Die Studie erschien unter dem Titel Hitler – Karriere eines Wahns; München 2000.


 

Peter Matussek


Hitlers Aufstieg in psychohistorischer Sicht

Forschungsprojekt bei der Stiftung für analytische Psychiatrie München, 1998–2000.

 

     
           

Die Ursachen für Hitlers katastrophale öffentliche Wirkung sind bis heute rätselhaft geblieben. Man begreift immer noch nicht, wie dieser hinterwäldlerische Sonderling und Stadtstreicher, dessen Schicksal als gescheiterte Existenz schon früh besiegelt schien, einen so jähen Aufstieg nehmen und ein Menschenvernichtungsprogramm auf den Weg bringen konnte, dessen Grausamkeit jedes Fassungsvermögen übersteigt.
Obschon die wissenschaftliche Hitlerliteratur mittlerweile ganze Bibliotheken füllt, ist sie diesem düsteren Rätsel bisher kaum auf die Spur gekommen. In der Erklärungsnot wurde und wird immer wieder zu den kühnsten Spekulationen gegriffen. Seriöse Forscher, die sich daran nicht beteiligen möchten, neigen stattdessen zu dem resignativen Bescheid, daß die Ursachen von Hitlers Welt- und Menschenhaß wie auch die erschreckend große Folgebereitschaft seiner Helfer dunkel bleiben müßten. Das radikal Böse sei nun einmal unbegreiflich, so lautete schon das Resümee Hannah Arendts (1951).
Die vorliegende Studie, die aus der interdisziplinären Zusammenarbeit eines Psychiaters, eines Kulturwissenschaftlers und eines Soziologen hervorgegangen ist, will sich mit der Alternative von Spekulation oder Resignation nicht abfinden. Sie untersucht die Gründe für die bisherigen Schwierigkeiten der Hitlerdeutung; sie leitet daraus die Notwendigkeit eines psychohistorischen Neuansatzes ab; und sie realisiert diesen Neuansatz, indem sie Hitlers Wahnkarriere als Zusammenwirken lebens- und sozialgeschichtlicher Faktoren analysiert. Es sind damit im wesentlichen vier Thesen, die wir in diesem Buch zur Diskussion stellen:
1. Die Hitlerforschung laboriert seit je an einem Dilemma: Entweder wird das Phänomen Hitler aus seiner psychischen Abnormität erklärt – was die Frage offen läßt, wie ein einzelner eine so große öffentliche Wirkung haben konnte. Oder man erklärt Hitlers Aufstieg aus den sozialhistorischen Umständen seiner Zeit – wobei man dann doch nicht um die Einsicht herumkommt, daß ohne seinen pathologischen Vernichtungswillen der Massenmord nicht möglich gewesen wäre. Obwohl es offensichtlich ist, daß beide Ansätze nur in wechselseitiger Ergänzung einen Erkenntnisfortschritt erreichen können, stehen sie sich immer noch weitgehend unvermittelt gegenüber: Die »intentionalistische« These »Kein Hitler, Kein Holocaust« (Himmelfarb 1984) und die »funktionalistische« These von der »kumulativen Radikalisierung« der Deutschen (Mommsen 1997) sind bislang kontrovers geblieben.
2. Um die immer noch offene Lücke zwischen sozialhistorischer und psychopathologischer Hitlerforschung zu schließen, bietet sich ein neuer Theorieansatz an, der in der Psychosenforschung bereits fruchtbar gemacht werden konnte (Paul Matussek 1992, 1997). Dieser Theorieansatz beruht im wesentlichen auf der Erkenntnis, daß jede Lebensgeschichte durch eine Polarität von öffentlichen und privaten Selbstanteilen geprägt ist. Ein krankhaftes Übergewicht des privaten Selbst geht mit Depressionen einher; eine schizophrene Struktur hingegen resultiert aus einem Übergewicht des öffentlichen Selbst. Empirische Studien belegen, daß sich die Wahnthemen der ersten Gruppe fast ausschließlich um persönliche Inhalte drehen, die der zweiten Gruppe dagegen werden von dem jeweiligen historisch-politischen Umfeld bestimmt, innerhalb dessen ein spektakulärer Sonderstatus angestrebt wird. Dieses Merkmal einer schizophrenen Struktur war bei Hitler extrem ausgeprägt.
3. Mithilfe des neuen Paradigmas läßt sich an Hitlers Entwicklung zeigen, daß sie schon früh zur narzißtischen Fixierung auf ein grandioses öffentlichen Selbst tendierte, bis keinerlei Rest an privaten, das heißt auch gefühlsmäßigen Selbstanteilen mehr vorhanden war. Eine Serie von tiefen Beschämungen weckte einen enormen Kompensationsbedarf, der sich in einen wahnhaften Umweltbezug mit allen Zügen einer paranoid schizophrenen Psychose steigerte. Diese Merkmale sind zwar schon des öfteren beobachtet worden, doch hat man sich zu der entsprechenden Diagnose dann doch meist nicht entschließen können, weil man sich nicht zu erklären vermochte, daß ein Schizophrener derart erfolgreich agiert. Im Lichte unseres Modells läßt sich dagegen zeigen, daß Hitlers krankhaft überspannter Außenbezug der Stigmatisierung entging, da er auf ein historisches Umfeld traf, das seinen Sonderstatus beglaubigte. Die hohe Akzeptanz durch die Massen bewahrte Hitlers Wahn vor dem vollständigen Bruch mit der Realität, der normalerweise bei akuten Psychosen zu klinischen Konsequenzen führt. Untersuchungen der transkulturellen Psychiatrie belegen, daß es zu Symptomrückbildungen, sogenannten Remissionen, kommt, wenn die Absonderlichkeiten eines Schizophrenen eine soziale Integrationsmöglichkeit finden (Jablensky u.a. 1991). In Trancekulturen etwa werden Schizophrene als mit höheren Kräften ausgestattete Medien verehrt und dadurch stabilisiert. In Hitlers Fall geschah etwas ähnliches; allerdings lagen hier die Verhältnisse so, daß die in der Regel heilsame Unterstützung durch die Umwelt zu einer fatalen Verstärkung der destruktiven Antriebe führte. Das »Dritte Reich« bildete die Bühne für das Drama einer wechselseitigen Bestätigung individueller und kollektiver Wahninhalte. Dabei war es gerade die eigenartige Leere der Persönlichkeit Hitlers, die sie besonders geeignet machte, übermenschliche Qualitäten in sie hineinzuprojizieren. Alle Kultobjekte verdanken ihre Aura einem solchen Mangel an Individualität, der die Rezipienten zur projektiven Ergänzung anregt (Belting 1990, Peter Matussek 1998). In Hitlers Fall freilich wurden die ergänzenden Phantasien aufgrund der besonderen historischen und ideologischen Kontexte vorwiegend von aggressiven und paranoiden Impulsen genährt.
4. Hitler konnte seine Wahnideen also nur dank ihrer Bestätigung durch die Umwelt erfolgreich durchsetzen. Um diese Seite der Wechselwirkung zu erfassen, müssen die kultur- und sozialhistorischen Umstände der Zeit in den Blick genommen werden. Auch dazu gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Wir stützen uns insbesondere auf Broszat (1964), Jäckel (1969), Fest (1973), Hamann (1996) und Kershaw (1998/2000), deren Erkenntnisse wir zugrundelegen, ohne sie hier im einzelnen zu wiederholen. Vielmehr konzentrieren wir uns auf diejenigen Aspekte, die in den einschlägigen Untersuchungen bisher zu kurz gekommen sind. Dazu gehört in unserem Argumentationszusammenhang insbesondere die Tatsache, daß die Akzeptanz der Massen, die Hitlers Psychose stabilisierte, auf einem pathologischen Gleichklang zwischen den biographischen und sozialen Motiven der Schamabwehr beruhte. Der individuelle Kompensationsbedarf des »Führers«, der nichts mehr fürchtete, als sich mit dem Phantasma der eigenen Größe lächerlich zu machen, traf am Ende
des Ersten Weltkriegs auf ein Volk, das sich in seinem überspannten Nationalstolz beschämt und gedemütigt fühlte. Erst die Maskierung der persönlichen Anlässe von Hitlers pathologisch übersteigerter Selbstpräsentation mit der populären Ideologie des Antisemitismus führte zu jener destruktiven Kräftebündelung, die im
kollektiven Massenmord endete.
Mit diesen Thesen wollen wir nicht unterstellen, daß sich das Phänomen Hitler vollständig rationalisieren ließe. Es wäre eine Illusion zu glauben, der Gang der Geschichte sei ein Geschehen, dessen gedanklicher Nachvollzug sich der Gewalt entziehen könnte, welche – nach Adornos Wort – »real solches Denken außer Kraft setzt« (1951, S. 94). Umgekehrt behält der alte Satz seine Gültigkeit: Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist gezwungen, sie zu wiederholen. Das mißverständliche Wort »Vergangenheitsbewältigung« erfüllt sich nicht durch bilanzierende Schlußstriche, sondern nur im unaufhörlichen Bemühen, unsere Erinnerung an das Geschehene deutend zu vertiefen und so für die Gefahren einer Wiederkehr vergleichbarer Prozesse wachsam zu bleiben.
Im Bewußtsein der Unmöglichkeit, die Ursachen des Naziterrors restlos aufzuklären, hoffen wir doch, mit unseren Thesen der Diskussion um das Eingedenken des Holocaust eine weiterführende Perspektive zu eröffnen. Mit unserem neuen Ansatz der psychohistorischen Hitlerforschung wollen wir die Einseitigkeiten eines entweder nur sozialgeschichtlichen oder nur psychiatrischen Vorgehens vermeiden und den Blick frei machen für die genannten Wechselwirkungen, die sich aufgrund ihrer kulturanthropologischen Disponiertheit jederzeit wiederholen können. Die Schuldfrage wird mit diesem Ansatz keineswegs relativiert; gerade die Verbindung von Persönlichkeits- und Kulturanalyse entgeht der falschen Konsequenz, die historische Verantwortung der Deutschen mit dem Hinweis auf verminderte Zurechnungsfähigkeit der Akteure zu schmälern. Warum dies so ist, werden wir im Schlußkapitel ausführlich darlegen.
Es handelt sich bei unserem Buch also nicht um eine Pathographie im klinischen Sinne. Psychiatrische Fachtermini verwenden wir deshalb auch nur insoweit, wie es nötig ist, um das Zusammenspiel individueller und kultureller Faktoren zu verdeutlichen, das wir im übergreifenden Konzept der »schizophrenen Struktur« ansprechen. Doch der Ursprung unserer Untersuchung geht auf ein psychiatrisches Anliegen zurück: die Verbesserung der Therapie schizophrener Psychosen (Matussek 1976). Mit der einseitigen Bevorzugung biochemischer Behandlungsformen, die wir derzeit beobachten, drohen die lebensweltlichen Aspekte seelischer Krankheiten aus dem Blick zu geraten. Das beeinträchtigt letztlich auch die medikamentöse Kur. So hat uns die Frage nach den psychohistorischen Faktoren der Schizophrenie dazu geführt, sie an einem besonders eminenten Fall zu untersuchen. Die Dynamik der Wahnkarriere Hitlers läßt das Ineinandergreifen individueller und gesellschaftlicher Wirkungsmechanismen besonders deutlich hervortreten.
Die psychiatrische Diagnostik, die im folgenden zur Anwendung kommt, beruht auf den analytischen Modellen und langjährigen klinischen Erfahrungen von Paul Matussek. Die Ausarbeitung der Studie im lebens- und kulturgeschichtlichen Kontext Hitlers übernahm Peter Matussek. Vorarbeiten für sozialhistorische Aspekte unseres Themas verdanken wir Jan Marbach. Bei der Literaturrecherche war Yvonne Kult eine unschätzbare Hilfe. Während der Durchführung des Projekts haben uns zudem viele Kollegen und Freunde, Zeitzeugen und Experten mit Ermutigung und konstruktiver Kritik zur Seite gestanden. Ihnen – insbesondere Jörg Bankmann, Hartmut Böhme, Bardia Khadjavi-Gontard und Klaus Köhle – gilt unser herzlicher Dank. Zu danken haben wir auch der Stiftung für analytische Psychiatrie, ohne deren Förderung dieses Projekt nicht hätte realisiert werden können. Vom Verlag schließlich erfuhren wir eine so nachhaltige und kompetente Unterstützung, wie man sie sich als Autor nur wünschen kann.