelgasse hinaus…“

Ein bemerkenswerter Zug an der Schaffensart von Grillparzer kann als prä­gnanztypisch für Depressive gelten, insbesondere wenn man ihn auf dem Hin­tergrund schizophrener Werkbewältigung betrachtet. Diese sucht – wie wir es noch am Beispiel Glenn Goulds zeigen werden – durch Konstellation der jeweils brillantesten Facetten eigenen oder fremden Könnens öffentliches Auf­sehen zu erregen und scheut nicht den Vorwurf der Exzentrizität oder der Bruchstückhaftigkeit, wenn sie die Welt nur beeindrucken kann. Der Depressive hingegen arbeitet sich oft unter großen Mühen und mit viel Pedanterie an sein Werk heran, um sich gegen Kritiker zu schützen. Er will sich nicht den Vorwurf der Saloppheit, der Willkür oder der Ungenauigkeit machen lassen, wenn er sich in seinem Werk der Welt zeigt. Er selbst ist dabei sein größter Kritiker: „Ich lese oft so unaufmerksam und vergesse leicht das Gelesene.“ Das Fertigwerden, die Trennung vom Gegenstand der Arbeit, fällt ihm schwer: „Mir ist es ein Bedürfnis, mich immer mit einem Lerngegenstand zu beschäftigen. Durch die­sen Kunstgriff genieß’ ich, im Mannesalter, fortwährend den Nachgeschmack der Kinderzeit, und es soll mich, hoff’ ich, jung erhalten zwei Stunden vor mei­nem Tod.“ Dieses Aneignen von Welt konserviert ein Lernbedürfnis, wie es für Kinder eigentümlich ist. Das Kind will lernen, um die Welt um sich herum immer besser zu verstehen. Tag für Tag, immer einen Schritt weiter. Dieselbe Haltung nimmt Grillparzer ein, und er gibt sie als Kunstgriff aus, sich jung zu halten. Doch allein die von Lebensmüdigkeit geprägte Formulierung „zwei Stunden vor meinem Tode“ deutet darauf hin, daß es sich hier eher um die Rationalisierung einer Unfähigkeit handelt: die Unfähigkeit, im Alter zufrieden bilanzierend zurückzublicken. Grillparzer will ausruhen, ja er sucht wie jeder Depressive den ewigen Frieden. Eben diese Tendenz aber, sich von der Welt zurückzuziehen, ist mit Schuldgefühlen behaftet. Deshalb muß er im Stillen nach einer Betätigung suchen, die ihn vergessen läßt, daß er den Ansprüchen der Öffentlichkeit nicht gerecht wurde. Das durch den Vater und durch Goethe geprägte Ideal ist so erdrückend, daß er bis zum Ende den Blick in diesen Spiegel vermeidet. So dürften die Worte, die Kürnberger (1872) unter dem Titel „Grillparzers Lebensmaske“ dem melancholischen Dichter in den Mund legt, dessen innerer Realität durchaus nahe kommen: „Herr, schicke einen andern! Ich fürchte mich. Ich liebe den Frieden. Ich will meine Ruhe. Was können wir, ein Volk von Hirten, wider Albrechts Heere?… Wer bin ich, daß ich mit den Großen der Erde anbinden dürfte? Ein kleines, niedriges Bürgerkind, abhängig von Freunden und Gönnern, in grauenvollen Familienverhältnissen, welche die Nachsicht des Staates, vielleicht sogar der Gerichte bedürfen; wie sollte ich mich unterstehen, zu rebellieren? Eh’ ich dem Pharao nur einen Mops töte, hat es mir schon und meinen Nächsten das ganze Glück des Lebens gekostet. Laß mich lieber Pharaos Hofrat werden!“